Julia Peirano

SOS in der Liebe

... und wie man trotzdem
glücklich wird

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Impressum

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlaggestaltung: Vogelsang Design

Umschlagmotiv: © by-studio – Fotolia.com

Autorenfoto: © Kirsten Nijhof

Satz: de·te·pe, Aalen

Herstellung: fgb · freiburger graphische betriebe

www.fgb.de

Printed in Germany

ISBN (E-Book) 978-3-451-80022-1

ISBN (Buch) 978-3-451-61164-3

Inhalt

Einführung

Über mich und über den Tanz der Liebe

Einleitung

Darf ich vorstellen: Die Liebenden

Kapitel 1
Die Geschichte der Liebe

Die Wiege der Mutter-Kind-Bindung

Die Geburtsstunde der Paarbindung

Die mütterliche Sippe der Steinzeit

Frauentausch und Frauenraub im Patriarchat

Die Ehe in der Antike

Das Christentum bringt Zucht und Ordnung – oder nicht?

Das Ideal der romantischen Liebe

Die Liebe im Zeitalter der Weltkriege

Klare Formen für die Liebe in den 1950er Jahren

Die 1960er und 70er bringen Veränderungen für die Liebe

Das Wichtigste in Kürze

Kapitel 2
Moderne Beziehungen:
Der Fluch der Freiheit

Die Befreiung der Frauen aus der Hausfrauenrolle schafft eine neue Unordnung

Die sexuellen Umgangsformen lockern sich

Willkommen auf dem Höhepunkt der romantischen Liebe!

Die Ware Liebe

Maybe, Baby

Zu viele Verflossene

Das Wichtigste in Kürze

Kapitel 3
Erwartungen: Die Wurzeln des Leidens

Wonach wir uns sehnen

Gedankenmuster 1: »Ich brauche einen Partner, um glücklich zu sein«

Fragen: Ihre persönliche Liebesbilanz

Fragen zu den Erwartungen an einen Partner und eine Partnerschaft

Gedankenmuster 2: »Ich suche einen Partner, der für immer bei mir bleibt«

Fragen zu Ihrer Opferbereitschaft

Gedankenmuster 3: »Ich will Vertrautheit und Leidenschaft mit Einem«

Das Wichtigste in Kürze

Kapitel 4
Die Liebe berauscht

Der Cocktail der Liebe

Das Verfallsdatum der leidenschaftlichen Liebe

Das Wichtigste in Kürze

Kapitel 5
Liebeskummer – einmal zur Hölle und zurück

Der Entzug im Gehirn

Der Körper leidet mit

Wann ist es endlich vorbei?

Die Gefühle im Keller

Das Wichtigste in Kürze

Kapitel 6
Hat das Leiden einen Sinn?

Von Mäusen und Schwänen

Liebeskummer als Signal

Meisterklasse

Ungeahnte Kräfte

Fragen: Welchen Sinn hatte mein Liebeskummer

Das Wichtigste in Kürze

Kapitel 7
Wie der Tanz der Liebe doch noch gelingt

Ist die Liebe wie ein Tango?

Was uns der Tango zeigt: Sehen Sie den Film

Technik 1: In der eigenen Achse bleiben

Die Achse der Liebe

Fragen: Wie gut stehen Sie auf eigenen Beinen?

Fragen: Wie stark bewegen Sie sich in der Achse Ihres Partners?

Tipps zum Verbessern der eigenen Achse

Technik 2: Gehen Sie über Null

Der Nullschritt in der Liebe

Wie lernt man, sich selbst ein guter Freund zu sein?

Tipps und Übungen: So lernen Sie den Nullschritt

Technik 3: Auf die Umarmung kommt es an

Liebe geht durch den Körper

Halt mich fest in deinen Armen

Fragen und Übungen zur Umarmung

Technik 4: Beherrschen Sie Nähe und Distanz

Distanz und Nähe in der Liebe

Von Kopf bis Fuß auf Nähe eingestellt

Das Reißverschlussprinzip

Exkurs Bindungsstörung

Technik 5: Entspannt tanzt man besser

Entspannt lieben

Entspannt ohne Partner sein

Hinweise und Tipps: Wie macht man sich locker?

Technik 6: Ein Schritt zur Zeit

Die Stundenblumen der Partnerschaft

Technik 7: Das Leben umarmen

Von einem Arm zum nächsten

Perfekte Freundinnen?

Der platonische Harem

Fragen und Tipps zu Ihrem sozialen Netz

Das Wichtigste in Kürze

Kapitel 8
Soll ich bleiben, soll ich gehen?

Pistole auf der Brust

Die Ambivalenzschaukel

K.O.-Kriterien

Kriterien, die zeigen, dass Ihre Beziehung Substanz besitzt

Entscheidungshilfen

Visualisierungsübung: Reise in die Zukunft

Wer von unseren Paaren sollte sich trennen?

Schon fünf vor zwölf?

Die Beziehung retten: Mögliche Schritte

Übung: Ich sollte gehen, aber ich kann nicht!

Das Wichtigste in Kürze

Kapitel 9
Ein Ende mit Anstand

Professionelle Unterstützung

Scheidungskinder – unglückliche Kinder?

