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CLAUDIA WEBER

KRIEG DER TÄTER

Die Massenerschießungen
von Katyń

Hamburger Edition

Vorsatzkarte: Peter Palm, Berlin
Zeichnung (hinten): Lageplan der Ausgrabungsstätte der Massengräber im Frühjahr 1943. Handzeichnung des ehemaligen Wehrmachtoffiziers Eugen Oberhäuser während seiner Aussage vor dem US-amerikanischen Untersuchungsausschuss am 24. April 1952.
(Quelle: NARA, Record Group 233; Center for Legislative Archives;
U.S. House of Representatives, Select Committee to Conduct an Investigation and Study of the Facts, Evidence, and Circumstances of the Katyn Forest Massacre (1951–1952), Box 9, Polder: Exhibits, Affidavits, Testimony, Printer’s page, Proofs.)

FÜR ELLA

»Vereinfacht gesagt ist es so,
dass alles, was wir als einen kausalen Zusammenhang verstehen,
vorerst nur ein zeitlicher Zusammenhang ist.
Wir sind überzeugt davon, dass wir etwas tun, weil dies und das.
Und doch tun wir es nachweislich einmal nur, während oder nachdem dies und das.«

Wolf Haas

Inhalt

Einleitung

Verträge und Verbrechen

Im Lager

Bevölkerungsaustausch und Vernichtungsaktionen

Spione, Feinde, Ballast

Der gescheiterte Austausch

Die Erschießungen

Die Suche nach den Kriegsgefangenen

Katyń. Ein Propagandakrieg um Kriegsverbrechen

Die deutsche Inszenierung. Eine Sensation, die keine war

Im Krieg um Kriegsverbrechen

Propaganda und »Entdeckungsgeschichten«

Propaganda und Inszenierung

Besucher. Die Internationale Ärztekommission

Reaktionen. Die Katyń-Berichte von Sir Owen O’Malley und John Van Vliet

Reaktionen. Die Polen im Generalgouvernement

Die sowjetische Inszenierung. Burdenkos Reise nach Orël

Das NKVD und die sowjetische Kriegsverbrechenpolitik

Der Auftrag. Burdenko und die Sonderkommission der ČGK

Besucher und Reaktionen. Kathleen Harriman in Smolensk

Katyń vor Gericht. Das Nürnberger Militärtribunal und Stalins Politik

Entsorgungsstrategien. Die sowjetische Katyń-Politik und die Londoner Viermächtekonferenz

Exkurs: Stalins Personal

Der Konflikt um die Anklageschrift

Pokrovskijs Fehler und Stahmers Gesuch

Die Zeugenanhörungen. Stalins Niederlage in Nürnberg

Getrennte Geschichte – Katyń im Kalten Krieg

Aktivisten und Antikommunisten

Epizentrum New York. »Kreuzfahrer des Kalten Krieges« und das Katyń-Komitee

Die Gunst der Stunde. Der Katyń-Untersuchungsausschuss

West-Östliche Verflechtungen und das Ende des »Täterkriegs«

Ausblick

Dank

Abkürzungsverzeichnis

Quellen- und Literaturverzeichnis

Archive
Publizierte Quellen und Literatur
Zeitungen/Zeitschriften
Internetquellen

Personenregister

Zur Autorin

Anmerkung zum Text

Die Wahl des Systems zur Übertragung der kyrillischen Schrift in die lateinische Variante ist für Autoren, Lektoren und Übersetzer oftmals gleichermaßen leidig. Im Sinne der Eindeutigkeit habe ich mich für die durchgehende Anwendung der deutschen wissenschaftlichen Transliteration entschieden. Abweichungen treten bei bedeutenden Personen der jüngeren Vergangenheit und bekannten Ortsnamen auf, so zum Beispiel bei Moskau oder Sotschi, Nikita S. Chruschtschow, Leonid I. Breschnew oder Michail S. Gorbatschow.

Claudia Weber, Dezember 2014

Einleitung

Im September 1939 begann der Zweite Weltkrieg mit dem Überfall der Sowjetunion und des »Dritten Reiches« auf Polen. Die politische Grundlage für das mörderische Bündnis der beiden Diktaturen war zuvor mit den blitzschnellen Verhandlungen zum Hitler-Stalin-Pakt geschaffen worden, der nicht nur Kommunisten in aller Welt aufschreckte. Der Pakt zwischen den erbitterten Kontrahenten mutete viele Zeitgenossen irreal und absurd an – anderen erschien er wie ein schlechter Witz. Rückblickend betrachtet war der Hitler-Stalin-Pakt konsequent. Zwei europäische Diktaturen mit imperialem Expansionsdrang teilten den Kontinent untereinander auf, um – wie im Falle Deutschlands – einen rassenideologischen und – wie im Falle der Sowjetunion – einen klassenideologischen Vernichtungsfeldzug zu führen. Nur wenige konnten die innere Logik des »Teufelpakts« (Sebastian Haffner) so präzise erkennen und zum Ausdruck bringen wie der britische Karikaturist David Low, in dessen berühmter Zeichnung aus dem Jahr 1939 sich Hitler und Stalin über der Leiche Polens die Hand reichend mit den Worten begrüßen: »Der Abschaum der Erde, wie ich vermute.« – »Der blutige Schlächter der Arbeiter, darf ich annehmen.«

Der deutsch-sowjetische Vernichtungsfeldzug dauerte fast zwei Jahre, bis zum Überfall Hitlers auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Er kostete Tausenden Menschen das Leben. Polen, Juden, Ukrainer, Kommunisten und Antikommunisten, Landbesitzer und Besitzlose, Intellektuelle und Arbeiter, Kinder und Frauen wurden verhaftet, vertrieben und getötet. Für die Opfer war es dabei meist unerheblich, ob sie starben, weil man sie zu »Klassenfeinden« oder zu »Rassenfeinden« erklärt hatte. Unter den Toten des Hitler-Stalin-Pakts befanden sich rund 22000 Soldaten und Reservisten der polnischen Armee, die in den ersten Tagen des sowjetischen Einmarsches von Einheiten der Roten Armee verhaftet worden waren und die Stalin im Frühjahr 1940 erschießen ließ. Nach der Auflösung der drei sowjetischen Sonderlager Kozel’sk, Starobel’sk und Ostaškov, in die die Gefangenen überführt worden waren, hatte sich ihre Spur zunächst verloren, bis drei Jahre später, im Frühjahr 1943, ein Teil von ihnen wieder auftauchte: verscharrt in Massengräbern in der Nähe des russischen Dorfes Katyń, unweit von Smolensk.

