Eva Terhorst

Das erste Trauerjahr

Was kommt, was hilft, worauf Sie setzen können

KREUZ

Impressum

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015

Alle Rechte vorbehalten

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Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal

Umschlagfoto: © shutterstock

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing service GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book): 978-3-451-80628-5

ISBN (Buch): 978-3-451-60949-7

Inhalt

Einleitung

Kapitel 1: Nichts ist wie zuvor

Was geschah und was ist: Bestandsaufnahme

Was geht in uns vor?

Warum ist Trauer in unserer Gesellschaft kein natürliches Gefühl?

Affirmation

Kapitel 2: Die persönlichen Umstände der Trauer

Annehmen, was ist – annehmen, wie wir uns fühlen

Wie sind die Lebensumstände?

Affirmation

Kapitel 3: Wie ist der Alltag zu schaffen?

Wir schieben einen riesigen Berg vor uns her

Die Konfrontation mit Formalien und Gesetzen

Dem Chaos Struktur bieten

Wie geht es nach der Beerdigung weiter?

Die ersten Gehversuche

Affirmation

Kapitel 4: Selbstvorwürfe, Liebe und Streit

Schuld und Scham

Wut und Trauer

Doch die Liebe bleibt

Streit und Unmut in der Familie

Affirmation

Kapitel 5: Schlaflosigkeit, Konzentrationsschwäche und Gedächtnislücken77

Wenn Sie nicht gut schlafen können

Affirmation »Gedankenstopp«

Traumreise »Erholsamer Schlaf«

Wenn Sie sich nicht konzentrieren können

Wenn Sie vergesslich sind

Traumreise »Innere Ordnung«

Affirmation

Kapitel 6: Krankheit und Erschöpfung

Reaktive Depression / Anpassungsstörung

Was wir mit unserer Ernährung bewirken können

Erschöpfung

Bewegung in der Trauer

Schreiben zum Ordnen der Gedanken, Gefühle und Tage

Äußerlich anwendbare Hilfen

Traumreise »Du hast getan, was dir möglich war«

Affirmation

Kapitel 7: Die Sehnsucht nimmt überhand

Resilienz aufbauen

Trauerarbeit und ein Achtsamkeitstagebuch führen

Einen inneren Ort finden

Traumreise »Begegnung im Park«

Liebe in der Trauerzeit, wenn der Partner gestorben ist

Wenn die Trauer stockt

Affirmation

Kapitel 8: Trauerbegleitung und Psychotherapie

Angebote zur Begleitung von Trauernden

Suizidgedanken

Wie Sie für eine hilfreiche Trauerbegleitung für sich sorgen können

Affirmation

Kapitel 9: Der Todestag jährt sich zum ersten Mal

Der erste Todestag naht

Wie der erste Todestag begangen werden kann

Was sich noch bemerkbar macht

Trauerphasen

Affirmation

Kapitel 10: Wie geht es weiter?

Kreativität nutzen

Anderen helfen

Sich selbst neu definieren

Traumreise »Die Trauer tritt nun einen kleinen Schritt zurück«

Affirmation

Hinweis

Anmerkungen

Einleitung

Stirbt ein geliebter Mensch, trifft dies nahe Hinterbliebene mit unvorstellbarer Wucht. Das erste Trauerjahr ist für sie eine unendlich schmerzhafte Zeit. Mit diesem Buch möchte ich Betroffenen dabei helfen, das erste Trauerjahr zu verstehen und zu überstehen. Geduldig und einfühlsam mit sich selbst und dem überforderten Umfeld sein zu können und zu erfahren, dass das, was sie gerade durchmachen, viele erleben. Nichts wird den geliebten Menschen zurückbringen. Die Lücke wird immer klaffen, aber es gibt Erklärungen, die ein Verständnis für die eigene Situation und das eigene Handeln vermitteln. Kleine Schritte können dazu beitragen, wieder etwas mehr Boden unter die Füße zu bekommen; deshalb biete ich einen Wegweiser für die ersten zwölf Monate an.