Empfehlungen

Das Wichtigste in Kürze

Kapitel 10
SOS-Soforthilfe bei einer Trennung

Der erste Schock

In der Achterbahn der Gefühle

Über den Berg kommen

Lassen Sie sich Zeit · Nur das nötigste Gepäck · Rast machen · Unterstützen Sie sich mit Medikamenten · Den Körper versorgen · Lassen Sie sich berühren · Nehmen Sie Haltung an · Geben Sie sich Struktur · In guter Gesellschaft aufgehoben · Nehmen Sie sich Zeit für Ihre eigenen Gefühle · Übung: Mein Zufluchtsort

Gefühle erkennen, Gefühle benennen

Spielen Sie Ihre Trümpfe aus

Übung: Die Trümpfe in meiner Hand

Der Nächste, bitte?

Das Wichtigste in Kürze

Kapitel 11
Der Umgang mit meinem Expartner

Situation 1. Ich möchte meinen Expartner um jeden Preis zurück: Was muss ich tun?

Situation 2. Ich habe meinen Partner verlassen – und habe Zweifel an dieser Entscheidung

Situation 3. Ich komme einfach nicht von diesem Menschen los: Was kann ich tun?

Situation 4. Ich brauche einen richtigen Abschied: Doch wie geht das, wenn der andere nicht bereit ist?

Gut aufgeräumt

Was von der Liebe bleibt

Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen

Dem Expartner begegnen – aber wie?

Happy End

Anmerkungen

Weiterführende Literatur

Einführung

Über mich und über den Tanz der Liebe

Liebe Leserinnen und Leser,

mein Interesse an der Liebe erwachte bereits in der sechsten Klasse, als der intensive Blickwechsel mit meinem damaligen Schwarm mich so beschäftigte, dass ich nicht ein einziges Wort vom Unterricht mitbekam. Diese schöne Erfahrung war nur die erste, es folgten in meinem Leben viele weitere, sowohl glückliche als auch sehr schmerzhafte. Auch wenn es nicht immer leicht war, übte die Liebe immer eine große Faszination auf mich aus, sowohl privat als auch beruflich.

Deshalb sagte ich auch ohne einen Moment zu zögern zu, als mir im Jahre 2005 der Persönlichkeitsforscher Prof. Burghard Andresen anbot, mich wissenschaftlich mit der Beziehungspersönlichkeit zu beschäftigen. Ich forschte drei Jahre lang an der Frage, wie sich Menschen in ihrer Beziehungspersönlichkeit, also in ihren Sehnsüchten, Verhaltensweisen und Vorlieben in Bezug auf eine Partnerschaft unterscheiden und wie diese Unterschiede mit dem Glück in ihrer Partnerschaft zusammenhängen. Meine Ergebnisse waren spannend: Unter anderem errechnete ich eine »Glücksformel«, die fast die Hälfte des Glücks in einer Beziehung durch drei Eigenschaften erklären kann. Die Erkenntnisse meiner Doktorarbeit veröffentlichte ich in meinem Buch »Der Geheime Code der Liebe«, das seit seinem Erscheinen im Jahre 2011 viele Tausende Menschen erreicht hat. Damit kam ein Stein ins Rollen: In meiner verhaltenstherapeutischen Praxis meldeten sich immer mehr Menschen zu meinem speziellen Liebescoaching an, einige reisten dafür extra aus anderen Städten oder gar aus dem Ausland an. Ihr Leidensdruck war groß und sie wollten Antworten auf ihre Fragen finden: Warum suche ich mir immer die falschen Partner aus? Weshalb halten meine Beziehungen nicht? Wieso hat mein Partner sich von mir getrennt? Hat meine Beziehung noch Bestand – oder soll ich mich trennen? Oder: Wie gehe ich mit den Problemen in meiner Beziehung um?

Natürlich kamen zu mir als Therapeutin vor allem Menschen, die gerade an der Liebe litten oder die sich in unmögliche oder schädliche Beziehungen geflüchtet hatten, um nicht alleine zu sein. Die Gespräche mit ihnen zeigten mir die Schattenseiten der Liebe deutlich auf. Ich bekam vor Augen geführt, dass die Liebe manchmal wie ein heftiges Unwetter ist, das einen in Seenot bringt, und dass eine Trennung oft so erschütternd ist wie ein tragischer Unfall. Diese dunklen Seiten der Liebe sind mit dem Titel »SOS in der Liebe« gemeint. Ich habe mit meinen Patienten in Einzelgesprächen daran gearbeitet, dass sie stabiler wurden und klarer auf sich, ihre Beziehungspersönlichkeit und ihr Problem mit der Liebe oder ihrem Partner schauen konnten. Und vor allem ging es darum, dass sie einen Weg erarbeiten konnten, um sich aus ihrer Not zu befreien. Ich möchte die Erfahrungen, die ich bei der »Bergung« von Menschen gemacht habe, die an der Liebe litten, mit Ihnen als Leser teilen.

Warum ist die Liebe grundsätzlich ein so schwieriges Unterfangen? Diese Frage ist zentral in diesem Buch, und auf einem Spaziergang durch die Urgeschichte der Menschen, durch einen soziologischen Blick auf die Rahmenbedingungen der Ehe und Partnerschaft heute und einen Blick in das verliebte Gehirn sowie auf dessen Zustand kurz nach einer Trennung bekommen Sie Antworten darauf.

Anschließend gehen wir weiter zu den Fragen, mit denen Sie sich womöglich gerade aus aktuellem Anlass befassen: Hat das Leiden einen Sinn? Soll ich gehen oder bleiben? Und wenn ja, wie kann ich meine Beziehung verbessern, wenn ich bleibe? Oder: Wie trenne ich mich von meinem Partner, ohne unnötig Porzellan zu zerschlagen? Ich nenne Ihnen dann konkrete Maßnahmen, die Sie nach einer Trennung wieder auf die Beine bringen können, wie Sie mit Ihrem Expartner umgehen, und mache auch Vorschläge, wie Sie nach einer Trennung aufräumen oder was Sie zum Beispiel mit Ihrem Ehering anstellen können.

