Praktische Theologie und Kultur PThK 23
Herausgegeben von Wilhelm Gräb und Michael Meyer-Blanck

Jürgen Schönwitz

Religion - Identität - Bildung

Ein Konzept religiöser Selbstbildung

 

Impressum

© KREUZ VERLAG 
in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012 
Alle Rechte vorbehalten 
www.kreuz-verlag.de 
 
Umschlaggestaltung: Bergmoser + Höller Agentur, Aachen 
 
ISBN (E-Book): 978-3-451-34661-3 
ISBN (Buch): 978-3-451-61173-5

Inhaltsübersicht

Vorwort

1. Einleitung

1.1 Problemstellung

1.2 Stand der Forschung

1.3 Untersuchungsgang

2. Religion, Identität und Bildung am Vorabend der Aufklärung

2.1 Johann Amos Comenius: Identitätsbildung als Instandsetzung des Menschen

2.2 Pädagogik als Funktion der Theologie

2.3 »Der Mensch muss zum Menschen erst gebildet werden«

2.4 Kritische Würdigung

3. Identität als Kategorie der Neuzeit

3.1 »Identität«? – Annäherung an eine offene Frage

3.2 Die Identitätsfrage im Kontext von Aufklärung, Psychoanalyse und Gesellschaftstheorie

3.3 Die Theorie des Symbolischen Interaktionismus

3.3.1 Konzeptualisierung und Abgrenzung

3.3.2 Die Lebenswelt des Alltags als Kontext symbolischer Interaktionen

3.3.3 Die Funktion der Religion für die Bildung sozialer und personaler Identität

3.4 Identität und Modernität

3.4.1 Postmoderne: »Ent-Täuschung« der Moderne

3.4.2 Religiöse Identität als Aufgabe in einem pluralistischen Kontext

3.5 Identitätstheoretische Prämissen einer religiösen Selbstbildung

3.5.1 Der Identitätsbezug in der Erwachsenenbildung

3.5.2 Die Wiederentdeckung des religiösen Subjekts im Kontext theologischer Anthropologie

4. Bildung als Schlüsselkategorie menschlicher Selbstwerdung

4.1 Annäherung an einen komplexen Begriff

4.1.1 Historischer Exkurs

4.1.1.1 Die Anfänge einer neuzeitlichen Bildung

4.1.1.2 Von der Aufklärungspädagogik zur neuhumanistischen Bildungslehre

4.2 Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung als Leitziel neuzeitlicher Bildung

4.2.1 Wilhelm von Humboldt: Bildung als zweckfreier innengeleiteter Prozess der Selbstentfaltung

4.2.1.1 Bildung als Wechselwirkung von Individualität und Universalität

4.2.1.2 Das bildungspolitische Konzept: Trennung von allgemeiner Bildung und spezieller Bildung

4.2.2 Wolfgang Klafki: Wiederaufnahme und Rekonstruktion des Allgemeinbildungsbegriffes

4.2.2.1 Bildungstheoretische Didaktik: Überwindung des Gegensatzes von formaler und materialer Bildung

4.2.2.2 Kritisch-konstruktive Didaktik: Bildung als pädagogisch-politischer Auftrag

4.3 Die religiöse Dimension des Bildungsbegriffes

4.3.1 Exkurs: Die Legitimität religiöser Bildung im Kontext weltanschaulicher Neutralitä

4.3.2 Dietrich Benner: Bildung und Religion als verbundene Praxen menschlichen Handelns

4.3.2.1 Pädagogische Praxis im Rahmen menschlicher Gesamtpraxis

4.3.2.2 Das Proprium der Religion und seine bildungstheoretische Bedeutung

4.3.2.3 Der nicht-affirmative Umgang mit der Grundparadoxie pädagogischer Interaktion

4.4 Innenansichten des sich bildenden Subjekts

4.4.1 Konstruktivistische Implikationen

4.4.2 Didaktische Konsequenzen

4.5 Fazit: Religiöse Implikationen säkularer Bildung

5. Religion im Kontext pluraler Sinnwelten

5.1 Die religiöse Signatur der Gegenwart

5.2 Lebensdeutung und Sinnsuche: Das religiöse Subjekt als Religionsexperte in eigener Sache

5.3 Religionssoziologischer Exkurs: Individuelle Religion und Kirchenbindung

5.3.1 Claus-Peter Jörns: »Die neuen Gesichter Gottes – Was die Menschen heute wirklich glauben« (1997)

5.3.2 4. EKD-Erhebung zur Kirchenmitgliedschaft: »Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge« (2006)

