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Fatima Kastner

Transitional Justice
in der Weltgesellschaft

Hamburger Edition

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung
Mittelweg 36
20148 Hamburg
www.hamburger-edition.de

Inhalt

Einleitung
Von der Ausnahme zur Regel
Zur globalen Diffusion von Transitional Justice

I. Transitional Justice im Königreich Marokko

Das Erbe der »bleiernen Jahre«

Staatszentrierte Deutungen: Heuchelei, Pragmatismus oder gar nachholende Demokratisierung?

Makrosoziologische Deutungen: Effekt einer expandierenden Weltkultur oder Folge funktionaler Differenzierung der Weltgesellschaft?

Eine konstruktivistisch-kognitive Deutung aus neoinstitutionalistischer Perspektive: Zur sinnhaft-diskursiven Macht rationalisierter Anderer

Eine konstruktivistisch-operative Deutung aus systemtheoretischer Perspektive: Zur sozialisierenden Kraft öffentlicher Vergleichskommunikationen

Reichweite und Grenzen makrosoziologischer Analysen

II. Globale Menschenrechtskultur Zur Universalisierung von Unrechtserfahrungen in der Weltgesellschaft

Vom Wandel normativer Orientierungen: Zur Genese der Idee universaler Menschenrechte

Die Gesellschaft und ihr Recht: Zur Erfindung des »Menschen der Menschenrechte«

Zur Erosion staatszentrierter Rechtsvorstellungen: Diskursive Vorläufer menschenrechtlichen Denkens im klassischen Völkerrecht

Weltschlüsselereignisse: Zum Aufstieg der Menschenrechte seit der Zäsur von 1945

Weltkulturrevolutionäre Ereignisse in der postkolonialen Ära: Zur Emergenz der Menschenrechte als universaler Code der Legalität

Zur globalen Diffusion der Menschenrechte: Normkonstrukteure, Standardsetzer und Verbreiter im Kontext des Legitimationssystems der Vereinten Nationen

Lokale Kontextualisierung globaler Normen: Zur weltweiten Einsetzungspraxis nationaler Menschenrechtsinstitutionen (NMRI)

III. Lex Transitus Zur globalen Diffusion vergangenheitspolitischer Normen, Standards und Institutionen in der Weltgesellschaft

Transkulturelle Vergangenheitsarbeitskultur: Vom Gebot, zu erinnern, und der Unabweisbarkeit des Verzeihens

Das Jahrhundert der Weltversöhnung? Zur Versöhnungspolitik der Vereinten Nationen

Die Ausdifferenzierung eines Neuen Rechts: Zum erweiterten Gerechtigkeitskonzept von Transitional Justice

Die Weltgesellschaft und ihr Recht: Pluralisierung, Fragmentierung und Hybridisierung

Im Zentrum des Rechts: Das Entscheidungsnetzwerk der Weltgerichte

An den Grenzen des Rechts: Systemunrecht

Lex Transitus: Zur Evolution eines globalen Rechtsregimes von Transitional Justice

Konstrukteure und Agenten vergangenheitspolitischer Normen, Standards und Institutionen

IV. Lethologie Zur Funktion von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen

Versöhnung durch Wahrheit: Die Kommissionen im Spiegel der Transitional-Justice-Forschung

Zwischen Lethe und Mnemosyne: Zur Gedächtnismatrix von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen

Zur produktiven Paradoxie des gesellschaftlich organisierten Erinnerns als ein gesellschaftlich organisiertes Vergessen

Gegenläufige Erinnerungen: Das Beispiel Chile

Lethes Recht: Das Beispiel Südafrika

Der Kampf um Erinnerungen: Das Beispiel Argentinien

V. Der Fall Marokko Staatensozialisation im Kontext universaler Menschenrechte, globaler Vergangenheitsarbeitskultur und lokaler Versöhnungspolitik

Ausgangslage: Marokko unter der Herrschaft von Hassan II.

Chronik eines weltgesellschaftlich induzierten Wandels

Zwischen Tradition und Transition: Marokko unter der Herrschaft von König Mohammed VI.

Der Druck zur Anpassung an globale vergangenheitspolitische Vorgaben: Zur Einsetzung der marokkanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission

Lokale Kontextualisierung eines globalen Unrechtsaufarbeitungsmodells: Zu Mandat, Besetzung und Verfahren der Kommission

Recht und Gesellschaft in Transition?

Fazit

Abkürzungen

Bibliografie

Danksagung

Zur Autorin

Einleitung
Von der Ausnahme zur Regel
Zur globalen Diffusion von Transitional Justice

Seit Mitte der 1980er Jahre rekurrieren weltweit Gesellschaften, die sich mit einer blutigen Vergangenheit konfrontiert sehen, auf das Konfliktlösungskonzept von Transitional Justice. Gleichsam im Windschatten der Evolution des nationalen wie internationalen Strafrechtssystems erblüht, scheint das Konzept für die Aufarbeitung von Massenverbrechen, Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit weitaus überzeugendere und anschlussfähigere Konfliktlösungsinstrumente zur Verfügung zu stellen, als das in der Folge der Katastrophe im 20. Jahrhundert so mühevoll errichtete internationale Strafrechtssystem bereithalten kann. In einem kurzen Zeitraum von kaum mehr als 30 Jahren lassen sich über 50 Fallbeispiele in zahlreichen Ländern Lateinamerikas, Afrikas, Asiens, Mittel- und Osteuropas, Ozeaniens und inzwischen auch in der Region des Maghreb und des Nahen Ostens anführen, in denen Gesellschaften mit blutiger Vergangenheit auf das Gerechtigkeitskonzept von Transitional Justice setzen.1

Weitere Transitional-Justice-Prozesse werden vorbereitet (Tunesien), wurden angekündigt (Ägypten) oder befinden sich wie im Falle Libanons, Afghanistans und Myanmars in der Diskussion.2 Ganz offenbar steht man der Leistungsfähigkeit rein strafrechtlicher Verfahren eher skeptisch gegenüber, sobald man es mit umfassenden Menschenrechtsverletzungen zu tun hat, die auf eine jüngst zurückliegende Vergangenheit staatlicher Massengewalt, systematischer Repression und Bürgerkrieg verweisen. Es lässt sich also das unerwartete Phänomen beobachten, dass gegenüber den streng rechtlich organisierten, täterorientierten Mechanismen einer reinen Strafjustiz einer alternativen Konfliktlösungsform der Vorzug eingeräumt wird, die eine kollektive Aufarbeitung entstandenen Unrechts im Sinne einer opferorientierten »restorative justice«3 mit dem gesamtgesellschaftlichen Ziel der Befriedung, Wiedergutmachung und Aussöhnung anstrebt. Bildet demnach das erweiterte Gerechtigkeitskonzept von Transitional Justice ein neuartiges Konfliktbewältigungsmodell, das den besonderen Anforderungen politischer Übergangsprozesse in den Ländern des Südens entgegenkommt? Ermöglicht es gesellschaftliche Aussöhnungsprozesse und die Wiederherstellung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie nach Staatszerfall und Systembruch?