Die in den Massenerschießungen von Katyń hingerichteten polnischen Kriegsgefangenen – einige waren Juden – gehören bis heute zu den weltweit bekanntesten Opfern jener Zeit.1 In Polen begründete ihr Sterben einen nationalen Opfermythos und wird als eine kollektive Tragödie betrachtet, deren Schicksalshaftigkeit der Absturz der polnischen Präsidentenmaschine am 10. April 2010 bei Smolensk – die Insassen waren auf dem Weg zur Gedenkfeier des 70. Jahrestages der Erschießungen – auf beklemmende Art und Weise zu bestätigen schien. Katyń ist aber nicht nur in Polen, sondern in ganz Osteuropa und auch im Westen zu einem Symbol für die Gewalt des Stalinismus im 20. Jahrhundert geworden. Woher rührt diese Prominenz? Warum wurde ausgerechnet der Tod der polnischen Kriegsgefangenen zum Sinnbild für den Terror der ersten zwei Weltkriegsjahre, in denen es doch zahlreiche Vernichtungsaktionen und Massentötungen von deutscher und sowjetischer Seite gegeben hatte?

Die Frage nach den historischen Wurzeln für die Prominenz des Verbrechens stand am Anfang meiner Arbeit, die keine historische Symbolanalyse anbietet. Stattdessen werden historische Entwicklungen und Ereignisse untersucht – die nationalsozialistische und die stalinistische Propagandainszenierung, der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg und der US-amerikanische Untersuchungsausschuss zu Katyń, um die gestellte Frage beantworten zu können. Denn sie alle waren Zeugnisse eines »Täterkriegs«, der am 13. April 1943 mit der Meldung des deutschen Nachrichtenbüros DNB, der Presseagentur des »Dritten Reiches«, über einen »grauenvollen Fund« begann, der »einen ebenso erschütternden wie einwandfreien Aufschluss« gibt »über den Massenmord an mehr als 10000 Offizieren […] der ehemaligen polnischen Armee durch Untermenschen der GPU in den Monaten März bis Mai 1940«. »Der Wald von Katyń«, so die Meldung, »hat nunmehr sein furchtbares Geheimnis preisgegeben. Die einwandfrei bewiesenen und belegten Feststellungen klären endgültig die seit Langem in aller Welt erörterte Frage nach dem Schicksal und dem Verbleib der von den Bolschewisten internierten, verschleppten und dann grausam ermordeten Teile des ehemaligen polnischen Heeres.«2 Nach zwei Tagen des Schweigens – westliche Regierungen ignorierten die Nachricht offiziell – meldete sich das sowjetische Informationsbüro (Sovinformbjuro) zu Wort und wies sie als eine verleumderische Attacke der Goebbel’schen Gräuelpropaganda zurück. Moskau behauptete stattdessen, dass die polnischen Gefangenen zu Straßenarbeiten eingesetzt worden waren und nach dem Überfall Hitlers in die Hände der Deutschen gerieten, die sie schließlich töteten.3

Vom Moment der sowjetischen Gegendarstellung an waren zwei Versionen über die Massenerschießungen von Katyń – eine stalinistische und eine nationalsozialistische – in der Welt. Sie wurden mit allen der damaligen Propaganda zur Verfügung stehenden Mitteln verbreitet. Erstmalig in der Geschichte der Gräuelpropaganda des Zweiten Weltkriegs aber bezogen sowohl das »Dritte Reich« als auch die Sowjetunion den Schauplatz des Verbrechens und die Massengräber in ihre Kampagnen ein, um die Weltöffentlichkeit von der Glaubwürdigkeit der eigenen Version zu überzeugen. Im Frühjahr 1943 und im Januar 1944 war Katyń der Ort, an dem wahlweise der nationalsozialistische oder der stalinistische Terror besichtigt werden konnte, je nachdem, wessen Einladung die Besucher folgten oder zu folgen genötigt wurden. Die Ziele und politischen Interessen, die beide Seiten mit ihren Inszenierungen verfolgten, unterschieden sich kaum. Natürlich ging es in erster Linie darum, die eigene Geschichte durchzusetzen. Darüber hinaus waren Moskau und Berlin im Zweiten Weltkrieg gleichermaßen bestrebt, Sand in das Getriebe der Anti-Hitler-Koalition zu streuen, der die Sowjetunion bezeichnenderweise angehörte. Während Goebbels den westlichen Demokratien das beschämende Bündnis mit dem östlichen Tyrannen vorführte, um das »Dritte Reich« als letztes Bollwerk Europas vor der bolschewistischen Gewalt darzustellen, nutzte Stalin die Gelegenheit der Katyń-Affäre, um mit der polnischen Exilregierung in London einen unliebsamen politischen Konkurrenten auszuschalten und den Weg für die Umsetzung seiner Nachkriegspläne in Osteuropa zu ebnen. Am Ende des Zweiten Weltkriegs schien es zunächst, als habe Stalin neben den militärischen Schlachten auch diese Propagandaschlacht für sich gewinnen können.

Rückblickend betrachtet fiel der deutsch-sowjetische »Täterkrieg« weitaus weniger eindeutig aus und dies nicht nur, weil seit der Veröffentlichung des Politbürobeschlusses über die Erschießung der Gefangenen anhand sowjetischer Quellen belegt werden kann, dass die Polen dem Terror Stalins zum Opfer fielen. Die vom Sovinformbjuro verbreitete Version war eine Lüge, die vor allem jene aus den Reihen des NKVD inszenierten, die direkt an der Planung, Organisation und Durchführung der Exekutionen beteiligt gewesen waren.

Die Feststellung einer stalinistischen Lügengeschichte bedeutet indes nicht, dass es sich, wie im Buch gezeigt wird, bei der nationalsozialistischen Darstellung um die Wahrheit handelte. Täuschungsmanöver und frei erfundene Geschichten waren auch Bestandteile der nationalsozialistischen Katyńversion, hinter der verborgen blieb, wer die Massengräber entdeckt hatte, auf wessen Informationen sich die Recherchen der Wehrmacht stützten und in welchem Maße Terrorinstitutionen, wie die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD und das Reichssicherheitshauptamt (RSHA), an der Herstellung der deutschen Katyńmeldung beteiligt waren. Vor dem Hintergrund der hier beschriebenen Methoden und Ziele, der Verläufe und Akteure zweier Propagandainszenierungen verlor die Feststellung, dass die deutsche Version die wirklichen Täter genannt hatte, völlig an Bedeutung. Vielmehr erscheint die Frage interessant, warum überhaupt so lange über die Täter gestritten wurde und aus welchen Gründen das »Rechthaben« im Kalten Krieg derart wichtig wurde, dass der Streit darüber das historische Verständnis sowie den politischen und gesellschaftlichen Umgang mit dem Verbrechen bis in die 1990er Jahre entscheidend prägte.