Für Betroffene: Es ist Ihr erstes Trauerjahr, wahrscheinlich das erste Mal, dass Sie eine Ihnen sehr nahe stehende, geliebte Person verlieren. Sie suchen nach Orientierung und möchten wissen, was auf Sie zukommt und wie Sie damit umgehen können. Ich führe Sie durch die wichtigsten Stationen und Aspekte, in denen Sie sich bereits befinden, die auf Sie zukommen und die Sie beeinflussen können. Der sichere, bekannte Boden, auf dem Sie bisher gewandelt sind, fühlt sich plötzlich wackelig an und es ist nicht klar, wohin Sie Ihr Weg in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten führen wird. Oft mögen Sie den Eindruck haben, dass sich nichts bewegt und alles stillsteht. Beim Lesen dieses Buches können Sie sich selbst in dieser Ausnahmesituation besser verstehen lernen und begreifen, was für eine ungeheure Leistung Sie vollbringen. Diese Erkenntnis soll dazu beitragen, dass Sie sich nicht selbst unter Druck setzen, diesen Schicksalsschlag so schnell wie möglich zu verdauen, sondern Ihre Gestaltungsmöglichkeiten wahrnehmen und Geduld mit sich haben. Auch die Sorgen, Reaktionen und die Hilflosigkeit Ihres Umfeldes über die Länge und die Art Ihrer Trauer soll Sie durch dieses Wissen nicht mehr so leicht verunsichern.

Für Angehörige und Freunde: Vielleicht trauert jemand in Ihrem Umfeld und Sie merken, Sie kennen sich nicht genügend aus und möchten helfen, wissen aber nicht, wie. Sie möchten dieses Buch der trauernden Person schenken. Ich schlage vor, Sie lesen das Buch auch selbst. Denn auch Ihnen wird es helfen, besser zu verstehen, was in jemandem, der trauert, vor sich geht. So können Sie besser einschätzen, wann Ihre Unterstützung auf welche Art benötigt wird und wann Sie sich besser zurückhalten, ohne sich zurückzuziehen. Wenn Sie sich sicherer mit dem Thema Trauer fühlen, wirkt das auch positiv auf die trauernde Person, die Sie begleiten möchten.

Trauer ist nicht gleich Trauer, denn viele Faktoren bestimmen die Art und Länge unseres individuellen Trauerweges. Die wichtigsten dieser Einflüsse werde ich in diesem Buch beleuchten, damit Trauernde besser verstehen, was sie bewegt und was sie durchleben. Wenn ein geliebter Mensch von uns geht, ist diese Erfahrung für uns oft das erste Mal und nicht zu vergleichen mit früheren Verlusten. Wir können also kaum selbst wissen, was wir brauchen, denn wir kennen uns damit noch gar nicht aus. Gefragt von besorgten Freunden und Verwandten, ist es uns meistens selbst auch nicht möglich zu formulieren, was benötigt wird, denn wir wissen es einfach (noch) nicht.

Sehr schwer trifft es Menschen, wenn sie den Partner oder das eigene Kind verlieren. Die Todesumstände sind ebenfalls ausschlaggebend dafür, wie intensiv die Trauer Zugriff auf unsere Gefühle hat. War der Tod durch eine tödliche Krankheit oder fortgeschrittenes Alter absehbar oder ist er plötzlich eingetreten? Konnten wir uns verabschieden oder waren noch Unstimmigkeiten zu klären? Hatte der Verstorbene ein erfülltes Leben oder ist er viel zu früh gestorben? Besonders schwer zu verarbeiten sind die Todesursachen Suizid und Mord.

Manchmal stirbt absehbar und vorbereitet ein geliebter Mensch nach einem langen erfüllten Leben und dennoch trifft uns dieser Tod mit einer Stärke, die wir uns nicht hätten vorstellen können. Wir hangeln uns von Tag zu Tag, oftmals von hilflosen Freunden und Kollegen umgeben, die gerne wüssten, wie sie uns helfen und unterstützen können. Doch wir kennen uns im Auge des Gefühlstornados auch selbst überhaupt nicht aus und sind jämmerlich überfordert.

