Arno Gruen

Wider die kalte Vernunft

Klett-Cotta

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Impressum

Diese Publikation basiert auf dem Beitrag: »The Role of Empathy and Mother-Child Attachment in Human History and the Development of Consiousness. The Neanderthal’s Gestation«, in: Jahrbuch für Psychodynamische Forschung, Nr. 6, 2005. Dieser ins Deutsche übersetzte Beitrag wurde von Arno Gruen völlig überarbeitet und erheblich erweitert.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg

Datenkonvertierung: Eberl & Koesel Studio, Altusried-Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94903-2

E-Book: ISBN 978-3-608-10945-0

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

In Wahrheit ist die dunkle Kammer,

in der die reine Vernunft thronen soll,

vollkommen leer.

Theodor Lessing,

am 31. August 1933 in Marienbad
von den Nazis ermordet.

John Lennon: »Working Class Hero«

Du bist kaum auf der Welt, da sorgen sie schon dafür,
dass du dich klein fühlst

Indem sie dir überhaupt keine Zeit schenken statt
alle Zeit der Welt

Bis der Schmerz so groß ist, dass du gar nichts mehr fühlst

Ein Held der Arbeiterklasse, das wär doch was

Ein Held der Arbeiterklasse, das wär doch was

Zu Hause tun sie dir weh, und in der Schule
schlagen sie dich

Sie hassen dich, wenn du clever bist,
und einen Dummen verachten sie

Bis du so . . . verrückt bist, dass du ihren Regeln
nicht mehr folgen kannst

Ein Held der Arbeiterklasse, das wär doch was

Ein Held der Arbeiterklasse, das wär doch was

Wenn sie dich dann über zwanzig Jahre lang gefoltert und eingeschüchtert haben

Erwarten sie von dir, dass du dich für eine Karriere entscheidest

Wo du doch mittlerweile so voller Angst bist, dass du gar nicht mehr richtig funktionierst

Ein Held der Arbeiterklasse, das wär doch was

Ein Held der Arbeiterklasse, das wär doch was

Sie stellen dich ruhig mit Religion und Sex und Fernsehen

Und du meinst, du bist so clever und klassenlos und frei

Aber so wie ich das sehe, murkst du immer noch Bauern ab

Ein Held der Arbeiterklasse, das wär doch was

Ein Held der Arbeiterklasse, das wär doch was

An der Spitze ist noch Platz, jedenfalls behaupten
sie das immer noch

Aber erstmal musst du lernen, wie du lächelst,
während du tötest

Wenn du so sein willst wie die Leute da oben

Ein Held der Arbeiterklasse, das wär doch was

Ein Held der Arbeiterklasse, das wär doch was

Wenn du ein Held sein willst, folge einfach mir

Wenn du ein Held sein willst, folge einfach mir

Worüber es in diesem Buch geht . . .

Die zentrale Bedeutung der Mutter-Kind-Bindung, der Empathie und der Kooperation

Die Geschichte der Menschheit ist nur zu verstehen, wenn wir die Entwicklung der Mutter-Kind-Bindung berücksichtigen. Empathie und Kooperation bilden den Kern dieser Entwicklungsgeschichte. Für die Leserinnen und Leser, die meiner Arbeit zugetan sind, ist die Kenntnis wichtig, dass das eigene, verdrängte Empathische wieder bewusst gemacht, und da, wo Kinder involviert sind, die Beziehung zu ihnen vertieft werden kann. Leider wurden diese Grundsätze des menschlichen Verhaltens sowie ihre Entstehung, Entdeckung und Bestimmung bis heute versäumt.

Wie, fragt Peter Gstettner in seinem Buch »Die Eroberung des Kindes durch die Wissenschaft: Aus der Geschichte der Disziplinierung«, konnte die Humanwissenschaft dieses, ihr eigentliches Thema, verfehlen? Weshalb hängen Wissenschaftler, wie in der Anthropologie, immer noch fest an Modellen menschlicher Entwicklung, die davon ausgehen, dass »Wilde« primitiv und »Primitive« naiv sind, »Naivität« kindlich ist und dass frühe Entwicklungsphasen die Grundlage der darauffolgenden, also höheren Entwicklung sind.