Denn die »Sensation«, mit der Goebbels im April 1943 aufwartete, war keine, und »die«, wie es in der DNB-Meldung hieß, »seit Langem in aller Welt erörterte Frage« war seit Langem beantwortet. Weder der Gräberfund noch der Verweis auf die sowjetischen Täter überraschten jene, die Goebbels überraschen wollte. Westliche Politiker und die polnische Exilregierung, die sich in der Regierungserklärung vom 17. April 1943 »geschockt« zeigte, wussten seit Monaten, dass die vermissten Gefangenen nicht mehr lebten, wer die Schuld an ihrem Tod trug und wo zumindest ein Teil der Opfer begraben lag. Auf Druck der britischen Politik hatte die polnische Exilregierung entschieden, dieses Wissen nicht gegen Moskau zu verwenden, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen und diese Haltung auch öffentlich kundzutun. Zu diesem Zweck erschien am 30. Januar 1943 in der Londoner Exilzeitung Polska Walczaca. Zolnierz polski na obczyznie (Kämpfendes Polen – Wochenzeitung für die polnischen Truppen) ein Artikel eines Mitarbeiters des Informations- und Propagandaministeriums der Exilregierung, der angesichts der zahlreichen polnisch-sowjetischen Konflikte dafür plädierte, der Rettung und dem Schutz der noch in der Sowjetunion lebenden Polen Priorität einzuräumen: »Aus dem Munde mehrerer hochrangiger sowjetischer Offizieller war das schüchterne Geständnis zu vernehmen, dass mit unseren Gefangenen ein großer Fehler passiert sei. Ein großer Fehler, vielleicht genauso blutig wie groß? Jetzt wünschen wir, dass dieser Fehler sich nicht wiederholt, dass der sowjetische Staat ihn so weitgehend berichtigen wird wie möglich – indem der Rest vor der Vernichtung bewahrt bleibt.«4 Mehrere Wochen bevor Goebbels die »Sensation« lancierte, hatten die Alliierten und die polnische Exilregierung bereits beschlossen, den Tod der polnischen Kriegsgefangenen als »blutigen Fehler« Stalins hinzunehmen. Der vom »Dritten Reich« und Stalins Sowjetunion initiierte Propagandakrieg um die Täterfrage war von Beginn an ein großes Scheingefecht. Obwohl schon vor der DNB-Meldung am 13. April bekannt war, wer die polnischen Kriegsgefangenen getötet hatte, wurde dieses Scheingefecht über Jahrzehnte mit Verve ausgetragen, provozierte politische Konflikte und vernichtete zumindest in den Jahren der Stalinisierung Osteuropas weiterhin Menschenleben, Karrieren und Biografien. Dass die Reaktionen der polnischen Exilregierung und der westlichen Alliierten auf Goebbels’ »Sensation« mit der Räson des Kriegsbündnisses gegen Hitler zu begründen waren, ist von der Katyń-Forschung erschöpfend behandelt und bewertet worden. Das vorliegende Buch liefert eine historische Erklärung für die Longue durée des »Täterkriegs« und richtet den Blick darauf, wie diese Longue durée das historische Verständnis und den politischen Umgang mit den Massenerschießungen von Katyń beeinflusst hat. Bis zum Ende des Kalten Krieges, so die These, wurde die Geschichte Katyńs auf die Entweder-oder-Perspektive der Täterfrage verengt, auf eine Frage also, die längst beantwortet war.

Es mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, dass der Täterstreit nach Kriegsende weiterging, weil Stalin ihn auf dem Nürnberger Militärtribunal beenden wollte. Die Verurteilung als deutsches Kriegsverbrechen war das Ziel der sowjetischen Katyń-Politik, und nur zu diesem Zweck hatte die Sowjetunion die Aufnahme des Kriegsverbrechens in die Anklageschrift erstritten. In der historischen Forschung gilt die darauf folgende zweitägige Verhandlung, die ohne eine Verurteilung und somit ohne eine Entscheidung für die eine oder die andere Version endete, gemeinhin als Beleg für eine alliierte Politik, die der Sowjetunion auch nach Kriegsende half, die wahren Täter zu decken und die Verantwortung für den Massenmord dem »Dritten Reich« zu übertragen. Persönliche Aufzeichnungen von Richtern wie Francis Biddle und die Protokolle der Organisationstreffen des Tribunals, die im Buch erstmals ausgewertet werden, entwerfen ein komplexeres Bild von den Auseinandersetzungen unter den Mitgliedern des Tribunals. Sie zeigen, dass es gerade die westlichen Vertreter in Nürnberg waren, die dafür sorgten, dass Stalins Katyń-Politik scheiterte und das Verbrechen den Angeklagten nicht zur Last gelegt werden konnte. Eine Entscheidung für die eine oder die andere Version aber vermochte das Tribunal aus unterschiedlichen Gründen nicht zu fällen, wobei darüber spekuliert werden kann, ob sie den »Täterkrieg« tatsächlich beendet oder nicht zusätzlich befördert hätte.

Der Kalte Krieg bot den Nährboden für die Fortexistenz der Kontroversen, Propagandaklischees, wechselseitigen Schuldzuschreibungen und der Entweder-oder-Frage, deren Beantwortung in den ideologischen Lagerkämpfen jener Jahre als politische Positionierung gedeutet wurde und – dies machte die Sache nicht einfacher – oft auch mit einer Positionierung verbunden war. Während die politische Linke – vielfach mit gehörigem Unbehagen – die sowjetische Version verteidigte, nutzte die politische Rechte den Fall, um den verbrecherischen Charakter des NS-Regimes und das Ausmaß des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges zu relativieren. Beiden Seiten mochte dabei nicht immer bewusst gewesen sein, in welchem Ausmaß sie den stalinistischen und nationalsozialistischen Propagandisten folgten und deren »Erfindungen« tatsächlich aufsaßen. Ideologisierte Geschichtsdeutungen garantierten das Überleben des Stalin’schen Kollaborationsvorwurfs in der Unterstellung, mit Katyń die Verbrechen des NS-Regimes zu relativieren. Gleichermaßen sorgten sie für die Fortexistenz des von Goebbels lancierten Bildes vom »Dritten Reich« als europäischem Bollwerk und Aufklärer des bolschewistischen Terrors. Inmitten der zählebigen Geschichtsscharmützel des Kalten Krieges mied die westliche Politik das Thema, wann immer es möglich war. Die einzige Ausnahme bildete ein US-amerikanischer Untersuchungsausschuss, der vom Repräsentantenhaus des Kongresses im Dezember 1951 gebilligt wurde und der, »ohne einen berechtigten Zweifel« zu haben, zu dem Schluss kam, dass es sich um ein sowjetisches Kriegsverbrechen handelte. Die Feststellung des nach seinem Vorsitzenden benannten Madden-Ausschusses blieb ohne politische und juristische Folgen, war doch der Ausschuss wenig mehr als das Produkt der hysterischen antisowjetischen Propaganda in der McCarthy-Ära und zu Zeiten des Koreakrieges. Nach dessen Ende ebbte das politische Interesse an einer Aufarbeitung merklich ab, bis schließlich Gorbatschows Glasnost die »dunklen Flecken« der Vergangenheit ans Tageslicht brachte. In Osteuropa endete damit die Tabuisierung Katyńs, die stets gegenteilige Effekte erzielt hatte. Anstatt das Verbrechen aus dem historischen Gedächtnis der polnischen und aller anderen Bevölkerungen Osteuropas zu tilgen, beförderte der sowjetische Umgang den Aufstieg Katyńs zum Symbol für die Gewalt Stalins und den Widerstand gegen die sowjetischen Besatzer.

