Günter Franzen

Dein Tod wird uns
nicht scheiden

Tagebuch einer Trauer

Logo

Impressum

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlaggestaltung und Konzeption: Agentur R.M.E

Eschlbeck / Hanel / Gober

Umschlagmotiv: © STOCK4B / mauritius images

Autorenfoto: © Isolde Ohlbaum;

Familienfoto: privat

ISBN (E-Book) 978-3-451-80077-1

Meinen Töchtern

Franka und Sarah

Inhalt

Aus und vorbei

Ohne sie

Bei Aldi

Im Hades

Kurztherapie

Ferngespräche

PhotoScape

Auf dem Holzweg

Unter Männern

Der süße Brei

Nachttalk

Kehraus

Ballast

Melis

Unheilig

Es war einmal

Milde Gaben

Zuspruch am Morgen

Auf der Flucht

Bruderherz

Am schönen Moos

Guter Gott

Comeback

Friendscout

Hemd und Rock

Ihr Tagebuch, bei Nacht gelesen

Nachbemerkung

Literatur & Quellen

»Niemals sind wir ungeschützter gegen das Leiden, als wenn wir lieben, niemals hilfloser unglücklich, als wenn wir das geliebte Objekt oder seine Liebe verloren haben.«

Sigmund Freud

Aus und vorbei

25. Mai 2009

Wir sind heute hier zusammengekommen, um Abschied von Franziska zu nehmen, Frankas Mutter, meiner Frau. Ich habe mich trotz des anhaltenden Zustandes der Fassungslosigkeit entschlossen, selbst zu Ihnen und euch zu sprechen, weil es mir unerträglich wäre, aus fremdem Mund ein falsches Wort zu vernehmen, und wenn auch ich den richtigen Ton verfehlen sollte, dann muss ich das nur vor Franziska und mir selbst verantworten.

Liebe Schwiegereltern, ich glaube euer Befremden gespürt zu haben, als ich euch mitteilte, dass ich mich am heutigen Tag des Beistands durch einen Geistlichen nicht versichern würde. Es tut mir leid, damit Vorstellungen und Gefühle gläubiger, mir nahestehender Menschen zu verletzen, aber meine in den vergangenen zwölf Monaten zum Himmel geschickten Stoßgebete sind durchweg unerhört geblieben, und ich habe Gott, unseren Herrn, einmal mehr als derart rachsüchtig und gnadenlos erlebt, dass es mir heute unmöglich ist, die Tröstungen durch einen seiner Stellvertreter auf Erden anzunehmen. Ich sage es in Zorn und Verzweiflung: Er hat uns im Stich gelassen, also muss es – gewiss mehr schlecht als recht – auch ohne ihn gehen.

Die Frau, die am Morgen des 16. November 1992 auf meinem Weg zur Arbeit von Heddernheim ins Frankfurter Uniklinikum an der Station Fritz-Tarnow-Straße in die U-Bahn stieg, trug hochhackige, schwarze Wildlederstiefel, einen dunkelblauen, taillierten Wollmantel und eine tief in die Stirn gezogene Baskenmütze, unter der blaue Augen hervorblitzten; ein Augenpaar, das ich bis zum Ende meiner Tage nicht vergessen werde. Ihr Blick glitt wach und offen über die müden, hinter Büchern und Zeitungen verschanzten Fahrgäste hinweg; Ausdruck einer unerschrockenen, dem Menschen zugewandten Neugier, von der ich erst sehr viel später erfahren sollte, dass diese Eigenschaft nicht nur mich, sondern auch andere in ihren Bann schlug: Kollegen, Freunde, Patienten. Als die Unbekannte an der Hauptwache die U-Bahn verließ, ging ich wie von unsichtbaren Fäden gezogen hinter ihr her – »errötend folgt er ihren Spuren« –, und erst als sich diese Spuren im Menschengewirr der B-Ebene verloren, wurde ich der Fragwürdigkeit meines Treibens inne und ließ davon ab.