Fragen dieser Art berühren jene weit gefächerten Diskussionen im Kern, die man unter jeweils unterschiedlichen Disziplin- und Theorieperspektiven im Rahmen der laufenden Konflikt-, Friedensund Transitionsdebatte kontrovers führt.4 Gemeinsam ist allen Problematisierungsperspektiven der Fokus auf eine gesamtgesellschaftliche Zäsur: Die Gegenwarten der betroffenen Gesellschaften, die sich zumeist an der Peripherie der Weltgesellschaft befinden, sind in aller Regel das Resultat eines gerade zurückliegenden gesamtgesellschaftlichen Zusammenbruchs, die soziale Interaktion ist zumeist zerrüttet und durch zerstörte Institutionen, Misstrauen und moralische Verwahrlosung geprägt.5 Aber diese Engführung der Blickrichtung auf Systembruch und gesellschaftlichen Kollaps und die damit einhergehende Beurteilung, die Einsetzung des restaurativen Unrechtsbewältigungskonzepts von Transitional Justice sei als Folge von Überlastung bzw. Zusammenbruch der nationalstaatlich garantierten Rechtspflege zu betrachten, verkennt, dass sich auch gut organisierte Nationalstaaten in den zentralen Knotenpunkten der Weltgesellschaft der Instrumente von Transitional Justice bedienen. Deutschland, Kanada, Australien und die USA sind dafür als Beispiel zu nennen. So wie die globale Diffusion des Transitional-Justice-Konzepts das Faktum seiner religiösen, ethnischen und kulturellen Indifferenz belegt, so zeigt sich auch, dass es als Instrument zur Bewältigung historischen Unrechts auch unabhängig von der jeweiligen Staatsverfasstheit, der vorausgegangenen Gewaltform sowie des jeweiligen Konfliktverlaufs in Anspruch genommen wird. Das verweist auf die Universalität eines zentralen Problems, das ganz offensichtlich mithilfe von Transitional-Justice-Instrumenten gelöst wird.

Stellt Transitional Justice damit das eigentlich universale Konfliktbewältigungsmodell der Weltgesellschaft dar? Und wie verhält es sich zum internationalen Strafrechtssystem: Wird dieses dadurch erweitert oder unterminiert? Auf welche Problemlagen reagieren Einzelgesellschaften mit der Einsetzung von Transitional-Justice-Instrumenten? Was ist deren spezifische Funktion?

Die Beantwortung dieser Fragen ist das Ziel der vorliegenden Arbeit. Damit geht sie über die bisherige Literatur zur Theorie und Praxis von Transitional Justice weit hinaus. Zwar hat die noch junge Transitional-Justice-Forschung detaillierte und kenntnisreiche Einzeluntersuchungen zu den verschiedenen Formen des Umgangs mit schwieriger Vergangenheit hervorgebracht und auch zur semantischen Abkunft und Evolution des Begriffs Transitional Justice, zur historischen Genese des normativen Konzepts sowie zu den verschiedenen Instrumenten und den daran beteiligten Einrichtungen und Akteuren zahlreiche Publikationen vorgelegt.6 Dabei wird aber zumeist das Phänomen Transitional Justice selbst entweder affirmativ quasi als naturgegeben aufgefasst und Postkonfliktgesellschaften gleichsam als Allheilmittel des kollektiven Umgangs mit Unrecht nach Gewaltkonflikten mit großem Eifer herangetragen oder aber durchaus kritisch betrachtet. Ist Letzteres der Fall wird allerdings auch dann das normative Konzept selbst nicht infrage gestellt, sondern primär im Hinblick auf Schwächen und Defizite ausgeleuchtet, und entsprechend werden Mängel, Fehlentwicklungen und Optimierungsmöglichkeiten des Transitional-Justice-Konzeptes problematisiert.7 Es geht auch nicht darum, zu den kaum mehr überblickbaren, unzählig vorliegenden Einzelfallstudien und vergleichenden Länderfallanalysen, die aus politik- und sozialwissenschaftlicher, theologischer, sozialpsychologischer, kultur-, geschichts- und völkerrechtswissenschaftlicher Seite zu nationalen Formen des Umgangs mit gewaltvollen Vergangenheiten veröffentlicht worden sind, eine weitere deskriptive Länderfallanalyse vorzulegen. Vielmehr wird hier eine theoretische Forschungsperspektive eingenommen, die die Einsichten der Transitional-Justice-Forschung wie auch die empirischen Ergebnisse der einzelnen Länderfallanalysen zusammenführt, um darauf aufbauend eine synthetisierende Diskussion und Bewertung von Transitional-Justice-Prozessen aus einer konzeptionell anspruchsvollen metatheoretischen Reflexionsebene vorzulegen. Mithin geht es nicht einfach darum, die offensichtliche und vielbeschworene Internationalisierung und Transnationalisierung des Übergangsgerechtigkeitskonzepts von Transitional Justice ein weiteres Mal hervorzuheben und am Beispiel eines vergleichsweise »exotischen« Falles wie Marokko erneut zu betonen, sondern darum, dieses erstaunliche Phänomen der globalen Diffusion von Transitional Justice soziologisch zu erklären.