Das sowjetische Eingeständnis der 1990er Jahre schien das Bedürfnis nach historischer Eindeutigkeit zu befriedigen. Nach Jahrzehnten der Darstellungen und Gegendarstellungen endete der »Täterkrieg«, diesmal mit der »Niederlage« der Sowjetunion. Danach rekonstruierten Historiker, Journalisten und Publizisten den Verlauf der Erschießungen vom Beschluss des Politbüros bis hin zum minutiösen Ablauf der monatelangen nächtlichen Tötungsaktionen.5 Eine nicht intendierte Folge dieser historischen Aufarbeitung aber war der ohnehin zeitgenössisch populäre Eindruck, die Geschichte sei an ihr Ende gekommen. Warum über Katyń schreiben? Die Täterfrage ist doch geklärt und die Geschichte bekannt! Die Rede von der Erschöpfung der Geschichte ist nicht mehr als die Rede von der Erschöpfung eines historischen Blicks. Und so ist dieses Buch entstanden, gerade weil dem Ende der Entweder-oder-Konstellation die Chance auf einen historischen Perspektivwechsel innewohnt, der neue Fragen generiert und die wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf eine komplexe Verflechtungsgeschichte richtet, die im Kalten Krieg ausgeblendet war.

In einem seiner letzten Interviews hat der Historiker Reinhart Koselleck die Aufgabe der historischen Wissenschaft folgendermaßen umrissen. »Zunächst einmal«, empfahl Koselleck, sollten Historiker stets davon ausgehen, »dass immer alles anders war als gesagt. Die zweite Regel ist, dass immer alles anders ist als gedacht. Und wenn man diese Regeln kennt, dann hat man was gelernt. Dann muss man nämlich fragen, wie es dahinter eigentlich aussieht, wenn es anders ist als gesagt und anders als gedacht.«6 Kosellecks Aufforderung, die Geschichte hinter der Geschichte zu entdecken, erinnert an den Grundsatz historiografischen Arbeitens, Glaubenssätze infrage zu stellen sowie methodische Innovationen zu riskieren, die nicht notwendigerweise in einen Kuhn’schen Paradigmenwechsel münden müssen, gleichwohl aber Sichtachsen verschieben und in heuristischer Absicht interpretatorische Perspektiven eröffnen.7 Wenn in diesem Buch behauptet wird, dass der »Täterkrieg« den historisch-analytischen Blick auf die Geschichte Katyńs verengte, dann ist damit die Tatsache gemeint, dass die Massenerschießungen in jenen Jahren stattgefunden hatten, in denen das »Dritte Reich« und Stalins Sowjetunion nicht als ideologische Feinde, sondern als politische Freunde agierten. Vom Moment des deutschen Einmarsches in die Sowjetunion an waren beide Diktaturen bestrebt, den Hitler-Stalin-Pakt als taktisches Zweckbündnis (was er zu Teilen auch war) und die deutsch-sowjetische Besatzungsgeschichte hinter der erbitterten Kriegsgegnerschaft zu verstecken. Katyń aber war ein Verbrechen, das, wie bekannt, nicht nur zu Zeiten des Paktes stattfand, sondern das, wie ich argumentiere, ohne ihn nicht zu diesem Zeitpunkt und womöglich gar nicht geschehen wäre. Die Interaktionen und Beziehungen der im Pakt, seinen Zusatzprotokollen und Folgeverträgen konturierten Besatzungspolitik bedingten die Entscheidung des Politbüros zur Ermordung der Kriegsgefangenen. Sie erklären Berijas Entschluss, Stalin diesen Vorschlag überhaupt zu unterbreiten und nicht, wie es ebenfalls möglich gewesen wäre und in einigen Fällen auch geschah, die Kriegsgefangenen in Arbeitslager zu deportieren. Der Zeitpunkt der Entscheidung für die Massenerschießungen war, so die These, an die situative Dynamik der deutsch-sowjetischen Besatzungsgeschichte gebunden.

In der zur Beziehungsgeschichte zwischen Russland, der Sowjetunion und Deutschland reichen Historiografie ist die Behandlung der gemeinsamen Besatzungspolitik in den ersten beiden Weltkriegsjahren zu großen Teilen eine Leerstelle geblieben.8 So erschienen zwar Untersuchungen zur Vor- und Wirkungsgeschichte des Hitler-Stalin-Paktes, die ihn jedoch vorrangig unter politik- und diplomatiegeschichtlichen Aspekten behandelten oder nach den Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Moskau und der internationalen kommunistischen Bewegung fragten.9 Die Gewalt und der Terror in Polen dagegen wurden weitgehend getrennt betrachtet. Erst in jüngerer Zeit sind die wechselseitigen Bezüge und Verflechtungen zwischen der nationalsozialistischen und der stalinistischen Besatzungsherrschaft ein geschichtswissenschaftlicher Forschungsgegenstand geworden, insbesondere seit der viel diskutierten Arbeit Timothy Snyders zu den osteuropäischen Bloodlands.10 Das Verdienst Snyders bestand zweifelsohne darin, den analytischen Blick für jene Räume Osteuropas zu öffnen, in denen Terror der zwei Diktaturen oftmals gleichzeitig mit einem Furor wüteten, der nachträgliche Hierarchisierungen aus Sicht der Opfer zynisch erscheinen lassen musste. Das im Buch aufscheinende Versprechen, die historischen Interaktionen, die politischen Wechselbeziehungen und die gegenseitigen Anteile an der Gewalt im Miteinander der Regime aufzuzeigen, löst Snyder in der Darstellung des Nebeneinanders nicht ein. Sich diesem Miteinander zu nähern, ist das Anliegen dieser Studie, denn es lässt verstehen, warum die polnischen Gefangenen im Frühjahr 1940 starben.