Wenige Monate später saß ich als Gast im Plenum eines psychoanalytischen Fachkongresses, und weil der Hauptvortrag gähnende Langeweile verströmte, wandte ich mich den vorderen Bankreihen zu und fuhr wie elektrisiert hoch, als ich eine moosgrüne, von einer Art Maulwurfkragen gezierte Cordbluse erblickte, aus der sich ein sehr zarter, sehr stolzer Nacken erhob. Wenn ich sage, dass es mir gelang, sie in der Kaffeepause in ein Gespräch zu verstricken, gibt das den Charakter unseres Austauschs nur unzulänglich wieder. Ich redete haltlos wie ein Wasserfall: von der schicksalhaften Begegnung in der U-Bahn, meiner Lebensgeschichte von den Anfängen bis in die Gegenwart, von dem Bedürfnis, sie wiederzusehen, und als das Bekenntnisstakkato in dem Wunsch gipfelte, mit ihr ein Kind zu haben, schaute sie mich an, als ob ich von Sinnen sei, was ja auch zweifellos der Fall war. Sie beendete meinen manischen Monolog mit dem Hinweis, ihren Kaffee selbst bezahlen zu wollen, und der nüchternen Feststellung, dass ich verheiratet sei und bereits ein Kind hätte.

In den folgenden Jahren machte ich ihr aus der Ferne den Hof, schickte selbst gekochte Zitronenmarmelade, einen schwarzen Porzellanpanther als Salzstreuer und jede Menge lyrisch gesättigter Grußpostkarten, aber bei Licht betrachtet wollte ich eigentlich immer nur spielen, immer weiterspielen, ohne etwas zu riskieren; Symptom einer lang gestreckten, bis zum 50. Lebensjahr ausgedehnten Pubertät im rotgrünen Juste-Milieu – 1460 vergeudete Tage, die Franziska, Franka und mir in der Bilanz unseres Lebens fehlen.

Am 22. August 1997 lud sie mich zur Pilzsuche in den im Hintertaunus gelegenen Werheimer Forst ein. Pilze fanden wir keine, aber wir kamen uns näher. Als sie am Ende eines lichtdurchfluteten, von scheuen Zärtlichkeiten gesäumten Tages in ihren betagten Golf kletterte, sagte sie mir, dass sie sich auf mich einlassen wolle, aber nicht als Geliebte; den Status habe sie hinlänglich genossen: Als ich in dieser Nacht ihrem davonfahrenden Auto hinterherstarrte, wusste ich, dass die Tändelei vorbei war, dass diese Frau keine Vagheit des Herzens dulden würde, und dass ich springen musste. Ich sprang und habe es nie bereut.

Die Zeit unserer Zweisamkeit war kurz, aber Franziska lehrte mich in dieser Zeit, die Welt mit ihren Augen zu sehen. Im Herbst desselben Jahres fuhren wir für eine Woche nach Davos. An einem kalten, sonnigen Tag wanderten wir zu dem auf 2300 Metern Höhe gelegenen Wandfluh-Joch. Die in gleißendes Licht getauchte Bergstation war menschenleer, und wir lagen Hand in Hand auf den zusammengeschobenen Holzliegen, um auszuruhen. Ich gab mich dem Duft ihrer erhitzten, schweißnassen Haut hin, und sie deutete mit dem Finger auf einen leuchtenden, smaragdfarbenen, in das ferne Alpenpanorama eingelassenen Flecken: »Flechten«, sagte sie, »ein Meer von Flechten, siehst du sie?«, und so gab sie den Dingen einen Namen, für die ich bislang keinen hatte. Ihr Sinn für die Schönheit der Welt und die ungeheure Vielfalt des Lebens ging in diesen und vielen anderen glücklichen Momenten auf mich über, und sie hat mich an einer Lebendigkeit teilhaben lassen, die mir nicht in die Wiege gelegt war: »Deutsche Klinke«, schrieb Wolfgang Neuß über mich und die Männer meiner Generation, »immer so niedergedrückt.«

Weil mich Franziska in ihren letzten, mir hinterlassenen Aufzeichnungen wieder und wieder beschworen hat, um unseres Kindes Willen im Angesicht ihres Todes nicht in Schwermut und Versteinerung zu verfallen, möchte ich versuchen, ein letztes Mal ihrem Wunsch nachzukommen, was mir überraschend leichtfällt, wenn ich an Franka denke.

Wir haben sie mit allen Fasern unserer Herzen herbeigesehnt, und als dieses zartrosige Wesen am 3. April 1999 das Licht der Welt erblickte und Franziska es mir nach der Entbindung in den Arm legte, war ich von einer Seligkeit durchdrungen, von der ich 52 Jahre lang nicht zu hoffen gewagt hatte, dass sie mir je zuteilwerden könnte.