Irgendwie muss das Leben aber weitergehen und wir quälen uns von einer Trauerinsel zur nächsten. Manchmal scheinen die Löcher so tief, dass es den Anschein erweckt, dass wir sie nie wieder verlassen können, selbst wenn wir wollten. Das Umfeld entfremdet sich und der Abstand zur »normalen« Welt wird immer größer. Ungeduld und Missverständnisse treffen aufeinander und gerade in der Zeit, in der man Freunde und Verwandte am nötigsten braucht, entstehen im Kontakt zu ihnen unüberwindbare Hürden, die man einfach nicht begreifen kann. Die Folge davon ist, dass wir uns immer mehr zurückziehen und darunter leiden.

Solches begegnet uns im ersten Trauerjahr immer wieder. Durch Verstehen dessen, was vorgeht, können wir uns darauf einstellen, damit umgehen und uns einen Weg durch dieses schwere Jahr bahnen.

Kapitel 1:
Nichts ist wie zuvor

Ein nahestehender geliebter Mensch ist gestorben und nichts ist mehr, wie es war. Anfangs unter Schock, später mit der Erkenntnis, dass der geliebte Mensch niemals wiederkehren wird, sehen Sie sich vom Schicksal gezwungen, sich neu auszurichten. Etwas, das Sie unter keinen Umständen wollen und in den ersten Wochen und Monaten auch nicht können. Denn ohne den geliebten Menschen zu leben ist undenkbar.

Die folgende Bestandsaufnahme Ihrer Situation ist wichtig, damit Sie sich klar werden können, wo Sie stehen. »Bestandsaufnahme« mag für Sie als Betroffener merkwürdig klingen. Sie mögen sich fragen, ob Sie dieses Geschehen überhaupt so betrachten können oder wollen. Ich möchte Sie einladen, es zu versuchen. Denn so können Sie leichter herausfinden, was Sie brauchen und was Ihnen guttut. Ich helfe Ihnen dabei.

Was geschah und was ist: Bestandsaufnahme

Wer ist gestorben?

Es wird oft angeregt, Trauerfälle nicht zu vergleichen, denn was für den einen kaum zu bewältigen scheint, kann jemand anderem vergleichsweise weniger schwerfallen, ins Leben zu integrieren. Es ist aber in jedem Fall ein großer Unterschied, ob es sich bei dem Verstorbenen um einen Menschen handelt, mit dem wir zusammenleben, den wir täglich sehen, und ob wir mit ihm verwandt sind. In meiner Praxis konnte ich feststellen, dass der Tod des Partners und der Verlust eines Kindes die am tiefsten einschneidende Auswirkung auf unser Leben hat. Das liegt nahe, denn mit diesen Menschen lebten wir in einem Haushalt, haben unsere Geheimnisse und Wünsche geteilt, wir haben uns für deren Wohlergehen verantwortlich gefühlt und sie haben wesentlich, mit ihrem besonderen Wesen, dazu beigetragen, dass wir das Miteinander in vollen Zügen genießen konnten. Das gilt auch für Eltern und Geschwister, mit denen man noch unter einem Dach lebt, für Freunde in Wohngemeinschaften, Mitbewohner aller Art. Auch der Tod von einem Partner, von dem man schon länger getrennt gelebt und mit dem man unter Umständen gemeinsame Kinder hat, kann einen Menschen in eine Trauersituation bringen, mit der weder er noch sein Umfeld gerechnet hat.

Für Menschen, die ohne Kinder und Partner leben, sind oft der Verlust von Eltern, Geschwistern und sogar Haustieren vergleichbar; sie sollen in ihrer Trauer ebenso ernst genommen werden. Ich wünsche mir, dass wir alle im Hinterkopf behalten, dass es für denjenigen, den wir in seiner Trauer vor uns haben, genau das ist, was es für ihn ist: ein schwerer, markerschütternder Verlust, egal was wir für Meinungen, Wahrnehmungen und Erfahrungen haben. Das ist nicht immer leicht. Der Trauernde selbst versteht seine Empfindungen, Vorgänge im Körper und seine Verhaltensweisen nicht und verurteilt sich dafür, dass er nicht wie gewohnt funktioniert und reagiert. Wenn der Trauernde sich selbst schon nicht versteht, wie soll dann das Umfeld dazu in der Lage sein?