Die Untersuchung der Wechselwirkungen und der Dynamik der deutsch-sowjetischen Besatzungspolitik zeigt, dass drei Entwicklungen – die des deutsch-sowjetischen Bevölkerungs- und Umsiedlungsvertrags, die der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik im Generalgouvernement und die der sowjetischen Kriegsgefangenenpolitik – zusammenliefen und in Berijas Vorschlag mündeten, das »Problem« der kriegsgefangenen Polen mittels Massenerschießungen »zu lösen«. Von der Aufnahme und Versorgung Hunderttausender Kriegsgefangener bereits im September 1939 heillos überfordert, hatten die Rote Armee und das NKVD frühzeitig nach Auswegen gesucht. Dazu gehörten die Entlassung der aus den westukrainischen und westweißrussischen Gebieten stammenden Gefangenen ebenso wie Deportationen in Arbeitslager der sowjetischen Bergbauindustrie und in die Straflager des Gulag. Eine weitere, der Katyń-Forschung nicht unbekannte, bisher von ihr aber unterschätzte Option war die Übergabe der hochrangigen Gefangenen an die deutschen Besatzungsbehörden. Verhandlungen, die beide Seiten in diesem Sinne im Februar 1940 aufnahmen, endeten nach kurzer Zeit abrupt mit dem von den Deutschen vorgebrachten Hinweis, dass mit dem Auslaufen des Umsiedlungsvertrages am 1. März keine rechtliche Grundlage mehr für die Übernahme polnischer Kriegsgefangener, die aus dem deutschen Besatzungsgebiet stammten, bestehe. Dass es sich bei dieser Begründung um einen bequemen Vorwand handelte, liegt nahe. Hinter ihm verbarg sich die Abneigung der deutschen Sicherheitsbehörden, Tausende Offiziere und Generäle in einer Phase aufzunehmen, in der die Vorbereitungen, mit der polnischen Elite und, wie Generalgouverneur Hans Frank erklärte, »sonst verdächtiger Individuen in beschleunigtem Tempo Schluss zu machen«, konkrete Formen annahmen.11 Das »Dritte Reich« hatte schlicht kein Interesse an noch mehr potenziellen »Widerständlern«, die in der Begründungslogik der geplanten AB-Aktion ebenfalls »zu säubern« gewesen wären und die zudem den problematischen Kriegsgefangenenstatus besaßen. »Liquidiert sie selbst« war der Subtext der Ablehnung eines erneuten Gefangenenaustausches. Dabei hatten die deutschen Behörden mit dem Vorbehalt, sich mit den Kriegsgefangenen potenzielle Widerständler ins Land zu holen, während bestehende »Widerstandsnester« gerade ausgelöscht wurden, nicht einmal unrecht. Tatsächlich hatten die Polen in den sowjetischen Sonderlagern demonstriert, dass sie sich weder den sowjetischen Umerziehungsversuchen beugen noch ihren Freiheitsverlust und die Repressionen des NKVD-Personals hinnehmen würden. Sie waren renitent, aufsässig, widersetzten sich den Lagerordnungen mit List und Witz, führten das Verhörpersonal mit ihrer Weltläufigkeit und klassisch bürgerlichen Bildung vor und organisierten Freiräume für die Feier nationaler und religiöser Feste. Die polnischen Kriegsgefangenen präsentierten sich dem NKVD tagtäglich als jene »Klassenfeinde«, deren Vernichtung Stalin den Vorwand geliefert hatte, am 17. September in Polen einzumarschieren. Sie bestätigten sämtliche ideologische Feindstereotype und Propagandabilder, mit denen Berija seinen Vorschlag begründete und mithilfe derer er die Überlastung und das Versagen seines Apparates vor Stalin und dem Politbüro kaschierte. Berija wählte die Option der Massenerschießungen, so das Argument, erst nachdem die Möglichkeit der Auslieferung der Gefangenen in das deutsche Besatzungsgebiet gescheitert war. In der Folge der Propagandakampagnen des Zweiten Weltkriegs und im »Täterkrieg« der folgenden Jahrzehnte aber konnte diese Option nicht mehr gedacht werden. Stattdessen dominierten die Gegnerschaft und die Verbrechen und Schlachten der Jahre 1941–1945 die Weltkriegserinnerung im Kalten Krieg. In diesem Sinne profitierten das »Dritte Reich«, vor allem aber Stalins Sowjetunion von den Inszenierungen eines »Täterkriegs«, der die ideologischen Feindschaften manifestierte, um das politische Bündnis vergessen zu machen.

Bücher sind Antworten auf Gegenwartsfragen.12 Die Fragen, die in diesem Buch gestellt werden und deren Beantwortung auf den folgenden Seiten unternommen wird, entstanden in einer Gegenwart, die mit den Auswirkungen dessen konfrontiert ist, was landläufig einerseits als Ende des Kalten Krieges und andererseits als Globalisierung der heutigen Welt bezeichnet wird. Letztere gibt zu verstehen, dass »alles irgendwie miteinander zusammenhängt«, während das Ende des Kalten Krieges in der Inkubationszeit der letzten zwanzig Jahre vornehmlich als Ende Osteuropas gedacht worden ist. Allmählich wird gewahr, dass damit auch das Ende Westeuropas, so wie es sich seit 1945 dargestellt hat, gemeint ist. Die »Abwicklung des alten Zustandes« (Karl Schlögel) hat nicht nur tiefgreifende politische, soziale und ökonomische Konsequenzen, die in den zeitgenössischen Krisen zu besichtigen sind. Positiv gewendet, bedeutet diese »Abwicklung« für die Geschichtswissenschaft eine Zeit, die neue Fragehorizonte und den Panikraum öffnet, der nicht nur östlich des Eisernen Vorhangs historische Interpretationen einschloss. Aus ihm entlassen, erscheint die Geschichte wieder ungebändigt, die Koordinatensysteme der Vergangenheitsdeutungen sind verschoben. Warum also über Katyń schreiben? Weil Gegenwart Geschichte verändert.

1 Der Begriff der Massenerschießungen von Katyń ist ein Sammelbegriff für mindestens drei Erschießungsaktionen an mindestens drei verschiedenen Orten. Die nach wie vor geläufige Bezeichnung Massaker von Katyń war ein Produkt der nationalsozialistischen Gräuelpropaganda und wird hier durch den der Massenerschießungen ersetzt, der den Ablauf und den Charakter der Exekutionen präziser beschreibt.

2 Archiv der BStU, MfS-HA IX/11, RHE 13/88 DDR, Bd. 4, Blatt 147, 148, Pressemitteilung des Deutschen Nachrichtenbüros vom 13. April 1943. Im Tagebuch von Joseph Goebbels, in den internen Dokumenten des RMVP und in der Propaganda wird stets von einer Tat der sowjetischen GPU berichtet. Zum Zeitpunkt der Erschießungen war die Geheimpolizei GPU bereits dem Volkskommissariat des Innern, dem NKVD, angegliedert worden.