Es geht aber nicht nur um Notfälle, Trennungen und Katastrophen in der Liebe. Ich habe viel darüber nachgedacht, wie man trotz aller Widrigkeiten eine stabile Haltung der Liebe gegenüber einnehmen kann und sich mit Mut und Verstand auf sie einlassen kann. Diese Antwort gebe ich Ihnen im Kapitel »Wie der Tanz der Liebe doch noch gelingt« im Bild des leidenschaftlichen argentinischen Tangos: Lassen Sie sich überraschen – Sie sind herzlich eingeladen mitzutanzen.

Einleitung

Steffi feiert ihren 43. Geburtstag, ihre Familie ist versammelt. Auf dem festlich gedeckten Tisch stehen die Reste der Torte und kuchenverschmierte Teller. Ihr Vater, ihr Bruder und ihr 14-jähriger Sohn sind in den Garten verschwunden, die Frauen sind ganz unter sich. Es sind vier Generationen: Steffi, dazu ihre 88-jährige Großmutter Margarethe, die geistig nichts von ihrer Klarheit eingebüßt hat, und Ulla, Steffis 68jährige Mutter. Steffis Tochter Lene, 16, ist in ihrem Zimmer und hält auf Facebook Kontakt zu ihren Freunden.

Margarethe fragt ihre Enkelin Steffi: »Wie läuft es denn mit dir und Martin? Ist es wieder besser?«

Steffi: »Sieht gerade nicht gut aus. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie lange ich das noch aushalte.«

Margarethe: »Du Arme, das tut mir wirklich leid für dich. Es ist auch ein Kreuz mit der Ehe.« Sie schüttelt den Kopf.

Da schaltet sich Ulla ein: »Das kann man so auch nicht sagen. Ich habe großes Glück gehabt, dass ich zwei Drittel meines Lebens mit Frank verbringen durfte.«

Die Frauen schweigen, denn vor drei Monaten ist Frank nach einem jahrelangen Kampf gegen seine Krebserkrankung gestorben, vier Jahre vor der goldenen Hochzeit. Ulla steht mit 68 Jahren zum ersten Mal in ihrem Leben ohne einen Mann an ihrer Seite da, und das macht ihr schwer zu schaffen.

Steffi: »Aber es ist doch Mist. Wenn man uns mal anschaut: Oma Margarethe stand jahrelang unter Opas Fuchtel, und sie war ständig in Aufregung wegen seiner Frauengeschichten. Ich bin verheiratet, aber Martin und ich leben nebeneinander her und wären wahrscheinlich ohne einander viel besser dran. Und du, Mama, warst immer das leuchtende Beispiel, und dann nimmt dir die Krankheit deinen Mann. Gerade jetzt, wo ihr so viel Zeit füreinander gehabt hättet.«

Margarethe mischt sich ein: »Ich habe es immer gesagt, auf die Liebe kann man nicht bauen.«

Ulla fragt: »Worauf soll man denn sonst bauen? Das frage ich mich gerade jeden Tag.«

Da kommt Lene rein, wirft sich ihre Lederjacke über die Schulter und sagt strahlend in die Runde: »Ciao, ihr Lieben, ich muss noch mal weg, macht es gut.«

Als Lene das Haus verlassen hat, zwinkern sich die Frauen zu, denn draußen hört man den Motor eines Motorrads aufheulen. Steffi sagt: »Ich wette, das ist Moritz, der auf sie wartet. Er ist der Schwarm aller Mädchen. Vor ein paar Wochen war es Frederic, und morgen sicher wieder ein anderer. Was wird die Kleine wohl alles noch erleben?«

Überlassen wir Steffi und ihre Familie ihrem Gespräch, wir werden ihnen im Buch immer wieder begegnen und noch mehr über sie erfahren. Beschäftigen wir uns damit, dass es so oder ähnlich wie in Steffis Familie in vielen Familien aussieht. Vier Generationen SOS in der Liebe! Die Liebe ist wirklich kein einfaches Spiel. Ich verspreche Ihnen jedoch, dass Sie in diesem Buch eine Antwort auf die Frage erhalten, wie man sein Leben glücklich ausrichten kann, gerade wenn es mit der Liebe oft so schwierig ist.

Ein Paradox der heutigen Zeit ist, dass sich mehr als 90 Prozent aller Männer und Frauen eine erfüllte Partnerschaft wünschen, dabei aber die Chancen für eine lebenslange Beziehung schlechter stehen als je zuvor. Schon Mitte der 1950er Jahre konstatierte der Psychoanalytiker Erich Fromm: »Es gibt kaum eine Aktivität, kaum ein Unterfangen, das mit so großen Hoffnungen und Erwartungen begonnen wird und das mit einer solchen Regelmäßigkeit fehlschlägt wie die Liebe.«1 Durchschnittlich gehen vier von zehn Ehen kaputt, und jedes Jahr lassen sich in Deutschland fast 190 000 Paare scheiden. Wie lange sie vorher unglücklich gewesen sind, ist nicht erfasst, ebenso wenig, wie viele Paare ohne Trauschein sich trennen oder wie viele Paare unglücklich zusammenbleiben, obwohl sie sich gerne trennen würden.