Wie ist der Tod eingetreten?

Auch hier sind Unterscheidungen wichtig. Die Todesart und die Todesursache spielen bei der Verarbeitung des Verlustes ebenfalls eine nicht zu unterschätzende Rolle. War es eine lange und quälende Krankheit wie Krebs und spielt Erleichterung, dass der Verstorbene endlich von seinen Schmerzen und Ängsten erlöst ist, eine Rolle? Gleichzeitig ist die Erschöpfung durch die Pflege immens und womöglich gehen die eigenen Kräfte dem Ende zu. Und doch wollen wir diesen »Abschied für immer« um keinen Preis. Aber konnten wir uns verabschieden, dann ist das für die folgende Trauerzeit ein wichtiger Faktor. Bei tödlichen Krankheiten kann man sich auf ein Leben ohne den geliebten Menschen möglicherweise schon allmählich einstellen. Wobei ich persönlich der Meinung bin, dass wir uns nicht wirklich darauf vorbereiten können.

Tritt der Tod ohne Vorwarnung durch beispielsweise plötzliches Herzversagen oder einen Unfall ein, ist mit größeren Schwierigkeiten bei der Verarbeitung des Todes zu rechnen. Sich nicht verabschieden zu können und nicht beim Sterbeprozess dabeigewesen zu sein erschwert die Bedingungen. Um einen vielfachen Faktor höher sind die zu erwartenden Bewältigungsprobleme, wenn bei der Todesursache Gewalt im Spiel war. Eine weitere Schwierigkeitsstufe ist hier, wenn der Täter nicht gefasst wird, ohne Strafe oder mit einer verhältnismäßig geringen Bestrafung davonkommt. Als kaum zu bewältigen gilt, wenn die Leiche nie gefunden wird. Ein Problem, das durch die gefallenen und nie gefundenen Soldaten in der Geschichte durch die beiden Weltkriege eine große Rolle spielt. Wir können uns normalerweise überhaupt nicht vorstellen, dass jemand unserer Angehörigen stirbt. Allenfalls ein natürlicher Tod durch Alter oder Unfälle ist denkbar. Mord und Totschlag bekommen wir zwar täglich durch die Medien mit, aber dass wir einmal selbst davon betroffen sein könnten, liegt jenseits unserer Vorstellungskraft. Dennoch passiert es immer wieder auch in unserer näheren Umgebung.

Unterschiedlich schwer sind auch Unfall und Suizid zu verarbeiten. Schuld und Schuldgefühle kommen hier oft dazu und führen zu erschwertem Trauerverlauf. Auf das Thema Schuld gehe ich näher in Kapitel 4: »Selbstvorwürfe, Liebe und Streit« ein.

Wer bleibt zurück?

Auch hier trägt es zum besseren Verständnis bei, zu sehen, wie Sie selbst, die trauernde Person, aufgestellt sind. In welchem Lebensabschnitt tritt der Schicksalsschlag auf? Sind Sie weiblich oder männlich? Haben Sie einen Arbeitsplatz oder sind Sie arbeitslos? Wie standen Sie zum Verstorbenen und wer ist noch betroffen? Haben Sie Kinder? In welchem Alter sind diese? Wie können Sie für die Kinder da sein, ohne Sie mit der eigenen Trauer allzu sehr zu belasten? Wie belastbar sind Sie selbst in Krisensituationen? Gibt es Eltern, um die es sich zu kümmern gilt, oder bleibt sogar ein Elternteil alleine zurück, wenn der Vater oder die Mutter gestorben ist? Wer kümmert sich jetzt um die Versorgung?