3 Cienciala/Lebedeva/Materski, Katyń. Plenniki, S. 306f.

4 NARA, RG 59, General Records of the Department of State. Records relating to Poland 1941–1952, Box 1, Facts and Documents, S. 225. Originaltext in: Polska Walczaca. Zolnierz polski na obczyznie, 5 (1943) 4 vom 30. Januar 1943, S. 4. Der Hinweis auf den Artikel fehlt in der gedruckten Ausgabe von »Facts and Documents«.

5 Aufgrund der ungeheuren Vielfalt an Publikationen über die Massenerschießungen von Katyń wird hier lediglich auf zentrale Quelleneditionen hingewiesen. Inhalte und Thesen der neueren Katyń-Literatur werden in den einzelnen Kapiteln diskutiert. Wosik/Materski (Hg.), Dokumenty ludobojstwa; die englische Ausgabe erschien ein Jahr später von Wojciech Materski herausgegeben unter dem Titel: Katyń. Documents of Genocide. Von den Akademien der Wissenschaften Russlands und Polens wurden zwischen 1995 und 2006 mehrere Dokumentenbände in russischer und in polnischer Sprache herausgegeben. In russischer Sprache erschienen: Cienciala/Lebedeva/Materski u.a. (Hg.), Katyń: Plenniki Neobiavlennoi Voiny, und diess., Katyń: Mart 1940.–Sentiabr 2000g.: Dokumenty. Auf Polnisch erschienen: Cienciala/Lebedeva/Materski u.a. (Hg.), Katyń: Dokumenty Zbrodni, vier Bände, Band 1: Jency Nie Wypowiedzianej Wojny, Band 2: Zaglada Marzec Czerwiec 1940, Band 3: Losy Ocalalych, Lipiec 1940–Marzec 1943, Band 4: Echa Katyńa, Kwiecien 1943–Marzec 2005. Eine Auswahl aus den Dokumentenbänden erschien in englischer Sprache im Jahr 2007 bei Yale University Press: Cienciala/Lebedeva/Materski, Katyń. A Crime without Punishment. In der vorliegenden Arbeit wird bei Übereinstimmung der Quellen sowohl auf die russischen Dokumentenbände wie auch auf die englische Ausgabe verwiesen, z.B. Cienciala/Lebedeva/Materski, Katyń, für die englische Auswahl und/oder diess., Katyń. Plenniki, für den russischsprachigen Band.

6 Über Krisenerfahrungen und Kritik. Ein bislang unveröffentlichtes Gespräch aus dem Nachlass von Reinhart Koselleck, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. Januar 2010, S. N4.

7 Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions.

8 Siehe exemplarisch: Koenen, Der Russland-Komplex; Schlögel (Hg.), Russian-German Special Relations in the 20th Century; Laqueur, Russia and Germany.

9 Allgemein zur Historiografie des Hitler-Stalin-Paktes: Müller/Troebst, Der Hitler-Stalin-Pakt 1939 in der europäischen Geschichte und Erinnerung. Viele der älteren Studien thematisierten die Frage des sogenannten geheimen Zusatzprotokolls, dessen Existenz die Sowjetunion bis in die 1990er Jahre ebenfalls leugnete. Zur Rezeptionsgeschichte des Protokolls: Lipinsky, Das geheime Zu satzprotokoll. Einschlägiges Beispiel für diplomatiegeschichtliche Darstellung ist: Fleischhauer, Der Pakt. Zur Kommunismus-Geschichte: Bayerlein, »Der Verräter, Stalin, bist Du!«. Zur Memoirenliteratur einschlägig: Hilger, Wir und der Kreml; Haffner, Der Teufelspakt, der die Entstehung des Paktes unter dem Aspekt des nationalsozialistischen Lebensraumkonzepts und der Persönlichkeiten und Ziele Hitlers und Stalins beschreibt. Neue kulturgeschichtliche Ansätze in der Diplomatiegeschichte: Schattenberg, Diplomatie der Diktatoren.

10 Snyder, Bloodlands. Für die sowjetische Besatzungspolitik waren vor allem die Arbeiten von Jan T. Gross maßgeblich: Gross, Und wehe, du hoffst …; ders., Revolution from Abroad. Zur deutschen Besatzungspolitik: Madajczyk, Die Okkupationspolitik Nazideutschlands in Polen; Borodziej, Terror und Politik. Zu den neueren Arbeiten, die den Zusammenhang zwischen der deutschen und der sowjetischen Vernichtungspolitik stärker hervorheben, gehört der von dem Poznaner Historiker Jacek Andrzej Mlynarski herausgegebene Sammelband: Mlynarski (Hg.), Polen unter deutscher und sowjetischer Besatzung 1939–1945; Beyrau, Schlachtfeld der Diktatoren; Musial, »Konterrevolutionäre Elemente sind zu erschießen«. Musial konzentriert sich freilich auf die ersten Monate nach dem Überfall auf die Sowjetunion. Zur deutsch-sowjetischen Umsiedlungs- und Raumpolitik siehe: Jureit, Das Ordnen von Räumen. Obschon nicht auf die Besatzungspolitik in Polen gerichtet, Snyders Studie im empirischen Gehalt aber übertreffend: Penter, Kohle für Stalin und Hitler.

11 So zitiert bei: Schenk, Frank. Hitlers Kronjurist und Generalgouverneur, S. 189, Diensttagebuch Hans Frank, Eintrag vom 30. 5. 1940.