Sie war 39, sie war mit Leib und Seele Psychoanalytikerin, und sie war mit Leib und Seele Mutter und schenkte ihrem Kind ihre uneingeschränkte, vorbehaltlose Zuneigung, so, als habe das innere Programm der Mutterschaft die ganze Zeit über in ihr bereitgelegen. Seit Franka ihre Sprachfähigkeit erlangte, spielten die beiden nach dem sonntäglichen Aufwachen im Elternbett ein Spiel, das darin bestand, die Fingerkuppen der großen mit der der kleinen Hand zu verbinden. Dann flüsterte Franziska: »Strom der Liebe« und Franka antwortete: »Strom der Liebe.«

Ich hoffe inständig, dass das zehnjährige Bad im Meer der mütterlichen Liebe ausreicht, um unsere Tochter vor den Fährnissen und Verletzbarkeiten der weiblichen Existenz zu schützen, und ihr ermöglicht, das Erbe Franziskas anzutreten, das in einer, wenngleich knappen, so doch sehr frohen Botschaft besteht: Es ist wunderbar, eine Frau, es ist wunderbar, eine Mutter zu sein. Wenn ich jetzt so vor Ihnen und euch stehe und rede und rede und drohe, kein Ende zu finden, beschreibt das die Situation der letzten Wochen unserer Dreisamkeit. Es gehörte zum abendlichen Einschlafritual, dass ich Franziska und Franka Geschichten vorlas, kreuz und quer durch die Jugend- und Weltliteratur: Astrid Lindgren, Ottfried Preußler, Anton Tschechow und zuletzt Fritz Mühlenwegs Abenteuerepos In geheimer Mission durch die Wüste Gobi. Es begann mit 30 Minuten und steigerte sich von Abend zu Abend bis zu anderthalb Stunden. Ich las und erzählte in zunehmender Panik wie Scheherazade zur Abwendung des über ihr schwebenden Schwertes, bis Franziska am Ende sagte: »Es ist genug, Liebster, ich bin müde.« Wir sind auf der Reise durch die Wüste Gobi bis zur Seite 593 vorgestoßen: »Aber die Hügel waren rund, die Berge sahen aus wie bei Anbeginn der Welt, und die Karawanenstraße zog durch das breite Tal nach oben. Sie schwankte nicht nach links und sie bog nicht nach rechts. Sie führte von Sutschou nach Barkul oder Uljassutai, das war ihre Aufgabe. An Gold dachte keiner der Vorüberziehenden mehr.«

Die Karawane zieht weiter, liebe Franka, und wir beide werden allein herausfinden müssen, welche Kapitel auf uns warten und welcher Weg für uns der beste ist.

Wenn dieser Weg für unser Kind geebnet, wenn die Arbeit des Lebens getan und die Zeit reif ist, dann will ich dir, ohne zu zögern, überallhin folgen, meine Liebste, um von deinen Armen umfangen zu werden: Into the Great Wide Open.

~

Ohne sie

Juni 2009

Der wahre Souverän unseres Gemeinwesens ist der Überdruss. Im Sommer diesen Jahres lässt er über einen seiner Pressesprecher in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verkünden, dass die Saison für Bücher über Krebs und Tod beendet sei: »Erzählt von dem, was zählt, und nicht von Tumormarkern. Erzählt vom Leben. Das Ende kennen wir schon.« Damit spricht er zweifellos einer Leserschaft aus dem Herzen, die sich aufgrund der demografischen Entwicklung vorwiegend aus den schlagfesten und witterungsbeständigen Best Agern der Jahrgänge 1930 bis 1950 rekrutiert, die sich nicht nur ans Leben klammern, wie es der Autor besungen wissen will, sondern auch die der Apotheken-Umschau entnommene Glücksformel kennen, mit der es bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag auszudehnen ist: Mülltrennung und Heilfasten, Bachblütentherapie und Wassertreten, Bio-Kost und Gemütsschonung und nach dem letzten Fango vollzieht sich das Finale womöglich so schmerzfrei, reibungslos und geräuscharm wie der Etagenwechsel in einem Wellness-Hotel der Fünf-Sterne-Kategorie.

Das Ende kennen wir schon? Sie werden ihr Wunder erleben, und davon, dass es kein blaues sein wird, könnten die jährlich 200 000 Krebstoten ein Lied singen, wenn sie denn eine Stimme hätten.