Ist ein Kind gestorben, so bleiben auch die Kindergartengruppe, die Schulklasse, Freunde und Bekannte zurück, die wahrscheinlich zum ersten Mal in ihrem Leben damit konfrontiert sind, dass das Leben sehr plötzlich und in jungen Jahren zu Ende sein kann. Wenn Sie es schaffen, diese Menschen irgendwie in die Trauer und den Verlust mit einzubeziehen, erschaffen Sie damit ein Netzwerk, das alle trägt, auch wenn es manchmal nicht auf den ersten Blick sichtbar ist. Hier ein Beispiel:

Eine Familie, deren Tochter mit 14 Jahren auf dem Weg zur Schule durch einen Autounfall starb, spendete die Organe ihrer Tochter, weil sie sich sicher waren, sie hätte es so gewollt. Der kleine Trost: der Tod der Tochter konnte anderen helfen zu leben und ein Teil von ihr würde ebenfalls weiterleben. Die Tochter wurde aufgebahrt und alle Familienangehörige, Freunde, Klassen- und Vereinskameraden sowie die Lehrer und Trainer konnten sich verabschieden. In der Aufbahrungshalle waren Fotos aufgehängt und Erinnerungen ausgelegt. Farben und Zettel waren bereitgestellt, so konnte der Sarg bemalt und es konnten Abschiedsbriefe geschrieben werden. Die Lieblingsmusik tönte aus einem CD-Player. Ich habe nie eine lebendigere und verbundenere Abschiedszeremonie erlebt und während ich dies schreibe, kommen mir wieder die Tränen vor Rührung und Dankbarkeit für diese mutige und ungewöhnliche Abschiedszeremonie, die dem verstorbenen jungen Mädchen sehr entsprach. Anfangs stand die Bestürzung und Betroffenheit fühlbar im Vordergrund und nur wenige trauten sich in die Nähe des Sarges. Doch je mehr sich die Gäste trauten, die Farben zu benutzen, um den Sarg zu bemalen, begannen Gespräche, immer mehr trauten sich, sich am offenen Sarg zu verabschieden, nahmen sich gegenseitig fest und lange am Sarg ganz nah bei ihrer Freundin in den Arm und konnten sie sogar noch mal zum Abschied berühren. Bilder, die ich nie vergessen werde. Zur Beerdigung gab es dann eine große Feier, an der es ausschließlich die Lieblingsgerichte der Verstorbenen in großen Mengen gab. Es war eine großes Abschiedsfest. Ich hatte den Eindruck, alle waren da, und dieses gemeinsame tiefe Erlebnis verband alle mehr, als es sie verzweifeln ließ. Die Familie erlebte so ein »von der Gemeinschaft getragen werden«, wie es selten möglich ist.

Wie verlief das Leben bisher?

Wenn Sie in Ihrem bisherigen Leben noch keine gravierenden Schicksalsschläge hinnehmen und verarbeiten mussten, haben Sie noch nicht erlebt, dass Sie vieles nicht nur überleben, sondern Sie auch irgendwann wieder befreit lachen können. Menschen, die ohne Vorerfahrungen durch andere Krisen den Tod ihres geliebten Menschen zu bewältigen haben, stehen vor einer anderen Herausforderung als diejenigen, die bereits Verhaltensmuster für Krisenzeiten erlernt haben und wissen, dass es ein Danach geben wird.

Dennoch darf auch bei Menschen, die bereits Krisen gemeistert haben, nicht unterschätzt werden, dass jeder von uns auch Grenzen des Ertragbaren hat. Oft wissen die Betroffenen darum und nutzen eine Strategie durch Krisen zu gehen und eventuell sogar noch gestärkt daraus hervorzugehen, indem sie sich professionelle Hilfe suchen. Darauf gehe ich näher in Kapitel 8: »Trauerbegleitung und Psychotherapie« ein. Hier geht es mir darum, aufzuzeigen, wie unterschiedlich jeder einzelne Trauerfall sein kann. Daher kann es auch keinen Patentweg durch die Trauer geben, der für alle passt. Dies ist ein weiterer Grund, sich nicht selbst unter Druck zu setzen und sich auch nicht von anderen unter Druck setzen zu lassen, zeitnah wieder funktionieren zu müssen. Natürlich ist das Ihr Wunsch, möglichst schnell durch alles hindurchzugehen, denn die Trauerzeit ist kein Zuckerschlecken. Einen Großteil dieser Zeit leiden Sie auf eine für Sie bisher unbekannte Weise, mit einer Tiefe, die Sie bis dato noch nie erfahren haben. Sich darin zurechtzufinden benötigt Zeit und Geduld.