Dies geschieht unter Rückgriff auf das hoch abstrakte Problematisierungs- und Erklärungspotenzial streng konstruktivistisch angelegter Makrotheorien. Im Zentrum der Abhandlung stehen dabei die Weltgesellschaftstheorien von John W. Meyer und Niklas Luhmann. Auf der Grundlage empirischer Befunde wird ein Vergleich der zentralen Fragestellungen, Hauptthesen und Deutungspotenziale der beiden Großtheorien unternommen. Ausgehend von diesem Vergleich wird die globale Diffusion von Transitional Justice nicht in herkömmlicher Manier als Folge zielgerichteter oder strategischer Aktivitäten individueller oder kollektiver Akteure, als das Resultat von politischen Macht- und Interessenskonstellationen oder gar als Prozesse der nachholenden Modernisierung und Demokratisierung in den Ländern des Südens beschrieben. Vielmehr werden diesen Entwicklungen vorgelagerte soziale und kulturelle Formierungsprozesse auf weltgesellschaftlicher Ebene betrachtet.8

Im Kern geht es um folgende Ausgangsüberlegungen und Problemstellungen: Im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Umgangs mit gewaltsamen Vergangenheiten, das hat insbesondere der Althistoriker Christian Meier in seinen geschichtswissenschaftlichen Studien zum Umgang mit kollektivem Unrecht hervorgehoben, standen seit der griechischen Antike bis weit in das 20. Jahrhundert hinein nicht etwa die Bewältigung und Bewusstmachung historischen Unrechts, sondern gerade umgekehrt ein Nichterinnern und Vergessen »schlimmer Vergangenheiten«.9 Das Gebot, zu erinnern, und der Imperativ, Unrecht zu bewältigen, entfalten sich erst in unserer Gegenwart. Und das so erfolgreich, wie Meier betont, dass sich eine für die Menschheitsgeschichte nie da gewesene Form der transnationalen Erinnerungs-, Vergangenheitsarbeits- und Entschuldigungskultur herausgebildet habe, die in offiziellen Ansprachen von Regierungsvertretern sogenannter Sorry States in öffentlichen Museen und Gedenkstätten, in der Einrichtung nationaler und internationaler Jahres- und Gedenktage inzwischen Teil des welthistorischen Bewusstseins, ja sogar zur allgemeinen Staatsräson geworden ist.10 Für Gesellschaften, die sich mit einer gewaltsamen Vergangenheit konfrontiert sehen, stellt sich heute deshalb nicht mehr die Frage, ob sie ihre historische Schuld aufarbeiten, sondern nur noch, wie sie dies tun.11 Sei es, dass sie gemäß des Gebots, zu erinnern, und des Imperativs, Unrecht zu bewältigen, Reparationsleistungen erbringen, Expertenkommissionen mit der Aufklärung vergangenen Unrechts beauftragen, Strafgerichte einsetzen oder lediglich Mahnmale errichten lassen.

Tatsächlich erkennt das Völkerrecht mittlerweile nicht nur ein Recht auf Aufdeckung der Wahrheit über historisches Unrecht an und qualifiziert damit partikulare Forderungen nach Unrechtsaufarbeitung als ein legitimes Anliegen, sondern es verpflichtet darüber hinaus souveräne Einzelstaaten dazu, neben der Untersuchung und Aufklärung vergangenen Unrechts Wiedergutmachungsund Reparationszahlungen an ehemalige Opfer von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen zu leisten.12 Hierbei handelt es sich um eine rechtsförmige Inklusion von Betroffenenperspektiven und Normierung von Rechtsansprüchen auf materielle und symbolische Wiedergutmachung staatlich zu verantwortender Gewaltanwendung auf völkerrechtlicher Ebene, deren substanzielle formalrechtliche Fixierung erst in den späten 1990er Jahren, also parallel zur globalen Ausbreitung von Transitional Justice, einsetzte und sich bis heute fortsetzt.13 Gegenüber den rein täterorientierten, auf die Feststellung individueller Verantwortlichkeit für Makroverbrechen gerichteten Verfahren – wie in Nürnberg und Tokio nach dem Zweiten Weltkrieg, wo die Opfer noch nicht einmal als Zeugen geladen wurden – stellt die gegenwärtige opfer- und restaurativ orientierte Rechtsfortentwicklung eine ebenso erstaunliche wie unerwartete Transformation des traditionellen Strafrechtsdenkens dar.14 Die Frage, die sich angesichts dieser rasanten Rechtsevolution stellt, lautet: Wie lässt sich dieser Wandel vom Vergessen hin zur Bewusstmachung »schlimmer Vergangenheiten« und zur Hervorhebung der davon betroffenen Opfer von der Ausnahme zur weltpolitischen Regel erklären? Welche konkreten sozialhistorischen Ausgangsbedingungen haben diesen Wandel eines allgemeinen Verständnisses von historischer Schuld und Verantwortung und die damit verbundenen normativen Umorientierungen von Retribution zu Restauration ermöglicht und plausibel gemacht? Warum und auf welche Art und Weise haben sich die Kenntnis und die Praxis der Vergangenheitsarbeit von Transitional Justice innerhalb eines so kurzen historischen Zeitraums weltweit verbreiten können? Wie wirken sich Rezeptionen und Aneignungen auf Nationalstaaten, Institutionen, kulturelle Traditionen sowie auf individuelle Denkstrukturen aus? Und die wichtigste Frage: Welche Funktion hat dabei das erweiterte Gerechtigkeitskonzept von Transitional Justice?

Kapitel I führt zunächst in das Themenfeld von Transitional Justice am Beispiel des laufenden Vergangenheitsaufarbeitungsprozesses im Königreich Marokko ein. Aufbauend auf das Deutungspotenzial von Neoinstitutionalismus und Systemtheorie lassen sich komplementäre makrophänomenale Antworten auf die Frage aufzeigen, warum eine konservative islamisch-arabische Gesellschaft wie die marokkanische einen Transitional-Justice-Prozess zur Bewältigung vergangenen Systemunrechts eingeleitet hat, der ihren eigenen kulturellen, religiösen und rechtlichen Traditionen zuwiderläuft – und zwar ohne erkennbar überwältigenden politischen Druck oder gar militärischen Zwang von außen, wie im Falle Japans und Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, und auch ohne den vorherigen Sturz des Regimes oder gar die Entmachtung der Monarchie, wie sonst in Übergangsgesellschaften üblich.