12 Baberowski, Die Entdeckung des Unbekannten, S. 11.

Verträge und Verbrechen

Im Frühjahr 1940 wartete Maria Czapska auf dem Warschauer Ostbahnhof, auf dem seit dem 19. Jahrhundert die Züge aus dem Russischen Imperium und der Sowjetunion eintrafen. Tage und Nächte wartete Czapska, die einer alten polnisch-österreichischen Adelsfamilie entstammte, auf ihren Bruder Józef, einen bekannten Kunstmaler, der in den ersten chaotischen Wochen des Zweiten Weltkriegs in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten war. Nach sieben bangen Monaten, in denen die Familie lediglich in Erfahrung brachte, dass Józef in einem Lager interniert war, hoffte Maria nun auf seine Rückkehr, für die es berechtigte Anzeichen gab. Obwohl die sowjetischen Behörden jede Auskunft verweigerten, hatte Czapska gehört, »dass die Gefangenen […] auf dem Heimweg waren« und dass diese Information »offiziell vom Deutschen Roten Kreuz an das Polnische Rote Kreuz« weitergegeben worden war. »Wir hatten«, so Czapska, »den Eindruck, dass uns die Deutschen informierten, damit wir […] Lebensmittel organisierten und Sammelpunkte für die Ankommenden einrichteten.« 1 Alles musste schnell gehen, schien doch die Ankunft der Gefangenen unmittelbar bevorzustehen. Warschauer Vertreter des Polnischen Roten Kreuzes stellten Wachen und Empfangskomitees auf dem Bahnhof bereit, Feldküchen dampften mit heißer Suppe und Rot-Kreuz-Helferinnen stapelten Pakete mit Kleidung und Medikamenten auf den Gleisen. »Mutter, Ehefrauen und Schwestern«, erinnerte sich Maria Czapska, »belagerten den Bahnhof regelrecht und bedrängten die Deutschen mit Fragen, die nur stoisch beantwortet wurden: ›Sie sind unterwegs, die Transporte wurden uns angekündigt. Mehr können wir nicht sagen. Wir haben keinen Einfluss auf die Ankunftszeiten.‹ Kalte Tage und frostige Nächte vergingen. Angst kam auf. Was konnte passiert sein? Starben die Gefangenen gerade auf irgendeinem Abstellgleis hungernd in eisigen Güterwaggons? […] Ostern ging vorüber. Dann noch eine Woche. Die Gerüchte verstummten. Niemand traf ein und schlimmer noch stoppten abrupt alle Nachrichten über Gefangene in Russland. Die vom ewigen Warten müden Frauen begannen die Deutschen zu beschimpften, die ihnen sichtbar irritiert entgegneten, selbst keine Informationen zu besitzen und für die Ankunft der Gefangenen nicht verantwortlich zu sein. Der Ton der Antworten gab zu verstehen, dass die Deutschen entnervt bereuten, die Nachricht über die Rückkehr der Gefangenen verbreitet zu haben, die sich als falsch herausgestellt hatte, und dass sie sich irgendwie verantwortlich für die wachsende Unruhe fühlten, so als ob sie sich für die Belange der Familienangehörigen eingesetzt hatten und nun die Kontrolle verloren.«2

Die Züge aus den sowjetischen Lagern, in denen neben Józef Czapski Tausende polnische Kriegsgefangene inhaftiert waren, kamen nie in Warschau an. Verstört bauten die Frauen die Feldküchen wieder ab, verteilten die Lebensmittel und verstauten die unbenutzten Empfangspakete. Eine Erklärung für das Ausbleiben der Züge konnten oder wollten ihnen die deutschen Behörden, die seit Monaten mit den sowjetischen Verbündeten große Menschengruppen zwischen den Besatzungsgebieten hin und her verschoben, nicht liefern. Dass Frauen, Männer und Kinder, die in den frühen Kriegswirren in die Sowjetunion verschleppt worden waren, allmählich zurückkehrten, war prinzipiell nicht ungewöhnlich. Seit Deutschland am 1. September 1939 in Polen einmarschiert war und die Rote Armee gut zwei Wochen später am 17. September von Osten aus folgte, gehörte der Austausch der Zivilbevölkerung und bald auch der von Kriegsgefangenen zur gängigen Praxis der deutsch-sowjetischen Besatzungspolitik. Die Vernichtung des polnischen Staates hatten der deutsche Außenminister Joachim von Ribbentrop und der sowjetische Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten Vjatčeslav M. Molotov am 23. August 1939 in Moskau mit der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes vereinbart. Die Grenze »zwischen den beiderseitigen Reichsinteressen«, die »den bisherigen polnischen Staat« in zwei Hälften teilte, regelte der deutschsowjetische Grenz- und Freundschaftsvertrag, den Ribbentrop und Molotov am 28. September ebenfalls in Moskau unterzeichneten und der zur Grundlage für den Bevölkerungsaustausch wurde.3 Der im Unterschied zum berüchtigten Hitler-Stalin-Pakt weniger bekannte Grenz- und Freundschaftsvertrag setzte die ethnische und soziale Homogenisierung der beiden Besatzungsgebiete auf der Grundlage der nationalsozialistisch-rassischen und bolschewistisch-klassenideologischen Bevölkerungspolitik in Kraft. Obgleich im Vertragswerk, das sich lediglich auf die Zivilbevölkerung bezog, nicht vorgesehen, wurden die in zwei geheimen Zusatzprotokollen und einem vertraulichen Protokoll festgelegten Regeln in der Praxis rasch auf den Austausch von Kriegsgefangenen ausgedehnt. In einem Zeitraum von sechs bis acht Wochen, von Ende Oktober bis Mitte Dezember, wechselten über 56100 Kriegsgefangene die Seiten: etwa 42400 aus dem sowjetischen in das deutsche Besatzungsgebiet, 13700 in umgekehrter Richtung.4

Im vertraulichen Protokoll zum Grenz- und Freundschaftsvertrag hatten Moskau und Berlin vereinbart, dass »Reichsangehörige und andere Persönlichkeiten deutscher Abstammung, […] sofern sie den Wunsch haben«, aus dem sowjetischen Besatzungsgebiet nach »Deutschland oder in die deutschen Interessengebiete« umsiedeln können.5 Beauftragte der Reichsregierung sollten die Umsiedlung, die sich der rassenideologischen Logik zufolge auf »Volksdeutsche« aus Bessarabien, aus der Bukowina und dem Baltikum bezog, gemeinsam mit den zuständigen sowjetischen Behörden koordinieren. Im Gegenzug verpflichtete sich die deutsche Seite, die freie Übersiedlung der in »ihren Interessengebieten ansässigen Personen ukrainischer oder weißrussischer Abstammung« in das sowjetische Besatzungsgebiet zu garantieren.6 An der Rückführung der Ukrainer und Weißrussen war Moskau aus mehreren Gründen interessiert. Zuallererst war die Existenz einer derartig großen und latent sowjetfeindlichen Bevölkerungsgruppe außerhalb des eigenen Machtbereiches schlichtweg inakzeptabel. Offiziell »benötigte« Moskau die Ukrainer und Weißrussen außerdem für die ethnische Neustrukturierung der polnischen Ostgebiete, in denen beide Volksgruppen seit jeher einen großen Bevölkerungsanteil gestellt hatten, der nun nach der Säuberung der polnischen Oberschicht an die Spitze der ethnisch-sozialen Hierarchie aufrückte.7 Während die Polen verhaftet und deportiert wurden, sollte ihr Platz von den »unterdrückten Blutsbrüdern« eingenommen werden, denen die Sowjetunion im Herbst 1939 angeblich »zur Hilfe« geeilt war, um sie vom Joch der »polskie pane« – der »polnischen Herren« – zu befreien.8 »Die Sowjetregierung«, hieß es in der von Molotov unterzeichneten Note, die den Einmarsch der Roten Armee rechtfertigte, »darf […] keine Gleichgültigkeit zeigen in der Zeit, wenn die Blutsbrüder [sic], Ukrainer und Weißrussen, die sich in Polen niedergelassen haben, dem Schicksal überlassen werden und ohne Hilfe bleiben.«9 Auch wenn viele Ukrainer und Weißrussen Moskaus Intervention begrüßten, flohen bald ebenso viele vor der Realität einer Sowjetisierungspolitik, die keinen Zweifel daran ließ, dass es Stalin allein um die vollständige staatliche, politische und gesellschaftliche Eingliederung der neuen Gebiete ging.10 Am 1. und 2. November 1939 dekretierte der Oberste Sowjet der UdSSR die Aufnahme der sogenannten Westukraine und Westweißrusslands in die Sowjetunion. Zwei Tage zuvor hatte das Dekret »Über den Erwerb der Staatsbürgerschaft der UdSSR durch die Bewohner der westlichen Bezirke der ukrainischen und weißrussischen Sowjetrepubliken« klargestellt, dass Stalin weder an Ukrainern noch an Weißrussen, sondern nur an Untertanen seines Imperiums interessiert war.

