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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1.

„Hernán Cortés“ – die verschnörkelten, vormals so stolzen Lettern, die den Namen des Entdeckers und Eroberers von Neuspanien bildeten, waren jetzt angekratzt und lädiert wie der verblassende Ruhm jenes Mannes. Die ersten drei Buchstaben des Vornamens am Heck des Schiffes waren kaum noch zu lesen, und dem „Cortés“ fehlte das „s“ am Ende bereits zu einem so großen Teil, daß auch dieses nicht mehr zu entziffern war. Nicht besser war es um die gleichen Schriftzüge bestellt, die den Backbord- und Steuerbordbug der dreimastigen Galeone zierten.

Doch wenn es nur das gewesen wäre!

Die einst vollgetakelte Galeone verfügte jetzt nur noch über das Großsegel und die Fock, aber auch die wiesen große Löcher und Risse auf. Alle anderen Segel, auch die Blinde, waren durch heftige Stürme vernichtet worden. Und dieser Rest von Rigg bot einen so erbärmlichen Anblick, daß jedem Seemann dabei klamm ums Herz werden mußte. Das laufende und stehende Gut befand sich in einem heillosen Durcheinander, es hätte dringend klariert werden müssen. Schier unentwirrbar hing es an Deck hinunter. Der frische Wind aus Nordosten sang in den Pardunen, den Schoten, Brassen und Fallen, und die Blöcke und Rahen stimmten eine knarrende Begleitung zu dem leisen, höhnischen Lied an.

Der Rumpf des Schiffes war ebenfalls ramponiert und wies hier und da Lecks auf, die niemand mehr vollständig zu reparieren imstande war.

Denn die Mannschaft war arg dezimiert. Nur noch fünf Männer befanden sich an Bord, und von diesen hatte einer die Augen für alle Ewigkeit geschlossen. Vor knapp einer Stunde war sein letzter schwacher Lebensfunke erloschen.

Ein wahres Bild des Jammers war diese „Hernán Cortés“ also, ein Schiff, das nur ein Phantast noch als seetüchtig zu bezeichnen gewagt hätte. Ein dahingleitendes Wrack, dessen elender Anblick in diesem Moment nur durch die Schönheit der Insel gemildert wurde.

Mitten in die Bucht dieser Insel trieb die „Hernán Cortés“. Die Bucht schloß sich langsam mit ihrem Ufer um sie, griff nach ihr, schien ein Auffangbecken und die endgültige Stätte der Ruhe für sie zu sein.

Offenbar war es die ausgleichende Gerechtigkeit der Natur, die hier ihre Hand im Spiel hatte. Auf der einen Seite standen auf dem Deck des Schiffes die Überlebenden eines höllischen Törns, denen das Grauen unauslöschlich in die Gesichter geprägt war. Auf der anderen Seite lächelte das zauberhafte Antlitz eines himmlischen Paradieses auf Erden.

Langgestreckt zog sich die Bucht dahin, über dem Saum ihres geschwungenen weißen Sandstrandes wiegten sich die Wipfel von Palmen im Wind. Ein Dufthauch und eine Aura des Friedens schienen diesem Platz anzuhaften. Von kristallener Klarheit war das Wasser, in dem man Fische und anderes Meeresgetier mit bloßem Auge erkennen konnte. Eine milde Brandung leckte mit verhaltenem Rauschen gegen das Ufer.

Keine Untiefen gab es in dieser Bucht, keine tückischen Riffe und keine einzige Sandbank, die der Fahrt der „Hernán Cortés“ ein jähes Ende bereiten konnten. Hier öffnete sich ein natürlicher Hafen, in dem zwanzig, dreißig oder noch mehr Segelschiffe dieser Größe Platz finden konnten.

Eine Stätte der Beschaulichkeit, doch auf dem Schiff lauerte immer noch das Verderben.

Die drei Männer auf der Kuhl – Serafin, Joaquin und Domingo – hatten ihr trauriges Werk soeben beendet. Sie hatten den Leichnam ihres Kameraden Esteban in weißes Segeltuch eingenäht. Jetzt bückten sie sich, hievten den schlaffen Körper ein wenig hoch und betteten ihn auf eine große Planke. Sie hoben die Bahre mit dem Toten auf und trugen sie langsam zum Steuerbordschanzkleid. Es bereitete ihnen Mühe. Ihre letzten Kräfte drohten sie jeden Augenblick zu verlassen.

Als sie die Kante der Planke, auf der die Füße des Toten ruhten, auf der Handleiste des Schanzkleides absetzten und verhielten, sagte Serafin: „Wartet hier auf mich.“ Er ließ die Planke los und wandte sich ab, ein großer, von den gnadenlosen Härten der langen Reise gebeugter Mann mit dichtem, schwarzem Bart.