Folgt man der neoinstitutionalistischen Interpretation, dann stehen die besondere Rolle von »rationalisierten Anderen« und die von ihnen kreierten und verbreiteten Rationalitäts- und Verhaltensmodelle im Vordergrund der Analyse. Meyer denkt hier an so unterschiedliche Akteure wie lokal und transnational agierende NGOs, internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen, Anwaltsnetzwerke, Wissenschaftler, Intellektuelle und politische Berater. Auf lokaler Ebene tragen diese Agenten der Weltkultur weltkulturelle Muster an einzelne Bürger, Organisationen und Staatsapparate heran und initiieren damit diskursive Formierungsprozesse, in deren Verlauf partikulare Forderungen in universalistische Deutungszusammenhänge eingebettet werden, die für das Selbstverständnis wie die Selbstbeschreibung von Staaten, Individuen und Organisationen gleichermaßen prägend sind. Mithin provoziert die Weltkultur Nachahmungs- und Übernahmeprozesse, in deren Verlauf weltkulturelle Rationalitäts- und Handlungsmodelle auf lokaler Ebene implementiert werden. Die Einsetzung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission in Marokko ist demnach als lokale Imitation eines globalen Weltkulturmusters zu verstehen. Bringt man hingegen das systemtheoretische Vokabular in Anschlag, dann fallen die nationalstaatliche Grenzen überschreitenden Globalisierungseffekte funktional ausdifferenzierter Systeme ins Gewicht. Diese setzen ihre jeweiligen Sinnhorizonte unabhängig von den lokalen Ausgangsbedingungen operativ durch, indem sie lokale Gesellschaften über die Formierung globaler Vergleichszusammenhänge mit der Weltgesellschaft koppeln. Damit werden von der Ebene der Weltgesellschaft aus immer neue Identifikations- und Artikulationsmöglichkeiten auf lokaler Ebene angeregt. Globales Recht, globale Märkte, globale Wissenschaft und globale Medien expandieren über alle Grenzen hinweg und überlagern das Staatensystem mit einem dicht geknüpften Netz systemspezifischer Kommunikationen. Verstärkt werden diese Weltvergesellschaftungseffekte durch Organisationen, Netzwerke und Wissensgemeinschaften, die Regionalkulturen »aushöhlen«, indem lokale Eigenheiten in die Sinnzusammenhänge globaler Systeme integriert und uminterpretiert werden.15 Beide Weltgesellschaftstheorien betonen demnach insbesondere die Wirkmacht sinnhaft-symbolischer Diskurse und damit vor allem Beobachtungsund Beschreibungsverhältnisse. Je stärker die Bindung in weltgesellschaftliche Zusammenhänge, so die zentrale These beider Makrotheorien, desto stärker werden auf lokaler Ebene die Orientierungen an externen Erwartungsstrukturen. Aus dieser Blickrichtung lässt sich die marokkanische Einsetzung von Transitional-Justice-Instrumenten, sowohl aus neo-institutionalistischer wie systemtheoretischer Perspektive, weniger als eine nationalstaatliche als vielmehr eine genuin weltgesellschaftliche Angelegenheit interpretieren. Meyer begreift die Weltgesellschaft jedoch als vertikale, also als von oben nach unten wirkende Sozialordnung, Luhmann dagegen fasst sie als primär horizontale Ordnung auf, in der sich global operierende, autonome Funktionssysteme auf einer polykontextural strukturierten Ebene gegenüberstehen. Während sich daraus die Einsetzung der marokkanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission aus der Luhmannschen Sicht primär als Folge der Koordinationsmängel zwischen den globalen Funktionssystemen Recht und Politik deuten lässt, ist der marokkanische Vergangenheitsaufarbeitungsprozess aus der Sicht Meyers die direkte Folge des Drucks zur Anpassung an übergeordnete Rationalitäts- und Verhaltensmuster der Weltkultur, dem sich der Staat Marokko beugt, um als legitimer Akteur weltgesellschaftliche Anerkennung zu erhalten. Aus beiden Theorieperspektiven folgt also, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise, dass globale Eigenstrukturen die Übernahme weltgesellschaftlicher Vorgaben auf lokaler Ebene provozieren.

Fragt man nach der Reichweite, die globale Vorgaben auf lokaler Ebene entfalten, fallen die Antworten ähnlich komplementär aus. Laut systemtheoretischer Deutung breiten sich die kommunikativen Netzwerke der Funktionssysteme zwar aggressiv aus, stoßen aber auf lokaler Ebene durch lokale Praktiken auf massive Hindernisse. Analog hierzu weisen neoinstitutionalistische Arbeiten darauf hin, dass Prozesse der strukturellen Angleichung nicht notwendig eine Homogenisierung der Weltgesellschaft zur Folge haben. Die globale Verbreitung weltgesellschaftlicher Strukturmuster führt also nicht zu Tendenzen der globalen Uniformierung oder zur Einebnung sozialer und kultureller Unterschiede im Sinne einer »Welteinheitszivilisation«,16 vielmehr treibt sie im Gegenteil massive Differenzen, Fragmentierungen und Diversifizierungen voran.17 Gleichwohl intensiviert die zunehmende Ausrichtung auf weltgesellschaftliche Erwartungsstrukturen – etwa auf Einhaltung der Menschenrechte, wie sie im Rahmen des Normordnungssystems der Vereinten Nationen legitimiert und autorisiert werden, oder auf »good governance« nach Maßgabe der Zuwendungsbedingungen internationaler Geberorganisationen wie der Weltbank oder des Internationalen Währungsfonds – das Durchgreifen weltkultureller Vorgaben auf lokaler Ebene. In dieser komplexen Diagnose der Gleichzeitigkeit von Angleichungs- und Diversifizierungsprozessen in der Weltgesellschaft sind sich Meyers Neoinstitutionalismus und Luhmanns Systemtheorie trotz ihrer unterschiedlichen Akzentuierung weltgesellschaftlicher Strukturen und Dynamiken einig. Dies lässt sich für den Fall Marokko am Beispiel der Entstehung und Etablierung eines Menschenrechtsdiskurses besonders anschaulich aufzeigen, der sich, gestützt auf transnationale Menschenrechtsorganisationen und normative Anforderungen zur Vergabe von entwicklungspolitischen und finanziellen Zuwendungen internationaler Geberorganisationen, zu Beginn der 1990er Jahre auf nationaler Ebene auszubreiten beginnt und bis in die Gegenwart anhält.