Wer sich die eigenen Liebeserfahrungen oder die seines Umfelds einmal unverblümt anschaut, erlebt den ernüchternden Kassensturz. Liebeskummer betrifft uns alle. Fast jeder hat in seinem Leben Phasen von Liebesleid ertragen müssen. Die persönliche Liebesbilanz vieler Menschen verhält sich so wie mein Girokonto zu Studentenzeiten: Es sah meistens schlecht aus und stand oft deutlich im Minus. Auf jede glückliche Liebe kommen einige deprimierende Liebeserfahrungen, die das Selbstwertgefühl des Betroffenen schwer anknacksen können und Narben hinterlassen. Viele Menschen sind deshalb von der Liebe so traumatisiert, dass sie sich kaum noch mit offenem Herzen und Vertrauen auf einen neuen Partner einlassen können.

Das Leid kann die unterschiedlichsten Formen annehmen: Akut ist es, wenn unser Partner uns betrügt, uns verletzt, uns abwertet oder uns sogar misshandelt oder uns nach einer langen Beziehung von einem Tag auf den anderen verlässt. Und es gibt den chronischen Schmerz, der aus einem Mangel entsteht: Mangel an Aufmerksamkeit und Zuwendung, Mangel an Leidenschaft, Mangel an Abwechslung. In solchen lieblosen Beziehungen fühlen wir uns wie lebendig begraben, als wären unsere Liebesgefühle und unsere Lebendigkeit in eine Kiste geräumt, die auf dem Dachboden verstaubt.

Die positiven Seiten und Phasen der Liebe erleben wir selten, jedenfalls auf Dauer betrachtet. Die meisten Menschen praktizieren serielle Monogamie, das heißt, sie verlieben sich, führen eine Beziehung, sind nach einiger Zeit unzufrieden und trennen sich oder werden vom Partner verlassen. Dann begeben sie sich erneut auf die Partnersuche. Das ist alles andere als ein leichtes Unterfangen: Obwohl tausende von Menschen intensiv nach einem Partner suchen, finden sie keinen. Infolge davon sind sie verzweifelt, einsam oder sogar verbittert.

In diesem Buch möchte ich mit Ihnen zusammen einen klaren und unverzerrten Blick auf die Liebe werfen. Es ist mir ein Anliegen, Ihnen in diesem Buch Wege zu zeigen, wie Sie Ihre geistige, seelische, körperliche und soziale Balance in Ihrem Leben verbessern können, um aus sich selbst heraus stabil und zufrieden zu werden. Das wird Ihnen in jeder Beziehung, die Sie gerade führen, ungemein helfen. Und auch, wenn Sie gerade Single sind, kann es Ihnen helfen, ein glücklicher Single zu sein. Denn der einzige Mensch, der immer bei Ihnen sein wird, sind Sie selbst.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß, erhellende Erkenntnisse und praktisch nutzbare Lösungen für Ihre eigenen Themen in der Liebe.

Darf ich vorstellen: Die Liebenden

»Alle glücklichen Familien gleichen einander. Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich«, befand Tolstoi in Anna Karenina. Das trifft auch auf die Hauptpersonen dieses Buches zu, die ich Ihnen nun vorstellen möchte. Drei von ihnen, nämlich Margarethe, Ulla und Steffi, haben Sie bereits an der Kaffeetafel kennengelernt, hier erfahren Sie noch mehr über Ihre Geschichte. Die Hauptpersonen dieses Buches vereint, dass sich alle in einer verzwickten Lebenssituation befinden und sie ihren Frieden mit der Liebe noch nicht gefunden haben.

Diese Personen begleiten Sie von nun an durch das Buch. Sie sehen, wie sie sich voller Ängste verlieben, in ihren Beziehungen vor großen Problemen stehen, sich streiten oder über eine Trennung nachdenken. Die Getrennten in diesem Buch müssen durch eine anstrengende und belastende Trauerphase. Einige von ihnen werden Sie begleiten und dabei beobachten, was sie alles unternehmen, um wieder eine Balance in ihren Gefühlen und Zufriedenheit mit ihrem Leben zu finden

Garantiert kommt Ihnen die eine oder andere Person bekannt vor und Sie erkennen Züge von sich selbst oder von Ihren Bekannten wieder. Seien Sie gespannt, welche Ähnlichkeiten Sie entdecken.

In einer Partnerschaft leiden:

Tamara, 40, Klavierlehrerin, und David, 46, Gartenarchitekt, beide geschieden, erlebten miteinander, was sie beide für die innigste Liebe ihres bisherigen Lebens hielten. In zahllosen E-Mails und Gesprächen vertrauten sie sich einander an, sie schliefen eng umschlungen, waren sehr zärtlich zueinander und holten so die Nähe nach, die sie in ihren jeweiligen Ehen nicht erlebt hatten. Doch mit den Jahren verstärkten sich bei David altbekannte Probleme. Durch eine zunehmende Auftragsflaute, an der er nicht unbeteiligt war, wuchsen seine Schulden, und auch seine verhaltensauffällige Tochter forderte ihm und Tamara enorme Energie ab. Für Tamara war es selbstverständlich, David zu helfen. Sie schleppte kiloweise Ratgeberliteratur an, die er nie las, lieh ihm Geld, das schnell aufgebraucht war, und redete stundenlang mit ihm über jedes seiner Probleme. Doch je mehr sie sich anstrengte, desto schwächer und depressiver wurde er. Tamara denkt seit einiger Zeit öfters daran, sich zu trennen. Aber wird sie diesen Schritt auch wagen?