5.3.3 Bertelsmann Stiftung: »Religionsmonitor« (2008)

5.4 Grundzüge einer bildungsoffenen Religionstheorie

5.4.1 Religion als »das, was unbedingt angeht«

5.4.2 Religion als sinnstiftende Deutung von Erfahrung

5.4.3 Religion als doppelt gestufter kommunikativer Tatbestand

6. Friedrich Schleiermacher: Religiöse Selbstbildung als praktizierte Selbstdeutung im Horizont des Unbedingten

6.1 Schleiermachers Weg vom Herrnhuter Pietismus zu den »Reden über die Religion«

6.2 Die Ausgangslage bei der Abfassung der Reden

6.3 »Über das Wesen der Religion«

6.4 »Über die Bildung zur Religion«

6.5 »Über das Gesellige in der Religion, oder über Kirche und Priestertum«

6.6 Impulse Schleiermachers für die Praxis religiöser Selbstbildung im Kontext kirchlicher Erwachsenenbildung

6.6.1 Das Subjekt: Der sich als religiös identifizierende Mensch

6.6.2 Der Modus: Die Selbstdeutung individuellen Lebens

6.6.3 Der Raum: Die Ermöglichung religiöser Selbstbildung

7. Theoretisch-praktischer Transfer: Resümee und Ausblick

7.1 Religionstheoretische Prämissenreligiöser Selbstbildung

7.2 Ausblick: Religiöse Selbstbildung im Kontext christlich und protestantisch begründeten Bildungshandelns

8. Religiöse Selbstbildung und ihre Praxis

8.1 Evangelischer Theologiekurs»Zwischen Himmel und Erde«

8.1.1 Religionssoziologische und theologische Intentionen

8.1.2 6. Kurseinheit: »Warum gerade ich?«

8.1.2.1 Ablauf und Analyse

8.1.2.2 Kritische Würdigung

8.2 »Ökumenischer Stadtpilgerweg Hildesheim«

8.2.1 Pilgern: Sich ergehen auf entschleunigten Wegen

8.2.2 »Gott und der Welt auf der Spur«

8.2.2.1 Ablauf

8.2.2.2 Kritische Würdigung

8.3 Gemeindeseminar: »Mein Gottesbild – eine offene Frage«

8.3.1 Kritische Anfrage: Die Kirchengemeinde als Ort der Erwachsenenbildung

8.3.1.1 Der Rollenwechsel des Gemeindepfarrers

8.3.1.2 Das dem Pfarrer/Moderator entgegengebrachte Vorverständnis

8.3.1.3 Das Defizit an erwachsenenbildnerischer Kompetenz

8.3.2 Plädoyer: Die Kirchengemeinde als Ort der Erwachsenenbildung

8.3.3 Intention und Durchführung des Gemeindeseminars

8.3.3.1 Verlaufsskizze 1. Abend: »Gottesbild – Gott im Bild«

8.3.3.2 Verlaufsskizze 2. Abend: Unser Gottesbild im Lebenslauf

8.3.3.3 Verlaufsskizze 3. Abend: »Du sollst dir kein Bildnis machen?«

8.3.3.4 Verlaufsskizze 2. Abend: »Vater« oder »Vaterbild«

8.3.4 Abschließende Bemerkungen

Abbildungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Anhang

Vorwort

Die vorliegende Studie wurde im Wintersemester 2011 / 12 von der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen. Sie ist das Ergebnis eines Forschungsprojektes, das zwischen 2007 und 2011 am dortigen Lehrstuhl für Praktische Theologie durchgeführt wurde. Für die vorliegende Veröffentlichung wurde sie um das Kap. 8.3 (Gemeindeseminar: »Mein Gottesbild – eine offene Frage«) erweitert.

An erster Stelle danke ich herzlich meinem theologischen Lehrer Prof. Dr. Wilhelm Gräb. Er hat dieses Projekt von Anfang an in einer Weise unterstützt, dass meine Zeit in Berlin selbst zu einem Prozess religiöser Selbstbildung wurde. Sein ermutigender Zuspruch, seine Impulse und sein Rat haben mir immer wieder neue Perspektiven auf den Gegenstand der Untersuchung eröffnet.

Herrn Prof. Dr. Rolf Schieder danke ich für das Interesse an meiner Arbeit und für die Erstellung des Zweitgutachtens.

Herzlich danke ich auch den Mitgliedern des Doktorandenkolloqiums der Systematischen und Praktischen Theologie, die mich als Seiteneinsteiger in ihre Mitte nahmen und mit ihrer konstruktiven Kritik meine Arbeit bereichert und befördert haben.

Für die Aufnahme der Studie in die Reihe »Praktische Theologie und Kultur« danke ich den Herausgebern Prof. Dr. Wilhelm Gräb und Prof. Dr. Meyer-Blanck. Ebenso danke ich Herrn Rolf Hartmann vom Kreuz Verlag für die gute Zusammenarbeit.

Ich bin dankbar, dass mich meine Hannoversche Landeskirche ebenso wie die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (VELKD) durch eine großzügige Druckbeihilfe finanziell unterstützt haben.

Meiner Frau Petra verdanke ich soviel, dass es an dieser Stelle nicht in Worte zu fassen ist. Nur soviel: Ihre Zuneigung, Unterstützung und Begleitung haben mir überhaupt erst die Kraft gegeben, diese Arbeit zu beginnen und zu vollenden. Ihr widme ich diese Arbeit.

 

Wunstorf, im März 2012

Jürgen Schönwitz

 

»Die biblische Verheißung gilt immer –

aber wie sie zur Geltung kommen kann,

hängt an der einfühlsamen Wahrnehmung

unterschiedlicher lebensgeschichtlicher Situationen.«

Henning Luther, Religion und Alltag

1. Einleitung

1.1 Problemstellung

Die vorliegende Untersuchung widmet sich der Theorie religiöser Bildung, die die Anforderungen beschreibt, die an eine der modernen religiösen Lage entsprechende kirchliche Bildungspraxis zu stellen sind. In ihrem Verlauf soll der Frage nachgegangen werden, wie religiöse Bildungsprozesse im kirchlichen Rahmen konzeptioniert werden müssen, damit sie nicht mit dem Anspruch auf religiöse Selbstbestimmtheit und eine mündige Reflexion der eigenen religiösen Identität in Konflikt geraten. Dieser Anspruch wird im Kontext der modernen Kultur erhoben. Ihm wird auch in Bildungsprozessen in säkularen Kontexten weitgehend Rechnung getragen. Dass ihm auch im kirchlichen Rahmen entsprochen werden kann und recht verstanden entsprochen werden müsste, das zu zeigen ist das Ziel vorliegender Arbeit. Von hier ausgehend stellt sich die vorliegende Untersuchung unter die Leitfrage:

Wie muss die Kirche Bildung in ihren Institutionen der Erwachsenenbildung verstehen und praktisch in religiösen Bildungsprozessen umsetzen, wenn sie den Anforderungen, die mündige Individuen an Bildungsprozesse stellen, gerecht werden will?

Entlang dieser Leitfrage wird der Untersuchungsgang deutlich zu machen versuchen, dass individuelle Selbstbestimmung und institutionelle Trägerschaft in religiösen Bildungsprozessen dort zusammenfinden können, wo die Institution dem Menschen einen Ermöglichungsraum der Selbstbildung anbietet, in dem er selbstbestimmt seine Identität zum Thema machen und nach deren Entwicklungsmöglichkeiten fragen kann.

Auf den Kontext der kirchlichen Erwachsenenbildung bezogen hat dies zur Folge, dass durch Prozesse religiöser Selbstbildung drei Faktoren ins Verhältnis gesetzt werden: 1. Religion und Bildung, 2. deren wissenschaftliche Reflexionsformen, Theologie und Pädagogik, sowie 3. das Subjekt dieses Prozesses: der um Sicherung und Erweiterung seiner Identität bemühte Mensch. Damit kommen Kriterien wie Zugänglichkeit, Offenheit und die Fähigkeit zur Selbstreflexion, Interdisziplinarität und Selbstrücknahme in den Blick und fordern dazu heraus, nach dem zu fragen, was religiöse Selbstbildung im Kontext kirchlicher Erwachsenenbildung fördert oder behindert oder am Ende gar verhindert.

Begibt sich die vorliegende Untersuchung auf die Suche nach der Antwort auf diese Frage, dann geschieht dies unter der Annahme, dass Religion und Bildung im Individuum ihren gemeinsamen Bezugspunkt haben. Dietrich Korsch spricht in diesem Zusammenhang von der Verknüpfung von Religion und Bildung »über das Subjekt, das von beiden innerlich betroffen ist«.1 Diese Feststellung soll im Rahmen dieser Untersuchung um die Fragestellung erweitert werden, wie diese Verknüpfung a) religions- und bildungstheoretisch zu begründen ist und b) wie die durch Religion und Bildung ausgelöste »innere Betroffenheit« in der Praxis einer religiösen Selbstbildung aufgenommen und thematisiert werden kann.

Dass diese Frage leichter gestellt als beantwortet ist, hängt auch damit zusammen, dass die christliche Theologie und die Erziehungswissenschaft als theoriegenerierende Repräsentationsformen von Religion und Bildung eigene Zugänge zum Menschen entwickelt haben, die – wie zu zeigen sein wird – zum Teil erheblich voneinander abweichen. Ebenso hat auch der sich seiner Mündigkeit bewusste Mensch der Moderne sein Verhältnis zu Religion und Bildung neu bestimmt. Warum sich damit für den Untersuchungsgang eine problematische Ausgangslage ergibt, soll im Folgenden kurz skizziert werden.