Allerdings bieten beide Makrotheorien, auch in ihrer komplementären Erklärungsweise, noch keine ausreichende Interpretation dafür an, warum und wie genau globale Eigenstrukturen im Detail auf lokale Zusammenhänge einwirken können.18 Kritiker beider Makrotheorien geben denn auch zu bedenken, ob die konstatierten weltgesellschaftlichen Phänomene in Marokko ausreichend mit dem abstrakt und generalisierend angelegten Vokabular von Systemtheorie und Neoinstitutionalismus zu erfassen seien oder ob hier nicht doch klassische machttheoretische Erklärungsmodelle, die ökonomische und politische Interessenkonstellationen ausleuchten, mehr zum Verständnis des Verhaltens singulärer Staaten beitragen können? Zwar stimmt es, dass inzwischen eine Vielzahl von Nationalstaaten globale Normvorgaben in ihre Regel- und Normsysteme adaptiert und integriert und selbst vergangenheitspolitische Handlungsmodelle im Sinne von Transitional Justice implementiert hat, wie die eingangs angeführten Länderbeispiele belegen. Es gibt aber zugleich weiterhin eine Vielzahl anderer Staaten, etwa China, Nordkorea oder Russland, die sich überhaupt nicht oder, wie die Beispiele Indien und Türkei zeigen, nur eingeschränkt um die Durchsetzung von Menschenrechten und die Aufklärung historischer Schuld kümmert. In dieser Hinsicht müssen Makrotheorien nicht nur globale Diffusionseffekte, sondern auch das Nichtdurchgreifen globaler Vorgaben, also widerständige, verzerrte oder verfremdete Übernahmen weltgesellschaftlicher Eigenstrukturen, auf lokaler Ebene erklären können.19 Oder anders formuliert: Wie lässt sich das Verhältnis zwischen Globalität und Lokalität konkreter fassen? Wie stehen Nationalstaaten und Weltgesellschaft genau zueinander? Wie ist die Gleichzeitigkeit von Prozessen der Isomorphie und der Diversifizierung zu erklären? Die Antwort des Neoinstitutionalismus, wonach »Decoupling«-Effekte, also Entkopplungen der lokalen Praxis von weltkulturellen Vorgaben, dafür verantwortlich seien, dass globale Eigenstrukturen nicht effektiv durchgreifen können, scheint darauf hinzuweisen, dass Abweichungen vom Trend der Isomorphie nicht etwa die Ausnahme darstellen, sondern im Gegenteil zu den charakteristischen Strukturmerkmalen der Weltgesellschaft gehören.20 Mit Blick auf die Systemtheorie stellt sich analog hierzu die Frage, inwieweit von einer »Vollrealisierung« funktionaler Differenzierung in der Weltgesellschaft überhaupt die Rede sein kann. Wo verlaufen die Grenzen funktionaler Dynamiken? Durch welche kulturellen und traditionsbedingten Voraussetzungen auf lokaler Ebene werden sie bestimmt oder konterkariert? Die diesbezüglich letzte Antwort der Systemtheorie, wonach Inklusions- und Exklusionsmechanismen die Reichweite sozialer Systeme definieren, ist vorläufig jedenfalls selbst für die prominentesten Verfechter der Theorie sozialer Systeme nur bedingt befriedigend.21 Inwieweit ist angesichts dieser gravierenden Einwände der Begriff Weltgesellschaft innerhalb beider Theoriekonzeptionen überhaupt noch sinnvoll?

In der vorliegenden Arbeit werden diese schwerwiegenden Vorbehalte und Kritikpunkte sehr ernst genommen, aber dahingehend optimistisch gewendet, dass der offensichtlich unfertige Charakter beider Makrotheorien als Chance und Offerte zur Erweiterung der Theorieentwürfe aufgefasst wird. Daraus ergeben sich ungeahnte Freiheiten des theoretischen Ausprobierens und Experimentierens zur fruchtbaren Weiterentwicklung beider Forschungsprogramme, die neue Anwendungsmöglichkeiten in Aussicht stellt. Um zu einem vertieften Verständnis dessen zu kommen, wie globale Phänomene auf lokaler Ebene zusammenwirken, werden hier die Deutungspotenziale beider Globalisierungstheorien unter Berücksichtigung der kritischen Beobachtung, dass nationalstaatsinterne Reaktionen auf die Einbettung globaler Zusammenhänge unterschiedlich ausfallen und sich der Wirkmacht globaler Eigenstrukturen sogar entziehen können, für eine eigene Deutung herangezogen, die die generalisierend orientierten Interpretationsweisen von Meyer und Luhmann durch eine empirisch-deskriptive Untersuchung des außen- und innenpolitischen Handelns Marokkos ergänzt. Erst in der Kombination makrotheoretischer mit empirischdeskriptiven Analyseverfahren, so lautet die These, lässt sich das Verhältnis von Globalisierung und Regionalisierung, das heißt das konkrete Zusammenspiel von Makro- und Mikroebene, präziser fassen und für die Deutung des Phänomens der globalen Diffusion von Transitional Justice vor der Folie des Länderbeispiels Marokko fruchtbar machen. Das wird am Beispiel der weltweiten Ausbreitung der Menschenrechte aufgezeigt, die partikulare Forderungen der Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen inzwischen nicht nur für die Gegenwart und Zukunft, sondern auch für die Anprangerung der Verletzung von Menschenrechten in der Vergangenheit möglich macht. Hier stellt sich die Frage, wie die Menschenrechte diese vergangenheitsorientierte Ausstrahlungskraft entfalten konnten und wie sie als historisch rückwirkende universale Normen auf souveräne Einzelstaaten wie Marokko einwirken?