Wenn es zutrifft, dass der typische Angehörige der studentischen Protestgeneration unter anderem daran zu erkennen ist, dass es ihm bis ins Rentenalter vergönnt ist, unter Umgehung der in der bürgerlichen Restgesellschaft üblichen Reifungsprozesse, wie eingefroren in der Gestalt des Adoleszenten zu verharren, kann ich von mir sagen, dass mein Bad im Jungbrunnen des Alternativmilieus vor zwölf Jahren mit Anfang 50 vergleichsweise früh und jäh endete. Getrieben von dem, was der Essayist Michael Rutschky als Erfahrungshunger bezeichnete, ein Zustand, in dem das kollektive Ideal der Weltrevolution im Verlauf seines Scheiterns auf die Abmessungen einer individuellen Utopie der Unbestimmtheit, des Vagierens, der Strukturlosigkeit, der Entgrenzung und der radikalen Selbstverwirklichung schrumpfte, machte ich zu diesem Zeitpunkt einer Frau den Hof, die als Psychoanalytikerin meine halbherzige Werbung über mehrere Jahre mit einer Mischung aus Verwunderung und klinischem Interesse hatte über sich ergehen lassen und der an einem schönen Augusttag des Jahres 1997 angesichts meines unverbindlichen Geplänkels endgültig der Geduldsfaden riss: »Wenn du mich mit deiner poetischen Suada wirklich meinst, musst du dich entscheiden: Take it or leave it!«

Ihr Ultimatum, lebensklug und frei von Frivolität, verwandelte den blinkenden Talmipanzer des narzisstischen Blenders in das schäbige Kleid eines Narren, der, ausgestattet mit dem Habitus der moralischen und theoretischen Überlegenheit des undogmatischen Linken, alles in trügerischen Einklang zu bringen suchte: die Launen mit den Gelegenheiten, das Gewünschte mit dem Vorhandenen und das literarische Kunstgewerbe mit der Herstellung vorübergehender Erregungszustände: Dies bisschen Lust will Ewigkeit? Das Repertoire hatte sich offensichtlich erschöpft, und als die kühle Selbsterkenntnis ins gewöhnliche Selbstmitleid zu kippen drohte, ging mir ein Licht auf. Da war es doch endlich, das herbeigesehnte sehende Gesicht; offene Augen, die dich umfangen und halten mit Wissen und Güte, Verlangen und Hingabe, Wärme und Vertrauen. Ich war dem Menschen begegnet, der mir bestimmt war von Anbeginn, von dem ich wusste, dass er zu mir passte wie keiner vor und nach ihm, und weil das so war, bedurfte es nur eines Wortes: »Ja.«

Danach war alles ganz einfach. Unter dem Müll postmoderner Auswegsfülle, aus den verleugneten und verschütteten Quellen zweier katholischer Kindheiten sprang jenseits verschlissener Liebesschwüre ein Gefühl unauflöslicher Verbundenheit auf, ein von heiligem Ernst beflügelter Glaube, der den romantischen Furor und die wechselseitige physische Anziehung aufhob, ohne sie zu unterwerfen: Du und Ich, Treue um Treue bis in alle Ewigkeit.

Credo quia absurdum, das heißt, es ist gewiss, weil es unmöglich scheint, und nach 20-monatiger Adventszeit bestaunten eine nicht mehr ganz junge Frau und ein Mann in fortgeschrittenem Alter das atmende Wunder, das sie selbst hervorbringen durften: »Ein Kindelein so zart und fein, das soll euer Freud und Wonne sein.« Ein dankbares Paar, eine Handbreit über den Niederungen des Alltags, zitternd vor Glück, das, gleichermaßen unverdient wie uneinklagbar, zweifellos von oben kommt. Und Gott war mit den Liebenden, zehn Jahre oder 3650 Tage und Nächte lang. Bis zum Morgen des 15. Juni 2008.