Joaquin blickte ihn aus seinen wie im Fieber geweiteten Augen an. „Madre de Dios, wohin willst du denn – ausgerechnet jetzt?“

„Ich will ihn holen.“

„Ihn?“ Domingos Züge verzerrten sich zu einer haßerfüllten Grimasse. „Verflucht soll er sein. Die Hölle soll ihn verschlingen. Er hat hier nichts zu suchen.“

„Doch“, sagte Serafin erstaunlich ruhig. „Er wird das letzte Gebet für den armen Esteban sprechen. Es ist seine Pflicht als Kapitän dieses Schiffes.“

„Der Capitán.“ Joaquin sprach das Wort voll Verachtung aus. „Ich sage, wir brauchen ihn nicht mehr. Wir können auf ihn verzichten. Er ist weder in der Lage, sinnvolle Befehle zu erteilen noch Gebete aufzusagen. Der Wahnsinn hat seinen Geist umnachtet.“

„Nicht ganz“, erwiderte Serafin, der noch über die meisten Energien verfügte. „Oder vielleicht tut er auch nur so, als sei er nicht mehr bei Verstand. Das würde ihm die Verantwortung abnehmen und wäre allzu bequem.“

Er wandte sich um, ging über die verschmutzten Planken der Kuhl auf das Achterdecksschott zu, öffnete es und betrat den düsteren Gang, der vor die Tür der Kapitänskammer führte. Dicht vor dem Allerheiligsten von Don Mariano José de Larra verharrte er einen Atemzug lang, dann stieß er die Tür auf, ohne vorher anzuklopfen.

Das Pult des Kapitäns war eine gewichtige Konstruktion aus massivem Nußbaumholz, mit vielen Intarsien und gedrechselten Beinen. Es beherrschte das Zentrum der Kammer, der Blick jedes Eintretenden mußte unweigerlich von ihm angezogen werden.

Don Mariano saß hinter dem Pult – wie Serafin es nicht anders erwartet hatte. Eben noch hatte der Kapitän sich tief über seine Aufzeichnungen gebeugt, jetzt aber sah er jäh auf und fixierte den Eindringling feindselig und zurechtweisend.

Serfain ließ die Tür offenstehen.

Langsam näherte er sich dem Pult. Er wich Don Marianos Blick nicht aus, sondern begegnete ihm ohne Furcht.

Der Kapitän war ein hagerer, nicht übermäßig großer Mann Ende der Vierzig, mit scharfgeschnittenen, adlerhaften Zügen. Sein Haupthaar hatte er auf See völlig eingebüßt. Es hatte sich, wie Serafin wußte, bei ihm bereits mit zweiunddreißig, dreiunddreißig Jahren fast völlig gelichtet. An heißen Tagen verzichtete Don Mariano auf seine Perücke, weil er sie als unerträglich, ja unästhetisch empfand. So hatte er sie auch an diesem Morgen nicht angelegt. Aber auch ohne sie büßte er nichts von seinem respekteinflößenden Äußeren ein. Er war immer noch eine Autoritätsperson.

Doch Serafin hatte die Kammer unter dem festen Vorsatz betreten, diese Autorität zu brechen und in die Knie zu zwingen. Jetzt und hier.

Don Mariano José de Larras Augen glänzten ein wenig, aber es war nichts Flackerndes in seinem Blick. Nur seine Mundwinkel zuckten leicht. Wieder, wie so oft während der letzten Tage, fragte Serafin sich, ob er wirklich schwachsinnig geworden oder doch noch im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte war.

„Was fällt dir ein, einfach so einzutreten?“ fuhr Don Mariano ihn an. Seine Stimme klang brüchig nach all den Entbehrungen, aber sie hatte nichts von ihrer Kälte verloren. „Du weißt genau, daß das nicht einmal einem Offizier dieses Schiffes zusteht, geschweige denn einem Decksmann.“

„Es gibt keine Offiziere mehr“, sagte Serafin. „Und die Chusma, das gemeine Schiffsvolk, wie Sie es nennen, ist auf drei Mann zusammengeschrumpft. Es ist sinnlos, noch Ordnung und Disziplin aufrechterhalten zu wollen.“

„Wie ist dein Name?“

„Serafin.“

„Serafin, Señor!“ schrie Don Mariano. „Den Señor Captitán hast du vergessen, du Hund, und ich werde dich deshalb und dafür, daß du das Anklopfen vergessen hast, auspeitschen lassen.“ Er fuhr hoch. „Verschwinde! Ich will dich hier nicht mehr sehen!“