Kapitel II gibt darauf eine Antwort. Im Hinblick auf die Defizite systemtheoretischer und neo-institutionalistischer Überlegungen bezüglich der Präzisierung und Gewichtung der Antriebskräfte von Transfer-, Übertragungs- und Aneignungsprozessen weltgesellschaftlicher Eigenstrukturen auf lokaler Ebene wird die Antwort nicht allein innerhalb des theoretischen Designs der beiden Großtheorien gesucht. Vielmehr wird sozusagen ein Schritt hinter das abstrakt angelegte Theorieprogramm beider Makrotheorien gemacht und ein Untersuchungsweg eingeschlagen, der hier historische Soziologie der Weltgesellschaft genannt wird. Zunächst wird die rechtssoziologische und rechtshistorische Forschungsliteratur herangezogen und danach befragt, wie sich aus ihrer Blickrichtung die Herausbildung und die globale Diffusion der Menschenrechte beschreiben lässt. Die rechtssoziologische und rechtshistorische Orientierung ist dabei kein Selbstzweck, sondern soll im Licht welthistorischer Forschungen dazu beitragen die Herausbildung weltgesellschaftlicher Eigenstrukturen im Hinblick auf ihre sozialhistorischen Möglichkeits- und Entstehungsbedingungen auszuleuchten. Erst in einem darauffolgenden Arbeitsschritt werden die beiden Großtheorien, nunmehr angereichert mit den Einsichten einer historischen Soziologie der Weltgesellschaft, erneut für die Deutung des Phänomens von Transitional Justice und des Länderfallbeispiels herangezogen. Im Zentrum der Argumentation steht dabei folgende Überlegung: Warum partikulare Forderungen nach Verfolgung und Bewältigung auch vergangener systematischer Menschenrechtsverletzungen ihre heutige Selbstverständlichkeit gewinnen konnten, wird erst erkennbar, wenn man den gesellschaftsstrukturellen Ausgangsbedingungen auf die Spur kommt, die zur Ausbreitung einer globalen Menschenrechtskultur als normativem Bezugshorizont geführt haben. Dass dieser auch dann handlungsleitend wird, wenn die gesellschaftspolitischen, kulturellen und vor allem rechtlichen Grundlagen auf lokaler Ebene gerade nicht den normativen Vorgaben des globalen Menschenrechtssystems entsprechen, zeigt der Fall Marokko. Die Frage, die sich daraus wiederum ergibt, lautet: Wie haben die Menschenrechte diese weltgesellschaftlichen Effekte zeitigen können, obwohl es an einem kulturübergreifenden Konsens über den prinzipiellen Gehalt universaler Rechte ebenso fehlt wie an effektiven Durchsetzungsinstanzen? Um das zu klären, wird die Geschichte der Menschenrechte und ihrer Universalisierung in einem kurzen Abriss vorgestellt, der sowohl die diskursiven Formationen und Deutungsvorschläge der einschlägigen Forschungsliteratur als auch die vielschichtigen sozialhistorischen und völkerrechtlichen Entwicklungslinien einbezieht, die zur Universalisierung von Unrechtserfahrungen und damit zur globalen Diffusion der Menschenrechte geführt haben. Gegenüber herkömmlich verfahrenden historischen Abhandlungen über die Menschenrechte wird hier eine genuin soziologische Erklärung gewählt: Im Zuge der Ko-Evolution von Gesellschaftsstruktur und Semantik werden Krisen und Konflikte erzeugt, auf die das Institut der Menschenrechte eine Reaktion darstellt. Die Herausbildung der modernen Gesellschaft zieht notwendig Individualisierung nach sich und damit die Problematik des Ein- und Ausschlusses von Individuen in soziale Systeme. Die Menschenrechte, so die These, entstehen als kompensatorisches Pufferinstrument gegen Totalisierungstendenzen der sich ausdifferenzierenden Funktionssysteme. Die Universalisierung und Institutionalisierung der Menschenrechte, so das entscheidende Argument, das hier herausgearbeitet wird, ist demnach nicht als Resultat konsensorientierter, interessen- oder zielgeleiteter politischer Kooperationen souveräner Staaten zu interpretieren. Das machen insbesondere die Ausdifferenzierung regionaler Menschenrechtsregime gegenüber dem universalen Menschenrechtssystem der Vereinten Nationen und die damit verbundenen Normkollisionen deutlich. Die Menschenrechte sind vielmehr als direkte strukturelle Effekte sich verändernder normativer Vorstellungen und Deutungen legitimen Handelns – sowohl individueller wie staatlicher Akteure – zu verstehen. Als semantischer Ausdruck dieses normativen Wandels entfalten die Menschenrechte als dekontextualisierte Selbstbeschreibungsformeln der Weltgesellschaft auf globaler wie lokaler Ebene ihre politische Sprengkraft.

Gestützt auf weltgesellschaftliche Ereignisse treten die Menschenrechte ihren eigentlichen globalen Siegeszug erst in den Jahren nach der postkolonialen Ära an. Im Zentrum der Darstellung stehen daher die Herausbildung des modernen Staatensystems seit 1945, die juridisch-moralischen Folgewirkungen der Nürnberger und Tokioter Prozesse sowie die kulturrevolutionären Ereignisse um 1968 und die dadurch hervorgerufenen neuen Formen eines zivilgesellschaftlich getragenen, globalen Protestes. In der Folge dieser mehrdimensional gelagerten sozialen Entwicklungen verbreitet sich eine moralisch-ethische Überzeugung darüber, dass Menschenrechte zu achten sind und dass das legitime Handeln souveräner Staaten danach zu bewerten ist, inwieweit es mit einer an den Menschenrechten orientierten Werteordnung in Einklang zu bringen ist. Konkretisiert werden diese Aussagen insbesondere durch die explosionsartige Vervielfältigung und globale Ausbreitung von Menschenrechts-NGOs. Durch das Akkreditierungs- und Legitimationsverfahren der Vereinten Nationen hervorgebracht, avancieren transnationale Menschenrechts-NGOs zu den zentralen Konstrukteuren und Verbreitern menschenrechtlichen Denkens und tragen im Wesentlichen dazu bei, dass die politisch-revolutionären Leitideen der 1968er-Bewegungen in den frühen 1990er Jahren durch die politische Leitsemantik der Menschenrechte ersetzt werden. Weitere entscheidende institutionelle Erfindungen im Kontext der Vereinten Nationen, wie die der nationalen Menschenrechtsinstitutionen, die in einem rasanten Tempo nahezu von allen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen auch tatsächlich eingerichtet worden sind, verstärken diesen Diffusionsprozess menschenrechtlichen Denkens. Denn anders als die NGOs, die lediglich episodenhaft und somit zeitlich und sachlich stark eingeschränkt Menschenrechtsbildungsprozesse im Sinne der UN-Charta befördern, wirken die nationalen Organisationen, die auf der Grundlage des jeweiligen nationalstaatlichen Rechts agieren, strukturell nachhaltig. Dieser vertikal gelagerte Übertragungsprozess menschenrechtlichen Denkens führt, wie sich zeigen wird, jedoch nicht zu einer konsens-, sondern dissensorientierten globalen Menschenrechtskultur – ein Umstand, der unter Rückgriff auf mikrosoziologisch angelegte Untersuchungsverfahren der Rechtsanthropologie unter dem Begriff »Vernakularisierung« behandelt wird. Infolge der norm(mit- und -um)gestaltenden Aktivitäten nationaler Menschenrechtsinstitutionen und anderer beteiligter Akteure im Kontext lokaler Menschenrechtsbildungsprozesse werden auf der Grundlage des modernen, nunmehr auch menschenrechtlich angereicherten Völkerrechts, Prinzipien und Verhaltensmodelle moderner Staatlichkeit entwickelt und institutionell gefestigt, die sich radikal gegen das klassische Verständnis souveräner Staatlichkeit wenden. Festmachen lassen sich diese normativen Umformulierungen souveräner Staatlichkeit an der völkerrechtlichen Ächtung des Angriffskrieges und der Verpflichtung des Staates, die Rechte des Individuums zu schützen. Auf dieser erweiterten normativen Grundlage des Völkerrechts avanciert in der Weltgesellschaft schließlich der Imperativ der friedlichen Konfliktbeilegung zusammen mit dem globalen Handlungsmodell der Einhaltung und des Schutzes der Menschenrechte zur zentralen – wenngleich kontrafaktischen – Anforderung an legitime Staatlichkeit.