Bei Ralf, 35, Industriemechaniker, und Katharina, 43, Verkäuferin, geht es dramatisch zu. Katharina trinkt über die Jahre hinweg zunehmend mehr Alkohol, mittlerweile sind es ein bis zwei Flaschen Wein pro Abend. Mit jedem Schluck wird ihre Laune schwankender. Je mehr sie getrunken hat, desto überzeugter ist sie davon, dass Ralf die Schuld an ihrer Trinkerei trägt. Denn sie glaubt, dass er auf ihre Kosten lebt und sie betrügt. Die Fakten sprechen eine andere Sprache: Ralf hat seine eigene Wohnung aufgegeben und wohnt bei Katharina. Er trägt den Löwenanteil der Kosten und kümmert sich auch deutlich mehr um Katharinas Kinder (18 und 11) als sie. Was andere Frauen betrifft, ist er viel zu schüchtern, um sich ihnen auch nur zu nähern. Wenn Katharina sich in ihren Zorn hineingesteigert hat, setzt sie Ralf öfters mal mitsamt seinen Koffern vor die Tür und er muss tagelang betteln, bis er wieder einziehen darf. Ralf klammert sich an die Hoffnung, dass die Situation bald ruhiger wird. Katharina hat vor ein paar Monaten gefordert, dass er sie heiratet. Er ahnte, dass das keine gute Idee wäre, doch er wusste keinen Ausweg und gab nach ein paar schlaflosen Nächten nach.

Steffi, 43, Lehrerin, und Martin, 47, Sachbearbeiter, sind mit ihren sympathischen Kindern (Lene, 16, und Leo, 14), ihrer patenten Art und ihrem gemütlichen Bauernhaus eine Vorzeigefamilie. Bei Licht betrachtet entpuppt sich dieses Idyll aber seit sechs Jahren allenfalls als eine Laienschauspielbühne einer Daily Soap namens »Heile Familie«. Denn seit Jahren streichelt Martin sein Motorrad zärtlicher als Steffi und lebt seine eigene Version fairer Aufgabenteilung, was bewirkt, dass an Steffi sämtliche Pflichten hängen bleiben. Steffi ist frustriert und wird in regelmäßigen Abständen zu einer Furie, die mit Vorwürfen um sich schlägt. Martin findet, dass Sex das beste Mittel wäre, um sich einander anzunähern und wieder eine »richtige Ehe« zu führen. Doch schon bei dem bloßen Gedanken an Sex mit Martin packt Steffi das Grauen. Nach langem Nachdenken beschließt Steffi, diese Beziehung zu beenden.

Alleine leiden:

Ulla, Steffis Mutter, 68, Hausfrau, ist seit kurzem Witwe. Sie war fast 50 Jahre mit ihrer Jugendliebe Frank verheiratet – das größte Glück ihres Lebens. Sein Humor, seine Klugheit und seine Gutmütigkeit machten ihn zu einem Menschen, dem die Sympathien nur so zuflogen. Während er auf seinem Weinberg und beim Golf seine Erfüllung fand, kümmerte sich Ulla um die 3 Ks: Kinder, Küche und Konzerte. Ulla ruhte in sich selbst und gab ihrer Familie viel Halt. Als Frank kurz nach seiner Rente an Krebs erkrankte, unterstützte sie ihn tatkräftig und machte ihm Mut. Bis zu seinem Tod erlebten sie nochmals sieben liebevolle, intensive Jahre. Ulla reißt es den Boden unter ihren Füßen weg, dass Frank nicht mehr da ist, und sie empfindet tiefe Trauer um Frank.

Margarethe, 88, Hausfrau, Mutter von Ulla und Großmutter von Steffi, wurde mit 62 Jahren Witwe. Mit ihrer Ehe hatte sie bei Weitem nicht so ein Glück wie ihre Tochter. Ihr Mann Josef, Apotheker, setzte zwar alles dran, sie zu erobern, doch als er es geschafft hatte, zeigte er zu Hause seine tyrannische Seite. Wenn Margarethe nicht machte, was er wollte, strafte er sie mit Vorwürfen oder tagelangem Schweigen. Die wahre Hölle für Margarethe waren jedoch seine ständigen Affären, die auch vor Frauen aus ihrem engeren Bekanntenkreis nicht Halt machten. Josef hat einen unehelichen Sohn mit einer seiner Affären, mit dem er sich auch noch in seinem Freundeskreis brüstete. Da eine Trennung aus den gesellschaftlichen Zwängen der damaligen Zeit nicht infrage kam, biss Margarethe die Zähne zusammen, bis Josef mit 62 Jahren bei einem Unfall starb. Danach fand sie zum ersten Mal Ruhe. Mit den Männern hat sie ein für alle Mal abgeschlossen.

Madeleine, 37, Assistentin in einem Versandhaus, sucht noch immer nach der großen Liebe. Wie er sein soll, weiß sie genau: wortgewandt, romantisch, mit hoher emotionaler Kompetenz. Jemand, der sie versteht und ein Fels in der Brandung ist und Ersatzpapa für ihre 8-jährige Tochter Carlotta. Madeleine hat einen Wunsch: in einer »richtigen« Familie leben und noch ein zweites Kind zu bekommen. Dann, so denkt sie, würde ihr Leben auch endlich leichter. Heute pfeift Madeleine hingegen oft auf dem letzten Loch: Sie arbeitet viel zu lange für ihr mickriges Gehalt und hetzt dann mit schlechtem Gewissen zu Carlotta. Alles kommt zu kurz, ihr Kind, die Arbeit, der Haushalt, und vor allem sie selbst.