Der Engel, der die Vertreibung verkündet, ist kein mit dem Flammenschwert drohender Cherubim, sondern der stets freundlich lächelnde Leiter der onkologischen Abteilung des St.-Markus-Krankenhauses. Er kann nach mehrwöchigen diagnostischen Anstrengungen und dem erfolglosen Einsatz panzerbrechender Antibiotika ausschließen, dass es sich bei der anhaltenden Atemnot um das Symptom eines grippalen Infekts, einer Bronchitis oder einer Pneumonie handelt. Er spricht mit fremden Zungen und seine Stimme hat einen dünnen metallischen Klang: »Bronchialkarzinom Stadium IV. Maligner Pleuraerguss. Weichteilmetastase linker Oberarm.«

Im Andachtsraum der Klinik sinkt sie mir weinend in die Arme: »Halt mich fest, ich bin verloren. Das wird die Hölle. Bring die Kleine aus der Schusslinie.«

Da, wo die Haut besonders dünn, durchscheinend und empfänglich ist für ganz andersartige Berührungen, unterhalb ihres linken Schulterblatts, wird der Port gelegt, eine im Durchmesser etwa ein Zentimeter große künstliche Öffnung, durch die diverse chemische Kampfstoffe an die Tumore herangeführt werden sollen. Durch die orale Beigabe acht verschiedener Präparate seien, so heißt es, die Kollateralschäden bei einer positiven Grundeinstellung der Patientin auf nahezu null zu minimieren. Die geforderte Einstellung ist vorhanden, die Nebenwirkungen aber kommen, bleiben und breiten sich aus: Übelkeit, Erbrechen, Krämpfe, Bewegungsstörungen, Fieber, Schüttelfrost, Blutungen, Angstattacken.

In den Feuerpausen kämpft sie sich mit dezenten Kosmetika und erlesener Kleidung in einen gesellschaftsfähigen Zustand zurück und beugt den stolzen Nacken nicht. Sie weist meine Dauerbemutterung zurück, streitet mit mir über die Lufthoheit im Familienverband, kontrolliert die Schularbeiten, putzt die silbernen Serviettenringe, wässert das Orangenbäumchen, lädt Freunde zum Spargelessen ein, verteilt Weihnachtsgeschenke an das Krankenhauspersonal, legt für Kind und Mann Tagebücher an, verabschiedet ihre Patienten und versichert sich in den raren Momenten der Schmerzfreiheit einer körperlichen Nähe, deren wir beide mehr denn je bedürfen: »In the chilly hours and minutes of uncertainty I want to be in the warm hold of your loving mind.«

Der sanfte Onkologe mit dem eisernen Kern bemäntelt das Ende seiner Kunst mit Durchhalteparolen und redet von den Pfeilen, die er im Köcher, und Trümpfen, die er im Ärmel habe. Das Arsenal der maximalinvasiven Verfahren wird um die Strahlentherapie erweitert, die die Haut in der Armbeuge nach drei Wochen wie mit einem Lötkolben bearbeitet erscheinen lässt: Der Tumor ist weder grausam noch heimtückisch und noch nicht einmal blind. Er ist vollkommen eigenschaftslos und macht einfach und unaufhaltsam weiter: Die Gewalttätigkeit der Medizin, die Gleichgültigkeit der Natur und das Schweigen Gottes verbünden sich gegen mein Liebstes auf Erden, die Frau, die unter meinen Händen und Augen im Schmerz zerbricht und dahinwelkt Stunde um Stunde.

Im Verlauf von vier chemotherapeutischen Behandlungszyklen sinkt sie elfmal in die Knie und steht zehnmal wieder auf. Kurz vor dem Eintritt in die Zone des Unsagbaren bittet sie mich zu sich und sagt flüsternd, dass sie das Kind meiner Obhut anvertrauen müsse und es als eine Ehre betrachte, mit mir verheiratet gewesen zu sein. Aufschreiend verbiete ich ihr, von sich und uns in der Vergangenheitsform zu reden, und fordere sie in ultimativem Tonfall auf, die verfluchten Medikamente zu schlucken und das Wasser zu trinken.

Sie entzieht sich meinen peinigenden Worten und erlischt am 15. Mai des Jahres 2009 um 22 Uhr 45. Ich schließe ihre Augen, die blauen, küsse ihre Lippen, die zarten, löse die über ihrem Rücken verteilten Morphiumpflaster, streife ihr den Trauring vom Finger und umrahme das schöne, schmal gewordene Gesicht mit den Blütenblättern weißer Rosen, um dem Kind den Anblick der toten Mutter zu erleichtern.

Am nächsten Morgen entsendet das Bestattungsinstitut zwei robuste türkische Mitarbeiter, die radebrechend ihre Anteilnahme herunterleiern und sich mit einem blauen Plastiksack in das Sterbezimmer zurückziehen. Das Geräusch des sich über ihr schließenden Reißverschlusses fräst sich durch die Gehörgänge und will nie mehr verebben.