Die säkulare Erwachsenenbildung hat seit der Mitte des zurückliegenden Jahrhunderts mehr als nur eine konzeptionelle »Wende« hinter sich bringen müssen.2 Nach dem Umweg über die sog. »realistische Wende«3 in den 60er- und 70er-Jahren, in der bildungsökonomische und berufspragmatische Aspekte im Vordergrund standen, fand die Erwachsenenbildung Anfang der 80er-Jahre im Zuge der »reflexiven Wende«4 zu jenem Paradigma, das für sie bis in die Gegenwart leitend ist: Bildung muss streng auf den Teilnehmer bezogen sein und seinen Bedürfnissen nach Selbsterfahrung und Weiterentwicklung Rechnung tragen.5 Mit der hier wieder vollzogenen »pädagogischen Grundgebärde« als »Hinwendung zum Bildungspartner«6 wurde das schon 1960 im Grundsatz formulierte Prinzip der Subjektorientierung umgesetzt.7 Dabei war es vor allem die der Erwachsenenbildung eigene prinzipielle Offenheit zur interdisziplinären Zusammenarbeit mit den Human- und Sozialwissenschaften, die sie sowohl auf der Theorie- wie auf der Praxisebene zu der grundlegenden Einsicht führte, dass der Mensch selbst als maßgebliche Ur-Sache seiner Bildung natürlicherweise im Zentrum des Bildungsprozesses zu stehen habe. Indem sie so das Bemühen des Individuums um Identität unter den Bedingungen der modernen Lebenswelt zu ihrem Leitthema machte, wandelte sich die Erwachsenenbildung zur Identitätsbildung, d. h. sie unterbreitet dem Menschen Bildungsangebote, in denen er seine gegenwärtigen Orientierungen hinterfragen und gegebenenfalls neue, weiterführende entwickeln und zur Sprache bringen kann.

Was diese identitätsbildende Arbeit herausfordert, findet vor allem darin seine Begründung, dass Identität unter den Bedingungen der Moderne nicht mehr als Gabe, sondern als Aufgabe zu verstehen ist. Identität wird nicht mehr wie in früherer Zeit über die Zugehörigkeit zu Stand, Beruf, Geschlecht und Religion dem Einzelnen zugeeignet, sondern muss von ihm im Zuge eines lebenslangen Prozesses von Individuation und Sozialisation erworben werden. Für den einzelnen Menschen verbindet sich mit diesem gewendeten Identitätsverständnis eine Neuformatierung seiner Rolle. Er ist nicht länger abhängiges Objekt gesellschaftlicher Vorgaben, sondern autonom handelndes Subjekt, das sich wertend und wählend gegenüber den Optionen verhält, die sich ihm anbieten. Die Erwachsenenbildung versucht diesem Rollenverständnis dadurch Rechnung zu tragen, dass sie vom erwachsenen Lerner als dem »Souverän« spricht, der sich nach dem Kriterium der subjektiven Lebensdienlichkeit Bildungsgehalte selbsttätig aneignet. Das didaktische Paradigma eines Erzeugens von Bildung, d. h. die Vorstellung eines linearen Transfers festgelegter Bildungsgehalte vom Lehrenden zum Lernenden, ist damit in der Identitätsbildung an sein Ende gekommen.

Was schließlich das gegenwärtige Verhältnis von Kirche und Individuum betrifft, so lässt sich ungeachtet der immer noch hohen sozialen Schnittmenge zwischen Kirche und Gesellschaft (ca. 63 %) ein breiter Rückzug des Individuums aus dem Kontext der verfassten Kirche konstatieren.8 Über die Ursachen, die diesen Prozess ausgelöst haben und in Gang halten, wird an anderer Stelle zu sprechen sein (Kap. 3. 3. 2). Sie liegen aber tiefer, als das sie sich mit dem Hinweis auf die demographische Entwicklung der Gesellschaft, der zunehmenden Entfremdung zwischen Individuum und Großorganisationen (Kirchen, Parteien, Gewerkschaften), dem Kulturwandel im Allgemeinen oder dem sog. »Säkularisierungstheorem« im Besonderen erklären ließen. Ein erster Deutungsversuch dieses Geschehens soll an dieser Stelle jedoch unternommen werden: Offenbar wird die Frage des Individuums, warum ausgerechnet seine religiöse Identität eine kirchlicherseits zugeschriebene sein und bleiben soll, von der Kirche so unzureichend beantwortet, dass immer mehr Menschen diese kollektive religiöse Identität ablegen und sich auf die Suche nach individueller religiöser Identität begeben.

Für die Kirche ist diese Entwicklung insofern tragisch, da ihr das Prinzip der Zugänglichkeit quasi in die Wiege gelegt ist. Denn nüchtern betrachtet stellt der Missionsauftrag Mt 28, 18 ff. (»Gehet hin in alle Welt und macht zu Jüngern alle Völker …«), der im Kern auch Bildungsauftrag ist (»… und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe«), nichts anderes dar als die christliche Fassung jener pädagogischen Grundgebärde, die sich hier als Hinwendung zum religiösen Individuum äußert. So hat der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland – wohl unter dem Eindruck einer um sich greifenden Entkirchlichung – in seinem 2006 veröffentlichten Impulspapier »Kirche der Freiheit«9 zu einem bemerkenswerten Aufbruch aufgerufen. Auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens soll es zu einem »Wachsen gegen den Trend« kommen. Bezogen auf die Bildungsarbeit heißt es dazu in der Präambel zum »7. Leuchtfeuer«:

»Im Jahr 2030 ist Bildungsarbeit eines der wichtigsten Arbeitsfelder der evangelischen Kirche. Sie führt Kinder und Jugendliche an den christlichen Glauben und an verantwortliches Leben aus Glauben heran. Sie bestärkt Christen darin, in Familie, Beruf und Gesellschaft von Gott Gutes zu sagen und den christlichen Glauben zu bezeugen. – In kirchlichen wie in staatlichen Institutionen konzentriert sich evangelische Bildungsarbeit auf die Beheimatung in den Überlieferungen des Glaubens und auf die Dialogfähigkeit mit anderen Religionen und Weltanschauungen.«10

Ganz offensichtlich wird hier der kirchlichen Bildungsarbeit für die Zukunft größte Bedeutung beigemessen. Die Frage ist nur: Für wessen Zukunft? Ist Bildung der Schlüssel, dass sich Menschen wieder aufgeschlossen zeigen für ihre Kirche, die ihnen wieder zur religiösen Heimat werden will? Dann wäre Bildung Instrument, um den zunehmenden Prozess der Entkirchlichung zu stoppen. Oder soll Bildung einen Beitrag leisten, die eigene religiöse Identität so zu reflektieren, dass es zu einer religiös fundierten Fortschreibung der eigenen Biographie kommt? Dann wäre Bildung zutreffend erkannt als Konstitutivum menschlicher Existenz, zu der auch die religiöse Disposition des Menschen gehört. Das Impulspapier selbst gibt eine Antwort, die die Tendenz in sich zu tragen scheint, die Lehre zur Norm zu erheben: »Die grundlegenden Themen und Wissensbestände der christlichen Tradition müssen wieder ins Zentrum evangelischer Bildungsarbeit rücken.«11