Wie wurde bisher mit Schwierigkeiten und Krisen umgegangen?

Für die weiteren Entscheidungen, die Sie zu treffen haben, ist es wichtig, dass Sie sich klar machen, wie Ihr bisheriger Umgang mit Krisen war. Manche Menschen fühlen sich schon bei leichten Schwierigkeiten hilflos, andere machen schon immer alles mit sich alleine aus. So vielfältig die Umstände und Verhaltensweisen sind, so zahlreich sind auch die Möglichkeiten, wie Sie mit Ihrer Trauer umgehen können. Je mehr Klarheit darüber herrscht, umso aktiver können Sie Ihren eigenen Trauerweg beschreiten. So kann nach und nach aus reinem Überleben und Aushalten langsam ein eigener Weg werden, aus dem Sie durchaus auch gestärkt und positiv verändert hervorgehen können. Auch wenn Sie sich das zu diesem Zeitpunkt in keiner Weise vorstellen können.

In meiner Praxis habe ich Klienten erlebt, die bis zum Tod ihres Partners immer der zurückhaltende, vorsichtige Teil waren, der sich eher umsorgen und beschützen ließ. Ich durfte bei einigen feststellen, wie sie in der Lage waren, Schritt für Schritt aus dieser Rolle hervorzutreten und nach und nach ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Das heißt nicht nur, dass die Trauer irgendwann weitergezogen ist und wir unser altes Leben wieder aufnehmen, sondern dass die Trauer uns verändert und dass tatsächlich auch im Positiven, weil wir Fähigkeiten an uns kennenlernen und einsetzen, von denen wir nicht wussten, dass wir sie haben. Aber auch hier spreche ich von Prozessen, die Zeit und Geduld brauchen.

Was geht in uns vor?

Was das Gehirn leistet

Obwohl wir uns ständig in der Veränderung und im Fluss befinden, fällt es uns schwer, Verhaltensweise und Lebensart zu verändern, selbst wenn unsere Lebensumstände positiv sind und wir es aus freiem Willen tun.

Wiederholungen von Handlungsweisen wie Zähneputzen, Essen, die Lieblingssendung im Fernsehen sehen, eben alles, was wir regelmäßig tun, hinterlässt in unserem Gehirn eine Spur. Je öfter diese Spur durch Wiederholungen betreten wird, umso tiefer ausgeprägt wird der Pfad. Das führt zu teilweise automatischen Abläufen, was dem Alltag zugute kommt, denn so schaufeln wir uns Kapazitäten für andere wichtige und komplexe Vorgänge im Gehirn frei.

Allerdings haben diese Automatismen auch Nachteile. Sie führen dazu, dass es verlockend leicht ist, diese Wege immer wieder zu gehen – teilweise sogar unbewusst. Je tiefer wir so eine Spur durch Regelmäßigkeit ausgetreten haben, umso schwieriger wird es, den Pfad zu verlassen, um neue Wege beziehungsweise neue Gewohnheiten zu etablieren.

Wenn ein geliebter Mensch gestorben ist, bricht es uns nicht nur das Herz, auch unser Gehirn ist komplett überfordert. In unserem Gehirn befindet sich eine Unzahl von Handlungsweisen, die ganz eng mit dieser Person verknüpft sind. Meistens solche, die wir selbst gewählt haben und lieben. Gerade beim Verlust des Partners oder eines Kindes sind diese Pfade genau das, was unser Sein bestimmt und bestätigt.

Mit einem Schlag sind diese Pfade nutzlos und jeder Versuch, sie zu gehen, ist unendlich schmerzhaft und führt in ein Nichts, das man getrost als schwarzes uferloses Loch bezeichnen kann. Das ist einer der Gründe, warum wir uns beim Verlust eines geliebten Menschen nahezu ständig fühlen, als seien wir im freien Fall. Ein Zustand der sehr unangenehm und bedrohlich auf uns wirkt.