Dem Grauen standhalten, aber wie? »Bereits kurze Zeit nach dem Tod des Kranken«, versichert Sigmund Freud in seinen 1895 erschienenen Studien über Hysterie, »setzt die psychische Verarbeitung des Verlustes ein, in deren Verlauf die Szenen der Krankheit und des Sterbens wieder und wieder vor Augen geführt werden. So macht der Trauernde jeden Tag jeden Eindruck von neuem durch, weint und tröstet sich darüber – man möchte sagen in Muße.« Nach dieser nüchternen Definition bin ich ein schlechter Trauerarbeiter: gehe keine Wege ab, will nichts durcharbeiten, suche keinen Trost, vergieße keine Träne, suhle mich noch nicht einmal im Selbstmitleid, will sie nur wiederhaben, und zwar sofort. Der Hinterbliebene als zweibeiniger, neben sich stehender Halbautomat. Er stellt den Wecker, belegt das Pausenbrot, schält einen Apfel, schneidet Fingernägel, leistet Unterschriften, verschickt Sterbeurkunden, sortiert den Nachlass, verliert sich kurzfristig im Duft ihrer Kleider, erwacht an der Kasse des Lebensmitteldiscounters in einer aus hässlichen, dumm plappernden Matronen bestehenden Käuferschlange, schreddert einen Korb mit Kondolenzschreiben, in denen ihm im Dutzend billiger bescheinigt wird, dass die Erinnerung eine Festung sei, aus der ihn niemand verjagen könne, und nimmt schließlich an einem Leichenschmaus teil, in dessen Verlauf er die Trauergemeinde beim behaglichen Öffnen und Schließen des Mundes unter die Lupe nimmt: Es schmeckt schon wieder.

Nur nachts, wenn die Tür zum Kinderzimmer ins Schloss gefallen ist und der Gift und Galle spuckende Menschenfeind das Visier geöffnet und die Rüstung in der Garderobe abgelegt hat, hört er eine Stimme, die schluchzend und stöhnend immer wieder ihren Namen ruft. Es ist seine eigene.

Friendly Fire ist ein aus dem Militärjargon stammender Ausdruck, der den irrtümlichen Beschuss eigener oder verbündeter Streitkräfte in kriegerischen Auseinandersetzungen bezeichnet. Das freundliche Fegefeuer, in das die jährlich 100 000 neu erkrankten Krebspatienten geraten, beruht nicht auf Irrtümern, sondern auf einem Glaubenssatz, der nicht nur die Medizin beherrscht: Der gute Zweck heiligt allemal die rabiaten Mittel. Über die planmäßige Verwandlung des vom Krebs befallenen menschlichen Körpers in ein von Strahlen und Chemikalien zerpflügtes Schlachtfeld wäre gewiss mit weniger Zorn und Eifer zu sprechen, wenn dieser Methode der totalen Kriegsführung ein nennenswerter Erfolg beschieden wäre. Davon aber kann keine Rede sein. Die Wissenschaftsjournalisten Richard Friebe und Gerd Knoll resümieren in einem Aufsatz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Forschungsergebnisse des diesjährigen Kongresses der American Association of Clinical Oncology in Orlando und stellen fest, dass auf allen Feldern der Krebsbekämpfung Ernüchterung eingekehrt sei: »Größere Therapieerfolge im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit hat es, abgesehen von ein paar Ausnahmen wie bei Hodenkrebs und Leukämieerkrankungen von Kindern, seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts praktisch nicht mehr gegeben. Und das, obwohl man inzwischen unzählige an der Entstehung von Krebs beteiligte Gene, Proteine, Hilfsfaktoren und molekulare Signalkaskaden entschlüsselt hat.«

Der hinlänglich dokumentierte Zusammenstoß mit der Wirklichkeit müsste Krebsforscher und Behandler eigentlich zum Eingeständnis ihrer Ohnmacht bewegen und sie veranlassen, sich darauf zu beschränken, angesichts der Unabänderlichkeit des Krankheitsverlaufs ihr gesamtes medizinisches Wissen in den Dienst der Eindämmung des grausamen Geschehens zu stellen. Dass ich diese adaptive, von professioneller Demut und Selbstlosigkeit geprägte Haltung in den entsetzlichen Stunden des Abschieds vergebens gesucht habe, heißt nicht, dass es sie nicht gibt – ich mag nicht ausschließen, dass mich das Ausmaß der Verlorenheit unempfänglich gemacht hat für derartige Bemühungen.