Auch die 2009 ebenfalls von der Evangelischen Kirche in Deutschland veröffentlichte Schrift »Kirche und Bildung«12 bleibt eher im Ungefähren, wenn sie feststellt:

»Für den christlichen Glauben erschließt sich die Bedeutung einer am Menschen ausgerichteten Bildung aus dem Verhältnis zu dem gnädigen und liebenden Gott Jesu Christi. – Deshalb muss am Anfang die Frage stehen, wie kirchliches Bildungshandeln dazu beitragen kann, dass Menschen Zugang zum Evangelium finden.«13

Es soll an dieser Stelle ausdrücklich festgestellt werden, dass die Kirche als Bildungsträger das Recht hat, Bildungsstandards zu formulieren, in denen sich ihr Selbstverständnis ausdrückt. So muss eine kirchlich verantwortete Erwachsenenbildung als Mitbewerber auf dem Bildungsmarkt hinsichtlich ihrer Erkennbarkeit eine Perspektive einnehmen können, in der ihre eigenen Glaubensüberzeugungen zum Ausdruck kommen. Im anderen Fall wäre ihr Beitrag für eine konstruktive Auseinandersetzung mit anderen Religionen und Weltanschauungen ohne Bedeutung. Eine andere Frage ist es, ob sie ihr inhaltliches Alleinstellungsmerkmal als Angebot unterbreitet oder ob es zielführend sein soll. Was darunter konkret zu verstehen ist, soll im Laufe der Untersuchung deutlich werden. Gewissermaßen als heuristischer Rahmen soll aber schon an dieser Stelle eine Unterscheidung zwischen Angebot und Zielführung vorgenommen werden:

  • »Angebot« geht von der Voraussetzung aus, dass Menschen die Fähigkeit zur individuellen religiösen Lebensdeutung haben. Die entsprechende kirchliche Haltung besteht darin, dass sie ihre Sinn stiftenden Potentiale, wie sie vor allem in der biblischen Überlieferung als Ausdruck religiöser Erfahrung ihren Niederschlag gefunden haben, in einem geeigneten didaktischen Rahmen als Anregung den Menschen zur Verfügung stellt, dass sie von daher ihre eigene Existenz reflektieren.

  • »Zielführung« geht von der Voraussetzung aus, dass Menschen im Kern immer noch religiös zu prägende und formende Wesen sind. Hier besteht die entsprechende kirchliche Haltung darin, dass sie ihre Lehre und Tradition sowohl zum Ausgangs- wie zum Endpunkt ihres Handelns macht und nach dem Übertragungsprinzip christliche Erziehung entlang festgelegter Inhalte betreibt.

Es hat den Anschein, dass das Problem der kirchlichen Bildungsarbeit an dieser Stelle darin besteht, die notwendige Unterscheidung zwischen Angebot und Zielführung nur unzureichend leisten zu können. Ihr Bildungsbegriff bleibt gezwungener Maßen diffus, solange auf der einen Seite von »einer am Menschen ausgerichteten Bildung« die Rede ist, es auf der anderen Seite aber heißt, dass »ins Zentrum evangelischer Bildungsarbeit […] die grundlegenden Themen und Wissensbestände der christlichen Tradition« gehören. Die Frage ist: Wer oder was steht wirklich im Zentrum ihres Bildungsverständnisses?

An diesem Punkt sollen die Ausführungen zur Problemstellung ihr Ende finden. Ihr Anliegen war es, deutlich zu machen, worin die vorliegende Untersuchung ihre Herausforderung sieht und weshalb sie sich dem Thema der religiösen Selbstbildung stellt. Sie zielt darauf ab, ein neuzeitliches Bildungsverständnis, das von der Mündigkeit des Menschen und seiner Befähigung zu einer selbsttätigen und umfassenden Identitätsarbeit ausgeht, in den kirchlichen Bildungskontext zu überführen.

1.2 Stand der Forschung

Wenn sich auch für die 50er- bis 70er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts eine gewisse Randständigkeit der Erwachsenenbildung im Ganzen der Theologie konstatieren lässt14, so hat doch die Frage nach dem genuinen Ort kirchlicher Erwachsenenbildung innerhalb der Praktischen Theologie sowie die Erarbeitung ihres theoretischen und praktischen Propriums seit den 80er-Jahren unübersehbar an Bedeutung gewonnen.15 Dabei stellt die Frage, was religiöse Selbstbildung im Kontext kirchlicher Erwachsenenbildung konstituiert und legitimiert, gewissermaßen ein eigenes Feld dar.

Die vorliegende Untersuchung möchte in den Diskurs um diese Frage eintreten und hierzu einen Beitrag leisten, der sich ebenso inspiriert weiß wie kritisch herausgefordert sieht durch die dort kommunizierten Erkenntnisse, Fragestellungen und Impulse. Darum soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, auf der einen Seite die großen Linien der jeweiligen Untersuchung aufzuzeigen, auf der anderen Seite aber darin speziell den Faden aufzunehmen, der in besonderer Weise auf die Leitfrage der vorliegenden Untersuchung hinführt und zu ihrer Beantwortung beiträgt. Dass die hier vorgenommene Auswahl nicht dem Anspruch auf Vollständigkeit genügen kann, sei nur am Rande bemerkt.16 Gleichwohl sollte sie eine fundierte Einführung in den gegenwärtigen Stand der Forschung leisten können.

Nicht zufällig steht am Anfang der Betrachtung Henning Luther. Seine Bedeutung für die Wahrnehmung und Verortung der Erwachsenenbildung im Kontext der Praktischen Theologie kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Nach seiner Definition stellt Erwachsenenbildung »eine Wiederholung des Gesamtspektrums der Praktischen Theologie unter den spezifischen Aspekten ›Bildung‹ und ›Erwachsener‹« dar. Sie ist damit »nicht ein Bereich kirchlichen Handelns und praktisch theologischer Theorie neben anderen, sondern eine zentrale Perspektive, unter der Praktische Theologie kirchlichgemeindliche Praxis zu erfassen sucht«.17 Ist damit der Erwachsenenbildung die Rolle als »integratives Moment der Praktischen Theologie«18 zugewiesen, dann beantwortet Luther die Frage nach ihrem Subjekt in einer Weise, dass es darin zu einem grundlegenden Objekt-Subjekt-Wechsel kommt.