Sarah, 33, Fotografin, ist eigentlich gerne Single, denn Single kann sie gut. Schon seit Jahren dauern ihre Affären selten länger als vier Monate, mittlerweile lässt sie sich gar nicht mehr richtig auf einen neuen Mann ein. Im Vergleich zu ihrem Traummann haben die realen Männer nicht zu tolerierende Fehler, und Sarah wartet nur auf einen Anlass, um wieder zu sagen: »Es ist vorbei.« An Angeboten mangelt es der attraktiven und lebenslustigen Sarah nicht, doch sie will sich noch Zeit lassen, bevor sie sich bindet. An ihrem 30. Geburtstag dämmerte ihr, dass das bei ihren hohen Erwartungen und ihrer niedrigen Kompromissbereitschaft möglicherweise schwierig wird. Sie will eigentlich Kinder, aber woher die dann kommen sollen, steht in den Sternen.

Philipp, 48, Inhaber einer Firma, zappelte vier Jahre im Netz von Dörthe, seiner Mitarbeiterin. Optisch entsprach sie fatalerweise genau seinem Beuteschema. Als sie nach einer Feier aus einer Laune heraus zu ihm gingen, erlebte er in ihren Armen intensive Nähe wie mit keinem Menschen je zuvor. Philipp wollte sie sofort und immer wieder sehen, doch sie war kühl und unverbindlich. Wie besessen kreisten seine Gedanken nur um sie, doch sie ließ ihn wochenlang abblitzen. Dann stand sie eines Abends vor seiner Tür, und wieder war es extrem nah und leidenschaftlich. Philipp setzte alles daran, um mit ihr zusammen zu sein und zu bleiben. Sie hingegen folgte ihren eigenen Gesetzen, mal war es leidenschaftlich, doch dann wieder schlug ihm eine Mauer aus Eis entgegen. Die Gründe ihrer Stimmungswechsel konnte er nie herausfinden. Es folgte über vier Jahre ein ständiges Wechselspiel der Gefühle, von heftigsten Verletzungen und Zurückweisungen bis zu leidenschaftlicher Annäherung, unterbrochen von einigen kürzeren Trennungen. Am Ende war Philipp völlig zermürbt, und bis heute kann er sich nicht erklären, warum er sich zum Spielball dieser Frau hat machen lassen.

Kapitel 1
Die Geschichte der Liebe

Jetzt wären wir eigentlich mittendrin: bei Ralf, Sarah, Philipp und all ihren Problemen mit der Liebe. Wir könnten nach Ursachen dafür suchen, warum sie sich auf Situationen eingelassen haben, die schwierig, unmöglich oder auch schrecklich sind. Und dann würden wir darüber nachdenken, was sie tun könnten, um erfolgreich und nachhaltig ihr Leid zu lindern.

Doch es ist noch zu früh dafür, um uns um das Schicksal einzelner Menschen zu kümmern.

Wir haben noch die hoch spannenden Grundlagen der Liebe zu erforschen, die Ihnen helfen werden, die Liebe viel tiefer und besser zu verstehen. (Wenn es bei Ihnen aber gerade »brennt«, weil Sie unter akutem Liebeskummer leiden und vor allem eine schnelle Linderung suchen, können Sie bis zum praktischen Teil vorblättern, der in Kapitel 7 beginnt.) In diesem Kapitel beginnen wir damit, wie die Liebe entstanden ist, wie sie von unseren Vorfahren gelebt wurde, wie sie »funktioniert« und welchen Unsinn sie bisweilen bewirkt. Die Erkenntnisse, die wir daraus gewinnen, sind unglaublich erhellend, denn sie zeigen uns auf, welche Widersprüche in der Liebe an sich stecken und warum sie es uns oft so schwer macht.

Die Wiege der Mutter-Kind-Bindung

Für uns Menschen ist die Liebe eine ganz normale Sache. Doch bei Weitem nicht jedes Wesen auf diesem Planeten hat eine ähnliche Auffassung von Liebe, Partnerschaft und Kindererziehung. Stellen Sie sich einmal, nur zum Spaß, folgende Szene vor: Eine Menschenfrau, die gerade auf ihr Kleinkind aufpasst, und ein Krokodilweibchen, das sich im Schlamm abkühlt, kommen am Ufer eines Flusses ins Gespräch über das, was sie so bewegt: das Leben, die Liebe und die Familie.

Frau: »Wie viele Kinder hast du?«

Krokodil: »Ich habe nicht genau gezählt, aber 20 bis 50 Eier werden es schon gewesen sein.«

Frau (staunt): »So viele? Auf einmal? Das würde ich nicht schaffen. Eine Freundin von mir hat Zwillinge gekriegt, und sie hat so viel zu tun. Allein die ganze Wäsche. Und ständig muss sie aufpassen, dass die Kleinen sich nicht verletzen. Jedes Kind braucht ja so viel Aufmerksamkeit« (seufzt).