Wo der Verlust groß ist, unterliegt jede Aussage über die Hoffnung einer zweifachen Gefahr: Der Versuchung des Kitsches und der Versöhnung. Ich weiß nicht, ob ich diesen Gefahren entgehe, wenn ich behaupte, dass es nicht der Bindungslose, sondern der Liebende ist, der mit einem Schmerz belohnt wird, der ihn gleichzeitig zu zerbrechen droht. Demnach ist die Trauer der Preis, der dafür zu entrichten ist, Liebe empfinden zu dürfen. Es ist kein Trost, aber ich bin bereit, den Preis für diese Liebe zu zahlen: gestern, heute, morgen.

~

Bei Aldi

Juni 2009

Seit ich sie zum Abschied küsste, der erste Kuss, der unerwidert blieb, ist etwas auf meinen Lippen zurückgeblieben, etwas Kaltes, Bitteres, der Geschmack der Leere, der nicht vergehen will und sich ausbreitet auf alles und jeden. Dass ich mehr essen müsse, weil ich so dünn geworden sei, sagt die Kleine, und ich setze ihr die Lieblingsspeise in den ihr vertrauten Varianten vor: Spaghetti Bolognese, Spaghetti Carbonara, Spaghetti Napoli, Spaghetti Aglio Olio, Spaghetti mit Lachs, Spaghetti mit Pesto, Spaghetti ohne alles. Immer noch besser als Pommes – und wieder eine Woche geschafft. Als Beilage den obligatorischen Salat wegen der Ausgewogenheit ihrer Ernährung. Sie rührt die Sauce nach dem Rezept ihrer Mutter an: Olivenöl, Orangensaft, Traubenessig, Pfeffer, Senf, Salz, Zucker.

Bei Aldi fülle ich die Vorräte auf. In der Käuferschlange steht vor mir eine fahlgelb blondierte Frau. Über dem Biene-Maja-T-Shirt trägt sie eine schwarze Lacklederweste, deren kurzer Schnitt den Blick auf eine in Steißhöhe eingeschriebene Tätowierung freigibt. Sie legt mit zittrigen Händen zwei Flaschen Grappa und ein Netz mit Zwiebeln auf das Transportband. Die Ware läuft durch den Scanner und der Verkäufer nennt den Betrag. Die Frau weigert sich zu zahlen, weil sich die Zwiebeln im Angebot befänden und 25 Cent billiger sein müssten. Der Verkäufer lässt den Filialleiter kommen, der sein Bedauern ausdrückt und die Frau darauf hinweist, dass der Aktionspreis für Zwiebeln in der laufenden Woche nicht mehr gültig sei. Die Frau steht wie in Stein gemeißelt im Pulk der murrenden Konsumenten, kaut ihr Kaugummi und sagt: »Das könnt ihr mit mir nicht machen. Das könnt ihr mit mir nicht machen. Das könnt ihr nicht mit mir machen.« Nachdem sie den Satz mit tonloser Stimme fünf Mal heruntergeleiert hat, erklärt sich der Filialleiter bereit, ihr die Zwiebeln aus Kulanzgründen zum alten Preis zu überlassen. Während sie dem Verkäufer vierzehn Euro in kleinen Münzen nach und nach in die Hand zählt, ist das Ausmaß ihres kläglichen Triumphs am Spiel der Kiefermuskulatur abzulesen: Sie zermalmt ihr Kaugummi wie die Welt, die sie in ihrem gewohnten Lauf für ganze zehn Minuten aufgehalten hat. Die Frau verströmt die Feindseligkeit eines lädierten Insekts, dem die Natur bis auf den Chitinpanzer und das Beißwerkzeug alles versagt hat: Anmut, Flügel, Farbe, Ausdruck. Welchen Rang nimmt die querulatorische Alkoholikerin im Plan der Schöpfung ein? Warum darf diese Frau leben und warum musste die meine sterben?