Deutlich wird dies an der sog. Laienfrage: Der Laie kann nicht länger das Objekt kirchlicher Handlungen sein, sondern »kirchliche Praxis (ist) insgesamt vom Laien her zu rekonstruieren«.19 Indem so die »Laienperspektive« in die Praktische Theologie eingebracht wird, wird zugleich eine Aussage über die Religion selbst getroffen: Sie besteht nicht länger »in der bloßen Übernahme offizieller, dogmatisch fixierter Lehre«, sondern muss verstanden werden als »subjektiver Akt der selbständigen Auslegung von und auch kritischen Auseinandersetzung mit den Deutungsangeboten der Religion«. Damit verändert sich auch die »Aufgabe der Praktischen Theologie. Sie kann sich dann nicht mehr darauf beschränken, zu fragen, wie feststehende, zuvor in den anderen theologischen Disziplinen ermittelte Inhalte an bestimmte Adressaten zu vermitteln seien. Sie hat dann vielmehr davon auszugehen, dass die einzelnen Subjekte nicht (nur) Empfänger theologischer Lehre sind, sondern selbständige und kreative Produzenten religiösen Denkens.«20

Auch wenn Luther noch eher verhalten von einer »subjekttheoretischen Wende in der Praktischen Theologie«21 spricht, so ist doch die Nähe zu jenen Konzepten der reflexiven Wende in der Erwachsenenbildung unübersehbar, in denen die »Hinwendung zum Teilnehmer« in Gestalt subjektorientierter Konzepte vollzogen wird.22 Begriffe wie Lebenswelt, Alltag und Biographie und Bildung werden von ihm nicht nur in den praktisch-theologischen Kontext gestellt, sondern dort auch zum Ausgangspunkt praktisch-theologischer Reflexion über den Menschen als Subjekt der Religion gemacht.

Spätestens hier zeigt sich, worin die über die Praktische Theologie hinausgehende Leistung Luthers besteht: Gegenüber der Dialektischen Theologie, die seinerzeit den theologischen Diskurs noch weithin prägte und schon in der Wendung vom »Menschen als religiösem Subjekt« die Abkehr von Gott vollzogen sah, hat Luther mit seinen religions- und bildungstheoretischen Überlegungen die Praktische Theologie wieder handlungsfähig gemacht. Sie »formuliert dabei nicht den Einheitskonsens der Glaubenden, sie formuliert nicht jenes inhaltliche Einverständnis, auf das alle zu verpflichten wären, sondern klärt – auf hermeneutische und empirische Weise – die Bedingungen, unter denen sich die Verständigung zwischen den religiösen Subjekten vollziehen kann. Was und wie zu glauben ist, klären die einzelnen Subjekte selber.«23 Damit ist im Kern schon das Prinzip der religiösen Selbstbildung formuliert.

Beschreibt Wilhelm Gräb »Kirchliche Bildungsarbeit als Anstoß zu individueller religiöser Selbstbildung«24, dann stellt die Mündigkeit des religiösen Subjektes darin sowohl den Ausgangs- wie den Zielpunkt ihres Handelns dar. Diese Mündigkeit äußert sich nach außen in einem »ethisch-religiösen Individualismus«, der seine Ursache hat in einem Auseinandertreten zwischen dem, »was die Menschen religiös glauben und wie sie leben wollen« und den »doktrinalen Zumutungen der Kirche«.25 Für die kirchliche Bildungsarbeit ergeben sich von daher eine Reihe von Konsequenzen:

Sie hat zunächst den ethisch-religiösen Individualismus als das anzuerkennen, was er der Sache nach ist: Das Bemühen des Einzelnen, über die Selbstdeutung von Erfahrungen seinem Leben einen umfassenden, d. h. auch religiösen Sinn zu geben und darin Identität, die immer auch religiöse Identität ist, zu gewinnen. Sie hat sich schließlich den Interessen der Menschen zu öffnen und ihnen zur Klärung ihrer Selbst- und Weltauffassungen in ihren Bildungseinrichtungen »Möglichkeitsräume religiöser Selbstbildung« zu öffnen.26 Dabei lässt sie die Religion und Moral der Individuen »deren eigene Angelegenheit sein und versucht, die Fähigkeit der Individuen zur Kommunikation ihrer eigenen religiösen Überzeugungen und moralischen Einstellungen zu steigern«.27

Ein weiterer zentraler Aspekt in Gräbs Konzeption einer religiösen Selbstbildung besteht darin, dass die »traditionellen Inhalte christlicher Lehre, wie sie in Bibel und Bekenntnis gegeben sind, zu tradieren und d. h. dem Verstehen zu vergegenwärtigen (sind)«.28 Stärker noch als Luther, der in diesem Zusammenhang vom »Anregungspotential der Religion«29 spricht, geht es Gräb darum, die Bindung zwischen Individuum und Kirche zu intensivieren. Dies geschieht dadurch, dass die Kirche »in der Auseinandersetzung mit den überlieferten Texten, Bildern und Ritualen deutlich werden lässt, wie offen die Kirche für eine freie, kritische, selektive Aneignung und Umformung ihrer tradierten Symbole und Rituale ist«.30

Zusammenfassend wird man sagen können, dass der Aspekt der religiösen Selbstbildung bei Gräb schon weitgehend in eine Konzeption überführt ist, die auf der einen Seite die Unhintergehbarkeit der individuellen religiösen Erfahrung aufnimmt, auf der anderen Seite aber auch der verfassten Kirche eine Rolle zuweist, die sie unter den Bedingungen der soziokulturellen Moderne ausüben kann. Religionstheoretisch stützt sich dieses Konzept auf Friedrich Schleiermacher, der in der 2. und 3. Rede über die Religion (1799) das Verhältnis von Religion und Bildung als ein Zusammenwirken beschreibt, das den Menschen als religiöses Wesen hervorbringt und darin entwickelt.

Auch Friedrich Schweitzer und Wolfgang Lück verweisen in ihrer Schrift »Religiöse Bildung Erwachsener«31 auf den grundlegenden Unterschied »zwischen gelebter Religion und kirchlicher oder theologischer Lehre«. Ausdrücklich stellen sie die »religiösen Fragen, die im Leben selbst aufbrechen« (Krankheit, Sterben Tod, Erfahrungen der Sinnlosigkeit, Probleme der ethischen Orientierung u. a.) an den Anfang ihrer Überlegungen und schlussfolgern: »Den Ausgangspunkt entsprechender Angebote in der Erwachsenenbildung können […] nur die Erwachsenen selbst darstellen, nicht hingegen eine vorgegebene (Religions-)Theorie oder theologische Systematik.«32 Ein wichtiger Beitrag ihrer Untersuchung besteht darin, die notwendige Unterscheidung zwischen religiöser Bildung Erwachsener (zielt auf religiöse Mündigkeit und kann auch in einem nichtkirchlichen Kontext stattfinden), kirchlicher Erwachsenenbildung (der Bezug zur Kirche ist von vornherein gegeben und setzt Akzente) und theologischer Bildung (trägt immer auch die Gefahr einer theologischen Verengung in sich) deutlich herausgearbeitet zu haben.33

Hans-Jürgen Fraas hat mit »Bildung und Menschenbild in theologischer Perspektive«34 ein Konzept vorgelegt, dass weder die kirchliche Erwachsenenbildung im Allgemeinen noch die religiöse Selbstbildung im Besonderen im Blick hat. Wenn es an dieser Stelle dennoch kurz vorgestellt werden soll, dann nicht zuletzt deshalb, weil es für die vorliegende Untersuchung an zentralen Stellen zum contrapunktischen Impuls geworden ist.