Die brutale und kompromisslose Sowjetisierung im Herbst 1939 stieß sowohl bei national-patriotischen Ukrainern als auch bei der unpolitischen Zivilbevölkerung auf Widerstand. Im Unterschied zu den Polen, die nach den Säuberungen stark dezimiert in der sowjetischen Besatzungszone keinen wirkungsvollen Widerstand aufbauen konnten, widersetzten sich ukrainische Partisanen- und Untergrundbewegungen von 1939 bis 1941 und nach Kriegsende hartnäckig der Moskauer Machtübernahme. In der ersten Kriegsphase konnten sie dabei auf die materielle und personelle Unterstützung jener nationalistischen und antibolschewistischen Organisationen zählen, die sich im deutschen Besatzungsgebiet reorganisierten oder erst gründeten. Radikal antibolschewistische und profaschistische Verbände wie Stepan Banderas »Organisation der Ukrainischen Nationalisten« (OUN-B) wurden von den Deutschen in der politischen Agitation und paramilitärischen Ausbildung nicht nur geduldet, sondern aktiv unterstützt.11 In Krakau, der »Hauptstadt« des Generalgouvernements, die bald das Zentrum des antisowjetischen Widerstands bildete, lebten zeitweilig über 30000 Ukrainer, die »Musterschüler der Besatzungsmacht«, die vor der Roten Armee geflohen waren oder aus dem westlichen Exil in die Stadt strömten.12 Hier besiegelte im Februar 1940 der zweite Generalkongress der OUN die Abspaltung der Bandera-Fraktion, die sich fortan als einzig legitime Nachfolgerin der 1929 gegründeten OUN präsentierte. Hier wurden auch ihre terroristischen Mitglieder an der eigens zu diesem Zweck gegründeten Militärakademie »Jevhen Konovalec« ausgebildet, bevor sie im Juni 1941 zusammen mit der Wehrmacht in die Sowjetunion einmarschierten.13

Der Aufbau eines von den Deutschen unterstützten antisowjetischen ukrainischen Widerstandes im Generalgouvernement und damit außerhalb des eigenen Machtbereiches blieb der sowjetischen Regierung weder verborgen, noch konnte sie ihn dulden. Da die Zusammenarbeit zwischen den Deutschen und den Ukrainern jedoch nicht zu verhindern war, nutzte Moskau den im Grenz- und Freundschaftsvertrag vereinbarten Bevölkerungsaustausch, um die Ukrainer aus dem Generalgouvernement zu holen und dem dort subventionierten Widerstand zumindest das Personal zu entziehen. Obgleich die Rückführung von Zehntausenden Ukrainern zum Bumerang zu werden drohte und tatsächlich mit der Gefahr verbunden war, den Widerstand innerhalb der Sowjetunion zu stärken, überwog das Interesse an der Rückführung einerseits, um die militärische Ausbildung und Organisation der potenziellen »Volksfeinde« zu verhindern und um andererseits jene herauszufischen, die so lange zur Zusammenarbeit mit den sowjetischen Behörden bereit waren, bis die Eingliederung der neuen Gebiete abgeschlossen war. Erst im Mai 1941 begann das Sowjetregime mit systematischen Repressionsmaßnahmen gegen die ukrainische Bevölkerung, infolge derer über 61000 Personen deportiert wurden.14

Die Verhandlungen über die Details des Bevölkerungsaustausches sowie über dessen Erweiterung auf Kriegsgefangene begannen unmittelbar nach der Unterzeichnung des Grenz- und Freundschaftsvertrages am 28. September 1939. Sie gingen von der deutschen Seite aus. Am 11. Oktober unterbreitete das Oberkommando der Wehrmacht über die Vierte Armee der verbündeten Roten Armee den Vorschlag, die Regelungen auf die Kriegsgefangenenfrage zu übertragen. Mit dem Verweis auf das vertrauliche Protokoll, in dem sich die Reichsregierung verpflichtet hatte, »der in ihren Interessengebieten ansässigen Personen ukrainischer oder weißrussischer Abstammung« die Übersiedlung zu gestatten, bot das OKW die Rückführung von 20000 Weißrussen und Ukrainern an, die in der polnischen Armee gedient hatten, aus dem nunmehr sowjetischen Besatzungsgebiet stammten und in den ersten Kriegswochen von den Deutschen gefangen genommen worden waren.15 Im Gegenzug verlangte das OKW die Überstellung der in sowjetischer Kriegsgefangenschaft befindlichen Volksdeutschen.16 Die sowjetische Regierung war nicht abgeneigt. Zwei Tage nach dem Angebot des OKW befürwortete das Politbüro den Vorschlag von NKVD-Chef Lavrentij P. Berija, mit den Deutschen in Verhandlung einzutreten. Berija kalkulierte die Übergabe von etwa 33000 Gefangenen; eine Zahl, die die der internierten Volksdeutschen zwar bei Weitem übertraf, aber ein gewisses Gleichgewicht zu der von den Deutschen vorgeschlagenen Zahl von 20000 Ukrainern und Weißrussen herstellte.17 Berija war auf dieses Gleichgewicht bedacht und sah in dem Austausch zudem eine Möglichkeit, jene chaotische und desolate Versorgungssituation in den Lagern zu entspannen, von der ihm Pjotr K. Soprunenko,18 sein Protégé und Leiter der neuen NKVD-Verwaltung für Kriegsgefangene und Internierte (UPVI), berichtet hatte.

Obwohl die Angaben schwanken, kann davon ausgegangen werden, dass in den ersten Wochen des Zweiten Weltkriegs ungefähr 250000 polnische Kriegsgefangene in Sammellagern der Roten Armee zusammengefasst wurden.1920212223