Erst vor dem Hintergrund dieses Wandels normativer Orientierungen, der sich in den Jahren nach 1945 mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte auszubreiten beginnt und sich institutionell nach dem Ende des Kalten Krieges nachhaltig festigt, kann das Deutungspotenzial von Systemtheorie und Neoinstitutionalismus für das Phänomen der globalen Ausbreitung von Transitional Justice herangezogen und für die Interpretation des Falles Marokko fruchtbar gemacht werden. Die Rekonstruktion und Darstellung dieser normativen Wandlungsprozesse, die kollektive Prozesse der Übergangsgerechtigkeit von der Ausnahme zur weltpolitischen Regel werden lassen, stehen daher im Zentrum der Diskussion von Kapitel III. Die entscheidende Frage lautet hier: Wie haben sich vergangenheitspolitische Normen, Standards und Institutionen in der Weltgesellschaft ausbreiten können? Den Ausgangspunkt der Argumentation bilden die Überlegungen zu einer globalen Vergebungs-, Versöhnungs- und Entschuldigungskultur, die sich aus den Arbeiten des Philosophen Jacques Derrida und des Althistorikers Christian Meier ableiten lassen. Während Derrida kritisch-distanzierend von einem »Theater des Pardons« spricht, betont Meier einen welthistorischen Wandel im Umgang mit historischer Schuld, der einen globalen »Imperativ des Erinnerns und Vergebens« hervorgebracht habe. Der Ritus des öffentlichen Entschuldigens für vergangenes Unrecht, so die These beider Autoren, habe sich zu einem globalen »Mantra der Gerechtigkeit« und zum moralischen Maßstab staatlichen Verhaltens entwickelt, dem sich gegenwärtig kaum ein souveräner Staat mehr entziehen könne. Wichtig für die Argumentation der vorliegenden Arbeit sind Derridas und Meiers Überlegungen zum gewandelten Umgang mit gewaltsamen Vergangenheiten deshalb, weil sie das Phänomen der Übergangsgerechtigkeit nicht nur in Bezug auf strafrechtliche, politische und menschenrechtliche Aspekte eingrenzen, sondern diese auch mit therapeutischen und metaphysischen Bezügen des »Vergebens«, »Heilens« und »Versöhnens« in Verbindung bringen. Für die Überzeugungskraft der neuen globalen Unrechtsaufarbeitungskultur ist dies von entscheidender Bedeutung. Erst mit diesem erweiterten Diskursfeld der transitionalen Gerechtigkeit, das unterschiedliche, nunmehr strafrechtliche und menschenrechtliche mit »religiösen« und »therapeutischen« Thematisierungen ermöglicht, lässt sich die Attraktivität des Transitional-Justice-Konzeptes für einzelne Postkonfliktgesellschaften deutlich machen. Die weitreichenden, außerrechtlichen Referenz- und Rechtfertigungsmöglichkeiten, die sich aus dem erweiterten Gerechtigkeitsdiskurs ergeben, machen das Konzept von Transitional Justice gleichsam geschmeidig, dynamisch und flexibel gestaltbar, sodass jeder einzelne Prozess der Übergangsgerechtigkeit an die jeweiligen gesellschaftspolitischen Begebenheiten und konfliktionären Ausgangsbedingungen angepasst und jeweils individuell, das heißt länderspezifisch, zugeschnitten werden kann. Dabei wandeln sich die normativen Zielvorstellungen. Nicht mehr Recht, wie zu Zeiten des Nürnberger und Tokioter Modells der Übergangsgerechtigkeit, sondern gesamtgesellschaftlicher Friede und nationale Aussöhnung stehen im Zentrum des Interesses. Daher steht nicht mehr die strafrechtliche Verfolgung und Aburteilung der Täter im Vordergrund, sondern die Opfer und die Aufarbeitung historischer Schuld, womit sich zugleich auch die Perspektive der Gesellschaft auf die eigene Geschichte verändert. Damit erklären sich die weltweite Inanspruchnahme und die universale Plausibilität des erweiterten Gerechtigkeitsparadigmas von Transitional Justice. Es kann auf lokaler Ebene jeweils maßgeschneidert auf einen spezifischen Fall der Konfliktbearbeitung und nationalstaatlichen Konfliktbearbeitungsbereitschaft implementiert und weltgesellschaftlich in Szene gesetzt werden.