Fraas setzt fundamental-anthropologisch ein, indem er die »Veränderbarkeit des Menschen als Voraussetzung von Bildung benennt«35 und folgert weiter, dass Glauben (Fraas spricht hier vom »Lebensglauben«, der noch ohne Bezug auf einen spezifischen religiösen Inhalt auskommt) und Lernen dem gleichen Erfahrungszusammenhang entspringen: dem »Sich-Gegebenseins in Beziehungen« und dem »Sich-Einlassen auf Neues«.36 Von daher ist ein Aufeinanderbezogensein beider Dimensionen wahrscheinlich, aber faktisch erst dann gegeben, »wenn nachgewiesen werden kann, inwiefern die eine Dimension (Pädagogik – Theologie) zwangsläufig aus der anderen hervorgeht«.37

Soll damit zum Ausdruck gebracht werden, dass Religion und Bildung als im Menschen wirkende Dimensionen gleichsam auf Augenhöhe interagieren, dann wird dieser Anspruch im Folgenden nicht eingelöst. Vielmehr geht Fraas von der Annahme aus, dass alle Bildung sich übernimmt, wenn sie einseitig, d. h. ohne spezifisch christliche Bezugnahme agiert. Wo dies geschieht, äußert sich auf der Kehrseite menschlicher Existenz jene »theologische Fragestellung […] die sich im Symbol der Sünde manifestiert«.38 »Das christliche Verständnis von Erziehung und Bildung kennt die Macht des Bösen«, und ohne dieses Verständnis bewegt sich menschliche Existenz in der Entfremdung gegenüber sich selbst, gegenüber der Gesellschaft und gegenüber Gott. Trägt so der Mensch die Erfüllung seines Wesens nicht in sich, dann heißt das: »Identität ist nicht machbar, sondern verdankt sich. Bildung zur Vollkommenheit der Persönlichkeit, zur Identität ist nach christlichem Selbstverständnis angewiesen auf ein Geschehen am Menschen von außen.« Sie ist »durch das ›extra nos‹ bedingt«. Die Frage des christlichen Menschenbildes wird so zur »Gesprächsmöglichkeit zwischen Theologie und Pädagogik«. Alles in allem liegt hier das Konzept einer christlich begründeten Bildung vor, das mit seiner Betonung der Rolle des Menschen als Objekt, d. h. als Empfänger einer Zuwendung »extra nos«, vor allem hinter Luthers Ansatz zurückfällt.

Der Titel von Bernhard Dresslers Schrift »Unterscheidungen – Religion und Bildung«39 ist gewissermaßen Programm. Wenn Dressler feststellt: »Wie religiös auch immer Bildungshandeln sein mag, Bildung bleibt menschliches Werk«40 und »Die Behauptung, dass Bildung immer schon eine religiöse Dimension enthalte, gründet […] auf einer theologischen Interpretation der in Bildungsprozesse eingetragenen bzw. einzutragenden Unbedingtheitsansprüche.«41, dann ist daraus der Schluss zu ziehen: Das Bildungshandeln außerhalb kirchlicher Kontexte ist bildungstheoretisch aus sich selbst heraus zu begründen und erst von dieser Eigenlogik her kann die Frage nach mutmaßlichen religiösen Implikationen säkularer Bildung gestellt werden.

Die Wendung »Gebildete Religion: Deutung des Lebens«42 macht deutlich, dass auch Dressler seine Theorie religiöser Bildung an zentraler Stelle – z. B. beim Reflektionsbegriff der Selbstbildung – an Schleiermacher und dessen Subjektivitätsverständnis rückbindet. Seine Kernaussage lautet: »Religiöse Bildung hat das Proprium pädagogischen Handelns – Bildsamkeit und Aufforderung zur Selbsttätigkeit – auf das Proprium religiöser Praxis zu beziehen: Auf den ›Sinn und Geschmack für’s Unendliche‹ und das damit verbundene ›Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit‹, christlich-religiös im Blick auf den Vermittlungszusammenhang zwischen Gott als dem Schöpfer, Christus als dem Mensch (sic!) in die Schöpfung eingegangenen Gott und dem die Schöpfung mit ihrem Schöpfer wieder verbindenden Heiligen Geist.«

Zwei neuere Konzepte zur kirchlichen Erwachsenenbildung haben Thomas Bornhäuser (»Gott für Erwachsene. Ein Konzept kirchlicher Erwachsenenbildung im Zeichen postmoderner Vielfalt«43) und Alex Kurz (»Zeitgemäß Kirche denken. Analysen und Reflektionen zu einer postmodernen kirchlichen Erwachsenenbildung«44) vorgelegt. Bei gleicher Ausgangslage kommen beide zu verschiedenen Lösungsansätzen, die innerhalb des Diskurses durch ihre Originalität auffallen.

Bornhäuser entfaltet in seiner Untersuchung das aus der Physik stammende Komplementaritätsprinzip, das die Entweder-Oder-Logik zwischen gegensätzlichen Modellen überwinden helfen soll: »Mit Hilfe des Komplementaritätsprinzips soll ermöglicht werden, die Vielfalt von Vorstellungen und Meinungen, die Teilnehmende in Veranstaltungen mitbringen, vorbehaltlos ernstzunehmen, auch wenn diese Ansichten gegensätzlich und unvereinbar erscheinen«. In einem zweiten Schritt soll im Bildungsprozess aufgrund des »Kriteriums ›Leben‹ (oder äquivalenter Begriffe) […] gelernt werden, wie in einer konkreten existentiellen Situation aus der Vielfalt von Möglichkeiten die der Situation angemessene ausgewählt wird.«.45

Kurz schlägt gewissermaßen den umgekehrten Verfahrensweg ein: »Der strukturalistische Denkansatz […] versucht, ganz auf der Ebene der bloßen Strukturen zu bleiben und insbesondere das Verhältnis von Sprache, Denken und Wirklichkeit zu erforschen. Dadurch gewinnt er ein charakteristisches Sprach- und Wirklichkeitsverständnis, das einen neuen Zugang zur klassischphilosophischen Fragestellung eröffnet«.46 Ziel dieses Verfahrens ist es, »die strukturelle und historische Vielstimmigkeit des christlichen Glaubens aufzuarbeiten«47 und so über eine »kontroverse Auseinandersetzung in dialogischer Offenheit […] eigene Glaubensüberzeugungen in Frage zu stellen, Glaube als unabgeschlossenen, fortschreitenden Prozess zu verstehen und eigene Gottesbilder nicht zu sakralisieren«.48

Interessant ist, dass Bornhäuser wie Kurz mit demselben erkenntnistheoretischen Instrument des Konstruktivismus arbeiten und damit dem Aspekt der Selbstbildung Rechnung tragen. Bei Kurz dient er der »Aneignung theologischer Wahrheiten durch Dekonstruktion und Rekonstruktion«.49 Bornhäuser sieht in der konstruktivistischen Erwachsenenbildung eine Möglichkeit, dass Lerngruppen im Kontext komplementärer Erwachsenenbildung zu »koevolutiven Leistungen« angeregt werden.50