Serafin trat noch einen Schritt auf ihn zu. „Ich bleibe. Und wenn du bis heute nicht weißt, wer Serafin ist, Mariano José de Larra, dann lernst du ihn jetzt kennen.“

„Du hast mich in meiner wichtigsten Arbeit gestört!“ brüllte der Kapitän ihn an. „Scher dich weg! Fort, oder ich …“

Serafin hatte nur einen raschen Blick auf das aufgeklappte Buch geworfen, das auf der polierten Platte des Pultes lag. Jetzt sah er wieder dem glatzköpfigen Mann in die Augen und schnitt ihm das Wort mitten im Satz ab. „Das verdammte Logbuch! Du und deine elenden Niederschriften, de Larra! Dein Buch ist die Bibel des Satans, und dein Fanatismus und dein Wahn haben uns alle in die Verdammnis gestürzt!“

„Wie sprichst du mit mir, du Bastard?“

„So, wie wir alle schon lange mit dir hätten reden sollen“, erwiderte Serafin. „Lange, bevor der Skorbut und das Gelbfieber unsere Kameraden wie die Fliegen sterben ließen.“

„Ich verbiete dir …“

„Nein! Ich lasse mir von dir keine Befehle mehr erteilen, Satanskapitän! Santanás, so haben wir dich getauft, und von jetzt an werden wir dich herumkommandieren – wir, Serafin, Joaquin und Domingo.“

„Meuterei“, stieß Don Mariano keuchend aus. „So weit ist es also auf diesem Schiff gekommen. Die offene Rebellion ist ausgebrochen, die Revolte der Narren.“ Er griff mit der rechten Hand zur Radschloßpistole. Ein Ruck, und er hatte sie aus seinem Gurt gerissen, hob sie hoch und versuchte, sie auf Serafin in Anschlag zu bringen und gleichzeitig den Hahn zu spannen.

Deutlich sah Serafin, wie die Hand des Kapitäns bebte.

Serafin brauchte sich nur noch vorzubeugen, um den hageren Glatzkopf zu packen. Über das kostbare Nußbaumholzpult hinweg schossen seine Arme, seine Hände griffen nach beiden Gelenken des Kapitäns. Er zerrte sie hoch und hielt sie fest. Die Radschloßpistole zielte jetzt auf die Balkendecke. Don Mariano brüllte auf. Er trachtete, wenigstens den linken Arm loszureißen und mit der Faust nach dem Aufsässigen zu schlagen, aber Serafin blockierte jeden Widerstand. Der Griff seiner Fäuste glich einer eisernen Umklammerung.

„Schluß mit dem Widerstand, de Larra. Drück ab, wenn du willst. Deine Kugel wird keinen Schaden anrichten.“

„Dafür wirst du mir büßen!“

„Ergibst du dich jetzt freiwillig?“

„Laß mich los! Laß mich los!“

„Du hast mich immer noch nicht verstanden“, sagte Serafin, und dann schrie er ihm ins Gesicht: „Bist du verrückt? Sag mir, ob du Teufel wirklich durchgedreht bist oder ob du nur so tust!“

„Ich bin der letzte Mann, den du in deinem Leben beleidigt hast, Bastard, denn ich werde dich töten“, keuchte Don Mariano.

„Wirf die Pistole weg!“ befahl Serafin.

„Niemals!“

„Ich befehle es dir! Ich führe von jetzt an das Kommando, und du bist nur noch ein dreckiger kleiner Deckshund!“

„Lieber sterbe ich!“

„Jawohl“, stieß Serafin grimmig hervor. „Aber bevor du verreckst, begleitest du mich auf die Kuhl. Dort wirst du unserem armen Freund Esteban den letzten Segen erteilen, denn du bist der einzige hier an Bord, der sich mit den Gebeten und allem, was dazugehört, auskennt.“

„Werft den Kerl so in die Bucht.“

Serafins dunkle Augen waren plötzlich von einem tödlichen Funkeln erfüllt. „Esteban hat ein Begräbnis mit allen seemännischen Ehren verdient, denn er war ein guter Kamerad. Du wirst eine Rede halten, de Larra, wie du auch die Totenmesse für die anderen armen Teufel gehalten hast, die wir den Haien zum Fraß überlassen mußten.“

„Es war nicht meine Schuld, daß sie starben.“

„Du hättest unseren Kurs besser bestimmen und festlegen müssen!“

„Hätte ich auch die Stürme wegkehren können?“

„Laß die Pistole los“, forderte Serafin noch einmal. „Oder soll ich sie dir mit Gewalt abnehmen?“

Don Mariano José de Larra winkelte plötzlich sein linkes Bein an. Er hatte genügend Abstand vom Kapitänspult, um das Knie hochziehen zu können. Mit aller ihm noch zur Verfügung stehenden Kraft drückte er gegen die Kante des Möbels. Es kippte um und stürzte Serafin entgegen.