Darauf aufbauend kann dann der Frage nach den zugrunde liegenden strukturellen Dynamiken und sozialen Antriebskräften nachgegangen werden, die zur weltweiten Verbreitung des Wissens und der Praxis von Transitional Justice geführt haben. Unter Rückgriff auf das Interpretationspotenzial der Theorie der Weltgesellschaft (der Bielefelder wie der Stanforder Schule), das mit den in Kapitel II herausgearbeiteten Ergebnissen der historischen Soziologie der Weltgesellschaft kombiniert wird, lässt sich die globale Diffusion von Transitional Justice im Sinne der Ausbreitung einer globalen Vergangenheitsaufarbeitungskultur deuten, die im Wesentlichen auf drei weltkulturellen Innovationen basiert:

  1. der Herausbildung vergangenheitspolitischer Normen und Standards im Kontext des Völkerrechts (Imperativ der friedlichen Konfliktbeilegung, Verpflichtung der Staaten zum Schutz individueller Rechte, Prinzip des unabdingbaren Rechts der Opfer auf Wahrheit, staatliche Pflicht zur Aufklärung, Reparation und Wiedergutmachung historischen Unrechts, Inklusion von Opfer- und Genderperspektiven, Verfolgung von sexueller und sexualisierter Gewalt)
  2. der Erfindung unterschiedlicher Instrumente zur Bewältigung historischen Unrechts (Ad-hoc-Straftribunale, internationale und hybride Strafgerichte, Sondergerichte mit integrierten wahrheitskommissionsähnlichen Verfahren, Zeugenbetreuungs- und Court-Monitoring-Programme, Experten-, Sachverständigen- und Historikerkommissionen, Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, die Opfer-Täter-Mediation, »nicht-westliche«, traditionelle Techniken der versöhnungsorientierten Unrechtsbearbeitung)
  3. der Entwicklung verschiedener Mechanismen und Praktiken im Umgang mit historischem Unrecht (»Wahrheit sprechen«, Versöhnungs-, Heilungs-, Erinnerungs- und Gedächtnistechniken, Einrichtung von Archiven, Datenbanken, Erinnerungsorten, Monumenten und Museen, Einführung nationaler und internationaler Gedenktage)

Das Kapitel stellt die maßgeblichen Konstrukteure, Agenten und Verbreiter dieser Normen, Standards und Institutionen der globalen Vergangenheitsarbeitungskultur vor. Auf der Grundlage empirischer Befunde, die in teilnehmender Beobachtung gesammelt wurden, wird ihre konkrete Tätigkeitsweise beschrieben. Im Kontext eines permanenten internationalen Konferenzbetriebes, der Beratungstätigkeit auf internationaler wie nationalstaatlicher Ebene, dem steigenden Grad an Professionalisierung und Verwissenschaftlichung, den die Experten der Vergangenheitsarbeit in Gang gesetzt und mitgestaltet haben, verdichtet sich zunehmend ein Diskursfeld der transitionalen Gerechtigkeit. Daraus entfaltet sich ein mehrdimensionales, sich beständig verstärkendes transnationales Beobachtungs- und Thematisierungsnetzwerk mit öffentlich zugänglichen Internet-Datenbanken und -Archiven, mit Schulungs- und Trainingsprogrammen, die von den Experten der Vergangenheitsarbeit in Seminaren und Workshops in allen Regionen der Welt durchgeführt werden. Insbesondere die Länderberichte internationaler Organisationen und deren World Reports, die, angereichert mit den gesammelten Daten der Experten zum Thema Übergangsgerechtigkeit, regelmäßig über den aktuellen Stand weltweit eingesetzter Prozesse der Übergangsgerechtigkeit informieren, tragen zur Akkumulation, Reflexion und Verwissenschaftlichung von Transitional Justice bei. Im Rahmen dieser Verdichtung des Beobachtungs- und Beschreibungszusammenhangs folgt dann in der Tat genau das, was sich aus neoinstitutionalistischer Perspektive als die weltweite Diffusion globaler Rationalitäts- und Verhaltensmuster beschreiben lässt. Durch die Aktivitäten dieser neuen Agenten der Weltkultur entfalten sich spezifische vergangenheitspolitische Prinzipien und Verhaltensmodelle, die auch trotz politischer, kultureller oder traditionsbedingter Widerstände auf der lokalen Ebene hinsichtlich regionaler Begebenheiten wirkmächtig werden. So lässt sich mit Meyer sagen, dass das Verhalten souveräner Staaten ungeachtet ihres Entwicklungs- und Modernisierungsgrades und ungeachtet des tatsächlich vorhandenen politischen Willens durch eine expandierende rationalistische Vergangenheitsaufarbeitungskultur zunehmend synchronisiert wird. Das Kapitel hebt in besonderer Weise hervor, dass dieser Prozess der stärkeren Vereinheitlichung nationaler Vergangenheitspolitiken nicht als Folge eines linearen Weltvergesellschaftungsprozesses misszuverstehen ist, sondern dem Wechselwirkungsverhältnis des »weichen« Einwirkens sinnhaft-symbolischer Diskurse weltkultureller Agenten einerseits und den »harten« politischen und ökonomischen Machtinteressen von Einzelstaaten andererseits geschuldet ist. Die mit der Inanspruchnahme des erweiterten Gerechtigkeitsparadigmas von Transitional Justice verbundenen politischen Legitimationsressourcen und das breite Spektrum an »soften« Vergangenheitsaufarbeitungsinstrumenten ermöglichen es souveränen Einzelstaaten, weltkulturellen Anforderungen an legitime Staatlichkeit – etwa Beachtung der Menschenrechte und Aufklärung historischer Schuld – politisch relativ leicht zu entsprechen. Auf dem internationalen wie nationalen politischen Parkett können Einzelstaaten somit moderne Staatlichkeit simulieren und damit Anerkennung als legitime Akteure in der Weltgesellschaft erlangen. Verstärkt wird die Bereitschaft zur Übernahme vergangenheitspolitischer Rationalitäts- und Verhaltensmodelle durch ein weiteres gewichtiges Faktum: die Tatsache, dass Geberorganisationen wie die Weltbank, der Internationale Währungsfonds (IWF) oder die Europäische Union die Gewährung von Kredit- und Unterstützungsprogrammen nicht nur von der Einhaltung menschenrechtlicher Normvorgaben und Standards der »good governance«, sondern inzwischen auch vom Umgang mit historischer Schuld abhängig machen.