Als Vertreter der katholischen Erwachsenenbildung definiert Rudolf Englert (»Religiöse Erwachsenenbildung. Situation – Probleme – Handlungsorientierung«51) […] religiöse Erwachsenenbildung als »jenen Teilbereich kirchlicher Erwachsenenbildung, in dem es um die Bearbeitung grundlegender Lebens- und Sinnfragen im Horizont religiöser Traditionen geht«52

Englert legt ein Konzept vor, nach dem es in kirchlich verantworteten Bildungsprozessen sowohl um die »Ermöglichung von Pluriformität« wie um das »Verhindern von Beliebigkeit« gehen muss.53 Bei aller Ausführlichkeit und Tiefe des Ansatzes, der mitunter überladen wirkt, ist dieses Konzept jedoch nicht wegweisend für das hier zu entfaltende Prinzip der religiösen Selbstbildung. Der Grund dafür liegt darin, dass Englert die Ermöglichung von Pluriformität und das Verhindern von Beliebigkeit weniger auf der konzeptionellen Ebene, sondern eher auf der Ebene der organisatorischen Gesamtausrichtung von Erwachsenenbildung in kirchlich (-kath.) Trägerschaft sichergestellt sehen möchte. Sehr optimistisch erscheint dabei die Vorstellung, »auf strategischer Ebene […] einen für alle Formen religiöser Erwachsenenbildung in christlich-kirchlicher Verantwortung verbindlichen Orientierungsrahmen abzustecken«54, in dem sowohl Pluralität strategisch zu sichern als auch das »normative Minimum« näher zu konkretisieren wäre.55

Zuletzt sei noch der Blick auf die Schrift »Religion und Bildung. Zur ästhetischen Signatur religiöser Bildungsprozesse«56 von Joachim Kunstmann gelenkt. Kunstmann beschreibt das Verhältnis von Religion und Bildung unter modernen Bedingungen als »strukturähnlich« und kommt zu der Feststellung: »Sie antworten parallel auf die gefühlte Herausforderung der Existenz mit den Bildern der höchsten Möglichkeiten des Lebens.«57 Für den damit in die religions- und bildungstheoretische Diskussion eingebrachten Begriff der Ästhetik beruft sich Kunstmann auf Schleiermacher.

Kunstmanns Theorie der ästhetischen Signatur religiöser Bildung ist originell und provokativ (vor allem in ihrer scharf geführten Auseinandersetzung mit Karl Ernst Nipkow). Sie nimmt zahlreiche der vorgenannten Aspekte auf und spitzt sie zu. Der formulierte »Zielhorizont religiöser Kompetenz«58 ist vergleichsweise konservativ: Es geht um die Erlangung »religiöser Ausdruckskompetenz«59, um die »Befähigung zur Deutung des eigenen Lebens und zu einer entsprechenden Orientierung des eigenen Lebenslaufs«60 und die Gewinnung einer »religiösen Identität«61, die orientierungsfähig ist und bleibt auch in den Krisen des Lebens.

1.3 Untersuchungsgang

Im Anschluss an diese Einleitung (Kap. 1) setzt sich die vorliegende Untersuchung mit einem Konzept auseinander, das »Religion, Identität und Bildung am Vorabend der Aufklärung« (Kap. 2) ins Verhältnis setzt. Auch wenn Johann Amos Comenius als Theologe keinen langen Schatten geworfen hat, so kann doch seine Bedeutung als Begründer der modernen Pädagogik nicht hoch genug eingeschätzt werden. Darum ist dieses Kapitel auch nicht als bloße historische Reminiszenz an ein voraufklärerisches Konzept zu verstehen, das seine Faszination vor allem von seiner intellektuellen Ästhetik her bezieht. Vielmehr soll aufgezeigt werden, dass Comenius mit der »Instandsetzung des Menschen« ein Identitätskonzept vorgelegt hat, das den Blick für jene grundlegenden Fragen öffnet, die auch eine neuzeitliche Bildung und christliche Religion beantworten muss, wenn sie sich dem mündigen Menschen zuwendet.

Kann das Kapitel über Comenius als historische Grundlegung der Untersuchung angesehen werden, so nehmen die folgenden drei Kapitel nacheinander die Kategorien Identität, Bildung und Religion unter Fragestellungen in den Blick, denen ein neuzeitlicher Kontext zugrundeliegt.

Den Einstieg der Untersuchung zur »Identität als Kategorie der Neuzeit« (Kap. 3) bildet die grundsätzliche Frage, wie sich der Identitätsbegriff im Kontext der modernen Lebenswelt theoretisch bestimmen lässt. Im Zentrum dieses Kapitels steht dabei die Theorie des Symbolischen Interaktionismus. Ihr Erklärungsrahmen soll eingehend vorgestellt und nach der Funktion der Religion für die Bildung sozialer und personaler Identität befragt werden (3.2). Ausgehend von Thomas Luckmanns phänomenologisch-funktionalem Religionsbegriff und der hieraus hervorgegangenen »Privatisierungsthese« wird eine erste religionstheoretische Annäherung an das Prinzip einer religiösen Selbstbildung vorgenommen (3.3). Schließlich widmet sich der letzte Untersuchungsgang dieses Kapitels zum einen dem Identitätsbezug in der gegenwärtigen Erwachsenenbildung, zum anderen versucht er in einem Querschnitt die Wiederentdeckung des religiösen Subjekts im Kontext gegenwärtiger theologischer Anthropologie aufzuzeigen. Ziel dieses Abschnittes ist es, ausgehend vom neuzeitlichen Identitätsbegriff in einem ersten Zugang auf Erwachsenenbildung und Theologie deren mögliche Beiträge für eine religiöse Selbstbildung auszuloten (3.4).

Mit der Definition von »Bildung als Schlüsselkategorie menschlicher Selbstwerdung« (Kap. 4) ist ein breiter Untersuchungsrahmen aufgezogen. Im Kern geht es dabei um die Frage, welche Bildungstheorie die Behauptung einer Selbstbildung stützt. Zugleich soll auch das Verhältnis zwischen allgemeiner Bildung und Religion aus bildungstheoretischer Perspektive in den Blick genommen werden. Dieser doppelten Zielsetzung wird unter vier Gesichtspunkten nachgegangen.