Wir werden von einem auf den anderen Tag gezwungen, neue Pfade anzulegen, und das nicht nur hier und da, sondern für unseren gesamten bisherigen Alltag. Selbst für unser Arbeitsleben gilt das. Wir teilen uns unsere Arbeit so ein, dass wir gemeinsam den Tag beginnen, bevor jeder seiner täglichen Aufgabe nachgeht. Wir planen, rechtzeitig abends bei der Familie zu sein, wir schicken über den Tag verteilt kleine Nachrichten und nutzen die Mittagspause, um für das Lieblingsessen der geliebten Person einzukaufen. Unser ganzes Leben ist oft bis in den kleinsten Unterpfad unseres Gehirns vom Zusammenspiel mit dem Verstorbenen durchwoben und teilweise sogar fest verknotet.

Durch den Tod des geliebten Menschen können wir von einem auf den anderen Tag diese Pfade nicht mehr gehen. Jeder Versuch endet mit Hilflosigkeit, der Bewusstwerdung des Verlustes und nicht selten mit bitteren Tränen.

Wie oben beschrieben, fällt es uns schon unter guten Bedingungen sehr schwer, selbst gewählte Verhaltensweisen zu ändern, sie zu unterlassen oder neue Verhaltensweisen einzuführen. Ratgeber empfehlen deshalb, immer nur eine Verhaltensweise in Angriff zu nehmen und sich dafür je nach Vorhaben 21, 30, 60 oder 90 Tage Zeit zu nehmen. Beim Todesfall eines Menschen, mit dem wir den Alltag geteilt haben, geht es nun um unzählige Verhaltensweisen auf einmal, die wir unter keinen Umständen ändern wollen. Das überfordert uns maßlos, und das ständig für die nächsten Wochen und Monate. Es erfordert unendlich viel Geduld und Durchhaltevermögen. Verzweiflung und Erschöpfung sind vorprogrammiert. Es scheint wie ein Marathon, der nie enden will.

Der Prozess der Umprogrammierung, den wir nun ad hoc zu leisten haben, fordert unglaublich viel unserer Kapazität, die wir bisher zur Verfügung hatten, um die Anforderungen unseres Alltags zu bewältigen. Und dennoch wundern wir uns darüber, dass wir oft nicht mehr in der Lage sind, unseren Alltag wie bisher zu regeln. Dabei können wir froh und dankbar sein, wenn wir überhaupt noch etwas zustande bekommen, denn die Umgewöhnung verschluckt unsere Reserven wie ein Durstender in der Wüste ein Glas Wasser.

Zu den normalen täglichen Aufgaben kommen nun zudem neue und unfreiwillige Erledigungen, wie die Planung, Organisation und Durchführung der Beerdigung, Amtsgänge, Kündigungen von Konten, Mitgliedschaften, Abonnements, Verträgen, Testamente etc. hinzu. Die Liste scheint endlos. Jeden dieser Vorgänge wollen wir nicht umsetzen, denn mit jeder Erledigung wird der Tod unseres geliebten Menschen realer. Wir möchten einfach nicht, dass es wahr ist, dass der geliebte Mensch verstorben ist, und das ist auch sehr verständlich.

Während unser Gehirn auf Hochtouren läuft, um neue Pfade einzuschlagen und zu treten, sind wir also gezwungen, uns mit Dingen auseinanderzusetzen, die wir bis in die letzte Faser unseres Denkens, Fühlens und Wollens ablehnen. Jeder, der sich das vor Augen führt, wird erkennen, um was für eine große Anstrengung es sich hierbei handelt und dass Geduld und Verständnis von uns selbst und von unserem Umfeld im höchsten Maße geboten sind. Niemand kann und soll das in zwei bis sechs Wochen leisten, wie es oft erwartet wird. In Kapitel 5: »Schlaflosigkeit, Konzentrationsschwäche und Gedächtnislücken« gehe ich auf die möglichen Folgen dieser Überforderung näher ein.

Neue Pfade anzulegen hilft