Eine Kultur zeichnet sich durch Menschlichkeit aus.

Historiker wie Jürgen Osterhammel (2009) dagegen erkennen, dass die Entwicklung einer Gesellschaft nicht abhängig ist von solch einem Denken, »sondern davon, wie sie ihre schwächeren Mitglieder behandelt, ihre Kinder, ältere Menschen, die Behinderten und die chronisch Kranken«. Wie wir eine Kultur bewerten sollten, darf nicht von ihrer technischen und organisatorischen Qualität abhängen, sondern davon, ob und wie sie Menschen menschlich macht. Kultur sorgt dafür, dass die Menschen geistig gesund bleiben und nicht gesellschaftlich entfremdet werden. Aus dieser Sicht mündet die menschliche Entwicklung nicht in der Frage, ob das Früher-Existierende zu einer späteren höheren Entwicklung führt, sondern führt zur Erkenntnis, dass Entwicklung auch ein Verlust des Menschlichen bedeuten kann. Selbst Samuel Johnson, der Rosseau und seine Betonung des Primitiven kritisiert, schrieb:

»Als der Mensch anfing, nach Privateigentum zu streben, traten Gewalt, Betrug, Diebstahl und Raub auf den Plan. Bald danach brachen Stolz und Neid in der Welt aus und brachten einen neuen Maßstab des Reichtums mit sich, denn die Menschen, die sich bis dahin für reich gehalten hatten, wenn ihnen nichts fehlte, schätzten nun ihr Verlangen nicht nach den natürlichen Bedürfnissen, sondern nach dem Überfluss der anderen ein, und fingen an, sich für arm zu halten, wenn sie gewahr wurden, dass ihre Nachbarn mehr Besitztümer hatten als sie selbst (. . .).«[1]

Verlagerung der Bewusstseinsvorgänge von der rechten auf die linke Gehirnhälfte und die Zurückdrängung der Empathie.

Um zu verstehen, was der Mensch im Laufe seiner Geschichte erreicht oder versäumt hat, müssen Empathie und Kooperation als bedeutsame Faktoren berücksichtigt werden. So muss die Entwicklung des Gehorsams als Merkmal der sozialen Entwicklung erkannt werden, weil der Gehorsam sich wohl erst zu einem späten Zeitpunkt der menschlichen Evolution herausgebildet haben muss, als Herrschaft, Aggression und Besitz das gesellschaftliche Leben änderten. Es muss, wie ich es deute, eine Verlagerung der Bewusstseinsvorgänge von der rechten auf die linke Gehirnhälfte stattgefunden haben, wodurch empathische Vorgänge zurückgedrängt wurden. Diese Veränderung hängt auch mit der Entwicklung unserer Sprachen als bestimmender Faktor unseres Erlebens zusammen. Untersucht wurde auch, welche Rolle die verlängerte Schwangerschaft der Neandertaler in ihrer Bewusstseinsentwicklung spielte. Die Berücksichtigung der Interaktion zwischen Mutter und Kind beim Menschen legt eine Veränderung unseres Bewusstseins nahe, da die Entwicklung von Wettbewerb und Konkurrenzkampf sowie das Bedürfnis nach Macht die Mutter-Kind-Beziehung änderten.

. . . und warum die Empathie eine so entscheidende Rolle spielt

Die menschliche Evolution basiert nicht nur auf archäologischen Funden.