Krokodil (verwirrt): »Aufmerksamkeit? Wie meinst du das?«

Frau (ebenfalls verwirrt): »Na ja, das ganze Programm. Kuscheln, Gute-Nacht-Geschichte vorlesen, zuhören, im Advent Plätzchen backen und basteln und so weiter.«

Krokodil: »Ehrlich gesagt – ich weiß überhaupt nicht, wo meine Kinder jetzt sind. Nachdem ich die Eier gelegt habe, habe ich das Gelege noch drei Monate lang bewacht, und als die Jungen geschlüpft sind, habe ich sie ins Wasser getragen. Dann bin ich noch ein paar Wochen in der Nähe geblieben und habe die Kinder beschützt, wenn sie gequakt haben. Aber ich vermute, sie sind längst flussabwärts geschwommen.«

Frau (diplomatisch): »Ja, das ist ja toll, wenn du bei der Erziehung so viel Wert auf Selbstständigkeit legst. Wow. Und was machst du jetzt – wollen dein Mann und du noch mehr Kinder?«

Krokodil: »Mann? Was für ein Mann?« (schüttelt verständnislos den Kopf und schwimmt davon).

Frau (für sich): »Rabenmutter.«

Zweifellos könnten die beiden Mütter kaum unterschiedlicher sein in ihren jeweilig selbstverständlichen Vorstellungen darüber, wie man Kinder aufzieht. Doch wenn die Frau der Krokodilmutter vorwirft, dass sie sich nicht richtig um ihre Brut kümmert, urteilt sie ungerecht. Das Krokodil hat alles getan, was man unter ihren Artgenossen tun muss, um seinem Nachwuchs die richtige Starthilfe zu geben. Im Reich der Reptilien ragen Krokodile aufgrund ihrer besonders intensiven und guten Brutpflege heraus, sie sind sozusagen die Glucken des Nils. Nur ist, wie das Gespräch zeigt, die Brutpflege der Reptilien und Insekten ungleich einfacher als die der Vögel, Säugetiere oder gar die der Menschen. Denken Sie bitte einmal an Vogeleltern, die im Frühling jeden Regenwurm einzeln heranfliegen, während ihr Partner rund um die Uhr die Jungen vor Nesträubern beschützt. Oder an Schafe, die geduldig in der Nähe ihrer Lämmer grasen, damit die Kleinen jederzeit trinken können, und die ihren Nachwuchs sogar am Klang des »Mää-ens« erkennen. Bei diesen Tierarten entsteht durch das Austragen der Ungeborenen im Mutterleib und durch das Stillen eine tiefe persönliche und natürliche Bindung zwischen Mutter und Kind: Die Tierjungen erkennen ihre eigene Mutter am Geruch und an der Stimme, und die Mutter kümmert sich in der Regel nur um ihre eigenen Jungen. Wahrscheinlich hält auch jede Schafmutter ihr eigenes Lamm für das niedlichste und klügste auf der ganzen Welt – vor allem, wenn man es mal, rein objektiv betrachtet, mit den hässlichen und ungezogenen Lämmern ihrer Gefährtinnen auf dem Deich vergleicht, den sogenannten schwarzen Schafen.

Dieses eng geknüpfte biologische Band zwischen Mutter und Kind ist im Tierreich etwas so Besonderes, dass der Verhaltensforscher Eibl-Eibesfeldt begeistert meinte, die Phase vor 150 Millionen Jahren, in denen sich diese Bindung entwickelte, sei eine »Sternstunde der Evolution«.2

Die Geburtsstunde der Paarbindung

Wir Menschen haben die Sternstunde der Evolution bedauerlicherweise nicht miterleben können, denn dieser Zeitpunkt lag lange vor der Entstehung von Homo Sapiens oder seiner affenähnlichen Vorfahren. Es sollte auch noch viele Millionen Jahre dauern, bis es erneut eine Sternstunde gab, in der sich nicht nur zwischen Mutter und Kind, sondern auch zwischen Mann und Frau ein Band der Liebe und Zugehörigkeit entwickelte.3