Das Logbuch und alle anderen Utensilien wie der Federkiel und das Tintenfäßchen fielen zu Boden. Das Pult drohte mit seiner Kante genau auf Serafins nackte Füße zu krachen. Serafin stieß einen Fluch aus und wich zurück. Er mußte Don Mariano notgedrungen dabei loslassen.

Der Kapitän gab einen triumphierenden Laut von sich. Seine beiden Arme waren frei. Bevor der schwarzbärtige Mann wieder zufassen konnte, senkte er die Pistole, zielte auf den Kopf des dreisten Widersachers und krümmte seinen Zeigefinger um den Abzug.

Don Marianos Augen waren in diesem Moment weit aufgerissen, sein Blick starr auf Serafins Gesicht gerichtet. Ein höhnisches Lächeln verzerrte seine Lippen.

„So stirbt ein verfluchter Meuterer!“ schrie er.

Dann drückte er ab. Der Schuß brach donnernd in dem niedrigen Raum. Die Feuerlanze, die auf Serafins Haupt zustach, war in dicken weißen Qualm gebettet.

Der Seewolf hatte die große Landkarte ausgebreitet und ihre vier Ekken mit Gegenständen beschwert, damit sie sich nicht wieder zusammenrollen konnte: mit einer Radschloßpistole und einer Miqueletschloßpistole aus seiner privaten Sammlung, mit dem goldenen Kreuz des Malteserordens, das ihm seinerzeit auf Malta geschenkt worden war, und mit einem großen smaragdbesetzten Armreif, der von den Chibcha-Indianern in Neu-Granada stammte.

Die Karte lag auf dem Boden von Hasards Kammer ausgebreitet, weil sie für das Pult zu groß war. Der Seewolf hatte sich auf dem Rand seiner Koje niedergelassen und einen Ladestock zur Hand genommen.

Philip junior und Hasard junior, die Zwillinge, hatten sich links und rechts der Landkarte auf die Planken gekauert. Sie gaben sich Mühe, ihre ganze Aufmerksamkeit den Eintragungen auf der Karte zu widmen. Philips Interesse galt zwar eher den Pistolen und dem wunderschönen goldenen Malteserkreuz, aber er hütete sich, damit herumzuspielen. Er wußte genau, daß er in dem Fall sofort mit dem Ladestock was auf die Finger kriegte.

„Dad“, sagte Hasard junior in diesem Augenblick. „Du hast diese Karte wirklich ganz allein gezeichnet?“

„Ja, das habe ich euch doch vorhin schon erklärt.“

„Aber wie kann man die Welt auf ein Blatt Papier malen, wenn man kein Vogel ist und sie aus der Luft betrachten kann?“ fragte Philip.

Der Seewolf atmete tief durch. Er holte zu einer Antwort aus, aber Hasard junior meinte:

„Die halbe Welt, wolltest du wohl sagen.“

Philip schnitt eine Grimasse. „Meinetwegen. Vielleicht ist es ja auch nur ein Drittel der Welt, das hier dargestellt ist. Das ist aber völlig unwichtig. Ich meine was anderes.“

„Ein Vogel kann zwar fliegen und hat auch gute Augen“, warf Hasard junior ein. „Aber zeichnen kann er nicht. Das können nur wir Menschen.“

„Nur wir?“ Sein Bruder lachte verächtlich auf. „Da täuschst du dich aber. Wenn du beispielsweise Arwenack einen Federkiel oder einen Pinsel in die Pfote drückst und ihn mit Tusche und Farben spielen läßt, malt er dir auch was Schönes auf.“

„Aber nichts Richtiges.“

„Nichts Konkretes“, berichtigte Philip junior.

„Und Arwenack ist ein Affe, kein Vogel“, sagte Hasard junior störrisch. „Vielleicht kann er wirklich ein Bild zusammenschmieren – bloß fliegen kann er nicht.“

„Hör mal“, fuhr sein Bruder ihn an. „Du lernst gleich das Fliegen, wenn ich dich nämlich …“

Der Seewolf klopfte zweimal mit dem Ende des Ladestocks auf die Planken. „Ruhe“, sagte er. „Wir schweifen vom Thema ab. Ich bitte mir mehr Disziplin beim Erdkundeunterricht aus.“

„Ja, Dad“, murmelte Philip junior.

„Aye, Sir“, sagte auch Hasard junior.