~

Im Hades

20. Juli 2009 – März 2011

Ich sage: »Guten Tag«, ich sage: »Auf Wiedersehen«, ich sage: »Danke«, ich sage: »Bitte«, ich sage: »Gern geschehen«, und die Menschen ziehen an mir vorüber wie die in einen Guckkasten eingesperrten Figuren des Papiertheaters: schwach koloriert und eindimensional. 18 Stunden sind ein verdammt langer Tag, an dessen Ende sich endlich die Pforten zur Unterwelt öffnen. Vor dem Abstieg in die Tiefe lese ich Sartres Das Spiel ist aus. Zwei gewaltsam ums Leben gekommene Menschen, ein Mann und eine Frau, folgen nach ihrem Tod einer inneren Stimme, die sie in ein Zimmer führt, wo sie der Vertreter einer höheren Instanz davon in Kenntnis setzt, dass es ihnen weiterhin gestattet ist, sich in der sichtbaren Welt zu bewegen, ohne jedoch von den Lebenden wahrgenommen zu werden. Nachdem sie Gefallen aneinander gefunden haben, werden sie erneut einbestellt und darüber informiert, dass sie eigentlich seit ihrer Geburt füreinander bestimmt waren, sich jedoch wegen eines Fehlers im Verwaltungsapparat nie begegnet sind. Sie erhalten die Möglichkeit ins Leben zurückzukehren, wenn es ihnen gelingt, binnen 24 Stunden die Beständigkeit ihrer Liebe unter Beweis zu stellen. Dass sie das Spiel verlieren, liegt weniger an der Unvereinbarkeit ihrer Herkunftsmilieus als an ihrer Neigung, sich über Belanglosigkeiten in die Haare zu geraten. Ich denke, dass Franziska und ich für dieses Spiel besser gerüstet sind, und mache mich auf den Weg in meine nächtliche Unterwelt.

Ich finde mich in einer Wohnung wieder, in der es aussieht wie in einer studentischen Wohngemeinschaft in den Siebzigern. In der Spüle stapelt sich schmutziges Geschirr, in den Räumen liegen Matratzen auf dem Fußboden. Franziska sitzt mit einem jungen Mann am Küchentisch, dessen Gesicht ich von ihren alten Urlaubsfotos kenne, und sagt, dass sie ihn zum Abendessen eingeladen hat. Er berührt sie in einer Weise, die dafür spricht, dass zwischen den beiden etwas ist. Ich zittere vor Wut am ganzen Leib und als sie sagt, dass er ein sehr ausdauernder Liebhaber ist, glaube ich verrückt zu werden. Ich weiß, dass ich jetzt ganz lässig und locker reagieren muss, wenn ich sie nicht verlieren will, und darf ihr jetzt um keinen Preis eine Szene machen. Während ich mich noch ermahne, Haltung zu bewahren, schließt sich hinter den beiden die Tür unseres Schlafzimmers, und ich sehe durch die Milchglasscheibe die zerfließenden Umrisse ihrer ineinander verschlungenen Leiber. –

Wir fahren mit dem Auto in der Gegend herum, es ist fast wie sonst. Sie trägt die weiße Bluse mit den bunten Knöpfen, die ich ihr aus dem Second-Hand-Laden in der Schillerstraße mitgebracht habe; darüber die japanische Seidenweste, die ihren Busen besonders verlockend erscheinen lässt. Sie sagt, Finger weg vor all den Leuten, und macht sich über meinen unbeholfenen Umgang mit dem Navigationsgerät lustig. Die Stimmung ist unbeschwert. Wir schauen uns immer wieder an, so, als könnten wir unser Glück nicht fassen und müssten uns der Anwesenheit des anderen vergewissern. Sie will anschließend in ihre Intervisionsgruppe, ich bin mit meinem ehemaligen Kollegen von der Uni verabredet. Wir sitzen im Café und plötzlich kann ich nicht an mich halten und es platzt aus mir heraus: Das ist doch unglaublich, dass ich hier mit dir in der Sonne sitzen darf, obwohl du doch am 15. Mai gestorben bist. –

Ich muss unbedingt mit ihr reden und suche sie im winterlichen Frankfurt, es kann aber auch Hanau sein. Auf dem Weihnachtsmarkt steht sie plötzlich vor mir. Sie ist gekleidet wie im August 1997 und ich mache ihr wegen der dünnen Klamotten Vorhaltungen. Sie ist völlig unversehrt, aber in ihrem Blick steht, dass sie sterben wird und gehen muss. Ihre Augen sind mit Tränen gefüllt, aber voller Liebe. Ich will ihr sagen, dass sie mir erlauben soll, sie zu begleiten, aber sie klettert in ein unbeleuchtetes Riesenrad und verschwindet nach oben. –

Ich nähere mich Franziska von der Seite, streife mit der Nase ihre Nackenhaare, öffne ihre Lippen mit den meinen und triumphiere: Na bitte, geht doch. –