Den Einstieg bildet die anthropologische Grundlegung von Bildung, wie sie in den klassischen Bildungstheorien vorgenommen ist. Wilhelm von Humboldts Leitgedanke vom Hervorbringen der Eigentümlichkeit durch das Individuum und Wolfgang Klafkis Feststellung, dass individuelle Bildung im Kontext sozialer Vermitteltheit gleichwohl nur für sich allein erworben wird, bilden die beiden inhaltlichen Brennpunkte dieses ersten Untersuchungsabschnittes (4.2). Im Anschluss daran soll der Frage nachgegangen werden, ob sich die um die Mündigkeit des Menschen bemühten neuzeitlichen Bildungstheorien einen Zugang offen gehalten haben zu dessen religiöser Disposition. Hier kommt vor allem Dietrich Benners bildungstheoretischer Ansatz in den Blick, der Religion und Bildung als »Teilpraxen menschlicher Gesamtpraxis« aufeinander bezieht und ihnen ein »verbundenes Handeln« zuspricht (4.3). Ein wohl kürzerer, aber eigenständiger dritter Teilabschnitt widmet sich der Frage, welcher Art pädagogische Handlungsformen sein müssen, die im Kontext von organisierten Bildungsprozessen Selbstbildung ermöglichen. Die Aufmerksamkeit richtet sich hier auf Friedrich Schleiermachers frühen Versuch, die Prinzipien der sog. »nicht-affirmativen Pädagogik« in eine bildungstheoretische Reflexion zu überführen, in der Grundzüge einer Selbstbildung schon zum Tragen kommen (4. 3. 2 3). Unter der Fragestellung: Wie lässt sich Bildung vom Lernenden her im Sinne einer »Ermöglichungsdidaktik« inszenieren? (4.4) wird abschließend die Brücke zu neueren Bildungskonzepten geschlagen, die das Anliegen einer Selbstbildung aus der Perspektive der neueren humanistischen Bildung (Carl R. Rogers), der Lernpsychologie (Klaus Holzkamp) und des pädagogischen Konstruktivismus (Rolf Arnold) aufnehmen.

Was schließlich aus religionstheoretischer Sicht religiöse Selbstbildung konstituiert und legitimiert, ist Gegenstand der Überlegungen in Kap. 5 (»Religion im Kontext pluraler Sinnwelten«). Den Einstieg dazu bildet die Auseinandersetzung mit dem von Jürgen Habermas in die religionssoziologische Diskussion eingeführten Theorem des »Post-Säkularismus« (5.1). Zu klären ist, ob dieser Begriff wirklich in der Lage ist, das gegenwärtige Verhältnis zwischen Religion und Gesellschaft angemessen zu beschreiben. Im Anschluss daran versucht der Untersuchungsgang die religionssoziologische Fragestellung in eine religions-hermeneutische zu überführen, indem der individuellen Realisierung von »Religion als Deutung des Lebens« (Wilhelm Gräb) im Kontext der Lebenswelt des Einzelnen nachgegangen wird. Die unter Hinzuziehung von drei jüngeren empirischen Untersuchungen zum Verhältnis von individueller Religion und Kirchenbindung (5.3) gewonnenen Antworten bilden schließlich den Ausgangspunkt, um vom religiösen Menschen her die Grundzüge einer bildungsoffenen Religionstheorie zu skizzieren (5.4). Der Weg dahin führt über drei Fragen: Was bedeutet es, von Religion zu sprechen 1. als dem, »was unbedingt angeht« (Paul Tillich), 2. als sinnstiftender Deutung von Erfahrung und 3. als doppelt gestuftem kommunikativen Tatbestand? Eine solchermaßen vom religiösen Subjekt her begründete Religionstheorie ist schließlich daraufhin zu befragen, wie sie sich zu der Lehre und Überlieferung der verfassten Religion in Gestalt der Kirche verhält. Eine Frage, die schon in den praktischen Teil der Untersuchung verweist

Ihren religionstheoretischen Abschluss findet die vorliegende Untersuchung in Kap. 6 (»Religion und Bildung als Konstitutiva neuzeitlicher Identität«), in dem die Grundzüge der zuvor skizzierten bildungsoffenen Religionstheorie daraufhin befragt werden, ob diese sich auf ein überzeugendes Konzept religiöser Selbstbildung aus der jüngeren Theologiegeschichte stützen können.

In Friedrich Schleiermachers Schrift »Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern« (1799) sieht die vorliegende Untersuchung dieses Konzept gegeben. Sie wird deutlich zu machen versuchen, dass Schleiermacher darin religions-, bildungs- und erkenntnistheoretische Aspekte in einer Weise zusammenführt, die nach wie vor grundlegend ist und Impulse zu geben vermag für eine religiöse Selbstbildung unter den Bedingungen der modernen Lebenswelt. Der Untersuchungsgang wird dazu eine religionstheoretische Brücke schlagen von den in Kapitel 5 grundgelegten Aspekten einer bildungsoffenen Religionstheorie zu den einzelnen Reden. Dies soll in der Weise geschehen, dass der Aspekt von Religion als dem »was unbedingt angeht« (5. 4. 1) in der zweiten Rede (»Über das Wesen der Religion«), von Religion als sinnstiftender Deutung von Erfahrung (5. 4. 2) in der dritten Rede (»Über die Bildung zur Religion«) und von Religion als doppelt gestuftem kommunikativen Tatbestand (5. 4. 3) in der vierten Rede (»Über das Gesellige in der Religion, oder über Kirche und Priestertum«) aufgenommen und von Schleiermacher her reflektiert wird.

Der in Kap. 7 vorgenommene »Theoretisch-praktische Transfer« zieht das Resümee über den zurückgelegten Weg innerhalb des religionstheoretischen Teils der Untersuchung. Er leitet damit zur Darstellung der Praxis religiöser Selbstbildung über.

Das abschließende Kapitel »Religiöse Selbstbildung und ihre Praxis« (Kap. 8) setzt sich mit der Frage auseinander, wie das Konzept einer religiösen Selbstbildung in der Praxis der kirchlichen Erwachsenenbildung praktisch Gestalt annehmen kann. Dazu werden drei Projekte exemplarisch vorgestellt und daraufhin befragt, ob und in welcher Weise in ihnen die gewonnenen Erkenntnisse für die Praxis einer religiösen Selbstbildung angemessen umgesetzt werden. Es ist dies einmal der »Evangelische(r) Theologiekurs: Zwischen Himmel und Erde«, dessen 6. Arbeitseinheit (»Warum gerade ich? – Zum Umgang mit dem Leid«) vorgestellt wird. Das zweite Projekt ist der »Ökumenische(r) Stadtpilgerweg Hildesheim«, der Menschen, indem er sie auf eine ganzheitliche Art in Bewegung bringt, zu einer religiösen Selbstreflexion einlädt und animiert. Unter der Fragestellung, inwieweit kirchliche Erwachsenenbildung im Kontext der Kirchengemeinde überhaupt geleistet werden kann, wird abschließend das vierteilige Gemeindeseminar »Mein Gottesbild – eine offene Frage« vorgestellt. Dieser Abschnitt (8.3) stellt gegenüber der Dissertatation eine Erweiterung dar.

2. Religion, Identität und Bildung am Vorabend der Aufklärung

2.1 Johann Amos Comenius – Identitätsbildung als Instandsetzung des Menschen

Eine Verhältnisbestimmung von Religion, Identität und Bildung unter den Bedingungen der Gegenwart ausgerechnet bei Johann Amos Comenius ihren Ausgang nehmen zu lassen, ist riskant. Zu tief scheint der historische Graben, der sich hier auftut, zu marginal die Bedeutung, die man Comenius von Seiten der Theologie zuspricht.

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