Vor etwa 4 Millionen Jahren war davon noch nichts zu erkennen. Damals lebte ein behaarter Menschenaffe, ein Vorfahr der Menschen (und auch der Schimpansen und Bonobos), in großen Gruppen von 80 bis 100 Mitgliedern in den afrikanischen Wäldern. In sexueller Hinsicht ging es in diesen Gruppen recht bunt und freizügig zu, ähnlich wie bei den Bonobos heute. Jedes Tier paarte sich mal hier und mal dort, und es verkehrten gerne auch mal zwei Weibchen oder zwei Männchen miteinander. Schließlich machte Sex richtig viel Spaß und man konnte so schön dabei entspannen. Darüber hinaus diente er als sozialer Kitt: Niemand stellte sich wegen ein bisschen Futterneid oder ein paar Aggressionen an, wenn man sich noch kurz zuvor gepaart hatte. Den so entstandenen Nachwuchs versorgten die Weibchen alleine oder mithilfe der anderen Weibchen, auch um ihren Nachwuchs besser zu schützen. Die Rolle des netten Stiefvaters war damals noch nicht verbreitet. Hätte ein Männchen an der Seite des Weibchens gelebt, das mit ihren Nachkommen nicht verwandt war, hätte er diese wahrscheinlich getötet. Doch vor etwa 3 Millionen Jahren kam langsam eine Veränderung in Gang. Aus Gründen, über die Wissenschaftler sich heute streiten, entwickelte unser Vorfahre, der Australopithecus, einen aufrechten Gang. Einige Theorien legen nahe, dass dieser kleinwüchsige Urmensch mit diesem Balanceakt mehr Überblick über das Geschehen in der Savanne haben und nahende Feinde früher erkennen wollte. Andere vermuten, dass er aufrecht schneller laufen konnte. Ungefähr in dieser Zeitspanne bildete sich auch die Körperbehaarung zurück, sodass die Jungen sich zunehmend schlechter am Fell ihrer Mütter festhalten konnten. Dazu kam noch eine weitere Veränderung: Die Gehirne wurden über die Generationen immer größer. Das war eigentlich eine feine Sache, doch sie hatte einen entscheidenden Nachteil: Die Köpfe der Ungeborenen wurden ebenfalls immer größer und deshalb konnten viele Mütter ihre Kinder nicht mehr gebären und starben bei der Geburt. Wahrscheinlich haben im Laufe der Evolution eher die Mütter überlebt, die ihren Nachwuchs besonders früh auf die Welt brachten, nämlich in einem Entwicklungsstadium, in dem deren Köpfchen noch durch den Geburtskanal passten. Infolge davon kamen die Kinder immer unreifer auf die Welt. Heutzutage sind die menschlichen Nachkommen mit Abstand die hilflosesten und unterentwickeltsten Geschöpfe auf unserem Planeten: Kein anderes Wesen benötigt so lange und intensive Brutpflege und Erziehung, bis es selbstständig ist. Ein Fohlen wagt schon wenige Augenblicke nach der Geburt die ersten Schritte und läuft schon nach wenigen Wochen mit der Herde mit. Ein Menschenjunges hingegen macht erst rund um seinen ersten Geburtstag die ersten unbeholfenen Schritte, bevor es wieder hinplumpst, und auch noch nach fünf Jahren braucht ein Erwachsener sämtliche Überredungskünste, um es zu einem längeren Spaziergang (man nennt es auch »Spazierenstehen«) zu motivieren. Dummerweise war vor einigen Millionen Jahren auch das Rad noch nicht erfunden, das heute in Form von Familienautos, Kinderwagen, Karre, Laufrad oder Roller den Kindertransport erheblich erleichtert. Wer schon einmal mit zwei kleinen Kindern auf dem Arm unter Zeitdruck durch ein Einkaufszentrum gelaufen ist, kann sich in etwa vorstellen, wie schwer es unsere Vorfahren hatten, ihre Kinder zu transportieren und gleichzeitig in der Savanne vor gefährlichen Raubtieren zu beschützen. Und als ich mit meinen Kindern auf Safari in Afrika war, mit brüllenden Löwen rund um das Zelt und freilaufenden wilden Tieren überall, wurde mir bewusst, wie bedrohlich das Leben für die Mütter unserer Vorfahren gewesen sein muss. Damals wie heute fehlten den Müttern mindestens zwei Arme, um sich und ihre Kinder zu versorgen und zu beschützen. Waren sie auf sich alleine gestellt, sah es für ihr Überleben nicht gerade rosig aus. Stellen Sie sich vor, dass die Mehrzahl aller Frauen viele Kinder gebar, von denen nicht ein einziges überlebte!

Da Frauen bekanntermaßen raffiniert sind, wussten sie sich in Bezug auf ihr Problem mit den zwei fehlenden Armen zu helfen. Einigen von ihnen muss es damals gelungen sein, einen Mann anzulocken und fest an sich zu binden, damit er sie und den gemeinsamen Nachwuchs beschützte und versorgte. Das kann man wirklich als eine Sternstunde der Liebe betrachten! Besonders weil im Tierreich die Bindung zwischen Weibchen und Männchen außerordentlich selten ist. Nur etwa 10 Prozent der Säugetiere sowie viele Vogelarten pflegen ihre Brut gemeinsam. Bei allen anderen Arten haben die Väter mit dem Decken des Weibchens ihren Anteil erfüllt. Haben Sie schon einmal einen Rammler gesehen, der saftigen Löwenzahn für seine Kaninchenjungen heranschleppt, oder kennen Sie einen Hammel, der dem Mutterschaf mal die Lämmer abnimmt, damit sie sich zum Mittagsschlaf hinlegen kann?

Die Menschen allerdings gingen Partnerschaften ein, was eine anspruchsvolle Aufgabe war. Sie mussten in der Lage sein, gemeinsam zu agieren, Konflikte zu lösen und ihr Verhalten aufeinander abzustimmen. Um diesen Prozess zu erleichtern, griff die erfinderische Mutter Natur in ihre Vorratskammer und mischte aus den chemischen Botenstoffen, die sie dort lagerte, eine sehr wirkungsvolle Substanz, die die Partner zusammenschweißte und ein Wohlgefühl auslöste (in Kapitel 4 schauen wir uns die Zusammensetzung genauer an). Die Verbindung hatte für beide Seiten Vorteile: Die Frau erhielt Essen, Schutz und Hilfe bei der Aufzucht ihrer Kinder, der Mann hatte relativ unkomplizierten Zugriff auf Sex. Der Primatenforscher Frans de Waal bringt diesen Tausch auf eine einfache Formel: »Sex gegen Essen.«4

Die Frauen und ihr Nachwuchs, denen es erfolgreich gelungen war, durch dieses biochemische »Band der Liebe«, wie es die amerikanische Anthropologin Helen Fisher nennt, einen Mann an sich zu binden, hatten eine deutlich höhere Überlebenschance als alleinstehende Frauen und ihre Kinder. Im Laufe unzähliger Generationen geschah ein Selektionsprozess, bei dem die Nachfahren von Müttern und Vätern mit einer, sehr salopp ausgedrückt, »Bindungs-Neigung«5 sich durchsetzten, und so setzte sich auch die Paarbindung durch. Die Paare blieben zusammen, jedenfalls für eine Weile, dann gingen sie auseinander, damals noch ohne traurige Briefe, ohne Zugewinnausgleich oder Streit um das Tafelsilber.

Die mütterliche Sippe der Steinzeit

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