Die erstaunlichen Fossilienfunde der vergangenen Jahrzehnte haben uns zu einer Fülle von Wissen über unsere Vorfahren verholfen.[1] Paläontologen konzentrierten sich dabei vor allem auf Erkenntnisse über das »Aussehen und Verhalten des frühen Menschen«[2]. Bedenken an dieser Fokussierung äußerte Derek Bickerton, indem er darauf hinwies, dass sich die Forscher mehr für das Äußere der Schädel als für das, was in ihnen vorgegangen ist, interessierten.[3]

Bickertons Einwand hat Widerspruch hervorgerufen. Er macht jedoch auf ein wichtiges Problem aufmerksam: Dass nämlich unsere Vorstellungen über das, was in den Köpfen unserer Vorfahren vorging, auf Mutmaßungen von Archäologen und Paläontologen beruhen, und dass diese Hypothesen nicht mit der Realität der frühen Menschen übereinstimmen müssen. So nehmen zahlreiche Paläontologen unter anderem an, der Schlüssel zum Verständnis des urmenschlichen Verhaltens liege in einer genetisch vorbestimmten Intelligenz, die vom Überlebenskampf geprägt sei. Demnach habe sich das menschliche Verhalten im Zusammenhang mit einer verbesserten Informationsverarbeitung und einer neuartigen Reaktionsfähigkeit entwickelt, die sich durch Wettkampf herausbildeten und zu einer natürlichen Auslese im Sinne des »Überlebens des Stärkeren« führten.

Kampf, Rivalität und Wettbewerb sind neuartige Entwicklungen zwischenmenschlicher Umgangsformen.

So sieht Gibbons[4], der sich auf O. Bar-Yosef [5] bezieht, die menschliche Evolution als eine Abfolge von Menschenarten, wobei die eine die andere auslöschte. Das zentrale Verhaltensmuster der Evolution wäre demnach der Wettkampf um Ressourcen[6], was hieße, dass Rivalität und Wettkampf evolutionäre Veränderungen verursachten. Gegen einen von Rivalität und Kampf geprägten plötzlichen Umbruch spricht jedoch die lange Dauer der Evolution. Es scheint also eher eine allmähliche Entwicklung stattgefunden zu haben. Dafür spricht auch Diamonds[7] Erkenntnis, dass Naturvölker für gewöhnlich ein ausgeglichenes, nicht von Wechseln charakterisiertes Leben führen.

Womöglich war das menschliche Verhalten über Tausende von Jahren hinweg recht ausgeglichen, was hieße, dass Kampf und Rivalität oder Wettbewerb als Kennzeichen zwischenmenschlicher Umgangsformen eine relativ neuartige Entwicklung darstellen, die vor etwa zehntausend Jahren begann und in der Herausbildung einer archaischen Form staatlicher Organisation und Zivilisation resultierte.[8]

Renggli[9] betont, dass der Mensch vor 12 000 Jahren durch die Entwicklung der Agrikultur sesshaft wurde. Dadurch trennten sich Mütter von ihren Babys, eine Verhaltensweise, die alle Hochkulturen charakterisiert und sie von dem ununterbrochenen Körperkontakt zwischen Mutter und Kleinkind anderer Kulturen unterscheidet.

Die Auffassung, dass Veränderung und Fortschritt für die Evolution des Verhaltens entscheidend gewesen seien, und dass die Evolutionsgeschichte darin bestanden habe, dass eine Hominiden-Art die andere verdrängte, spiegelt wohl eher die Werte und Interessen der Beobachtenden wider, die wiederum in der Struktur der historisch verhältnismäßig jungen Sozialordnung, in der wir leben, begründet ist.[10] Diese Auffassung drückt die gängige Überzeugung aus, Wettbewerb sei ein Naturgesetz.

Mensch zu sein bedeutet mehr, als sprechen zu können.

Aussagen über die Vergangenheit des Menschen beruhen auf Interpretationen, Vermutungen und Spekulationen. Sie dürfen sich nicht – und das gilt für jede historische Disziplin – auf die oberflächliche Beschreibung sozialer Interaktionen beschränken, sondern müssen sich damit auseinandersetzen, was diese für das Leben der Menschen und im Sinne der Evolution bedeuteten. Isabel Azevedo schreibt in ihrem Brief an die Zeitschrift Science [11], ein Mensch zu sein, bedeute weit mehr, als sprechen zu können. Sie plädiert für einen Paradigmenwechsel [12]