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Haupttitel

Verlag Voland & Quist GmbH, Dresden und Leipzig, 2016

© by Verlag Voland & Quist GmbH

Korrektorat: Annegret Schenkel

Umschlaggestaltung: HawaiiF3, unter Verwendung eines Motivs von Dirk Bell

Satz: Fred Uhde

E-Book: eScriptum, Berlin

ISBN: 978-3-86391-141-6

www.voland-quist.de

Der Autor:

Matthias Hirth lebt in München und Berlin und schreibt seit 1994. Er arbeitete als Regisseur und Schauspieler, betrieb ein Privattheater, unternahm große Reisen in fast alle Weltteile, baute einen Zukunfts-Thinktank für einen deutschen Automobilkonzern auf und ist Mitbetreiber einer Münchner Szenebar.

»Ich will nur der Fairness halber doch auch bekennen, dass ich über weite Strecken dieses Romans das Gefühl habe, einen ganz großen Wurf der deutschen Gegenwartsliteratur vor mir zu haben«, sagte Denis Scheck über seinen Roman Angenehm.

Der Roman:

Sein Leben lang hat der zweiunddreißigjährige Fleck versucht, sich mit den bürgerlichen Berufs- und Beziehungsarrangements abzufinden, die er von zu Hause und seinen Freunden kennt. Doch wirklich funktioniert hat es nie, mit ihnen verbindet er Heuchelei, Unterwerfung, Selbstentfremdung. Eine kleine Erbschaft versetzt ihn in die Lage, sich für eine Weile aus der gesellschaftlichen Tretmühle zu verabschieden. Er beschließt, sein Leben neu auszurichten. Sich im Spaß zu verlieren, sich vollkommen darin aufzulösen, erscheint ihm als Ausdruck persönlicher Kraft. Er sucht nach der »unverschämten Ausstrahlung«, die ihn für Frauen und Männer gleichermaßen begehrenswert macht. Auf den urbanen Spielplätzen der Enthemmung erforscht er die Möglichkeiten sexueller und moralischer Transgression. Doch mit jeder Grenze, die er überschreitet, spürt er, dass er noch zu kopfgesteuert ist, dass es ihm an archaischer Wildheit fehlt. Er kommt zu dem Schluss: Wirkliche Stärke bedeutet, gegen alle Erwartungen, gegen jede Moral, ja, gegen das Gesetz zu verstoßen. Er muss bereit sein, an den Abgrund zu treten.

Matthias Hirths Roman zeigt die dunklen Fantasien unserer Gesellschaft: die Ambivalenzen des Männerbildes, die Verbindung von Sex und Gewalt, das Amalgam von Coolness und Terrorismus. Heimlicher Held aber ist das Jahr 1999, das Jahr des Fischotters (lat.: Lutra lutra), das Jahr vor dem Zusammenbruch der New Economy und der großen Arbeitslosigkeit, das Jahr des Übergangs ins neue Jahrtausend, das im Zeichen des Terrors stehen wird – das letzte Jahr der guten alten Zeit.

Inhalt

  1. Zitate
  2. Teil eins: Party
    1. 1. Jan und Janet
    2. 2. Hunde wenden den Kopf
    3. 3. Der erste Sven
    4. 4. Weinender Stefan
    5. 5. Meinhards Auge
    6. 6. Did you fuck?
    7. 7. Dschungel
    8. 8. Bei Meinhard hat es gefunkt
    9. 9. »Die Menschen sind Engel und leben im Himmel«
    10. 10. Im roten Bereich
    11. 11. Zu Ende, kaum dass es angefangen hat
  3. Teil zwei: Liebe
    1. 12. Der große Schnupfen
    2. 13. Fleck geht eine Beziehung ein
    3. 14. Überall Liebende
    4. 15. Kunst des Bösen
    5. 16. Bären und Hunde
    6. 17. Maps of Boyland
  4. Teil drei: Der Narr
    1. 18. Heiliger Sebastian
    2. 19. Auf der Suche nach Jenia
    3. 20. Das kleine Pony
    4. 21. Spiegelstadium
    5. 22. An der obersten Ausstiegsluke
    6. 23. Zweitausend Mark
    7. 24. Der Widersacher
    8. 25. Gelöste Muttern
  5. Teil vier: Das Böse 2000
    1. 26. All you can eat Katalog
    2. 27. Altlasten
    3. 28. Aufrüstung
    4. 29. Dämonen
    5. 30. Wilbur
    6. 31. Einen Toten sehen
    7. 32. I. b. e. f.
    8. 33. Es geht auch anders, doch so geht es auch. Häuschen Nummer 39
  6. Teil fünf: Die fünfte Jahreszeit
    1. 34. Der Doktor
    2. 35. Minutes of Thrill, Seconds of Horror
    3. 36. Einen Ball kaufen
    4. 37. Die Menschen sind Engel und leben im Himmel, zwei
    5. 38. Voodoo
    6. 39. Das Stechen
    7. 40. On The Moon
    8. 41. Lass uns mal ein bisschen reden
    9. 42. In die Abendluft geschleuderte Gegenstände
  7. Danke …

Zitate

»So kommet hervor, Kinder, unter den Sternen, und nehmet den Becher der Liebe entgegen. Ich bin die Schlange, die Wissen und Wonne gibt und strahlende Herrlichkeit, und ich schüre die Herzen der Menschen mit Trunkenheit. Um mir zu huldigen, nehmt Wein und seltene Drogen, die ich meinem Propheten nennen werde, und berauscht euch daran! Sie werden euch nicht im Geringsten schaden. Diese Dummheit gegen euch selbst ist Lüge. Die Zurschaustellung der Unschuld ist Lüge. Sei stark, oh Mensch! Begehre, genieße alle Dinge der Sinne und Wonne: Fürchte nicht, dass ein Gott dich darum verleugne. Ich bin erhaben in deinem Herzen, und die Küsse der Sterne regnen hart auf deinen Leib.«

Aleister Crowley

»Wenn Sie wirklich etwas Neues machen wollen, so werden Ihnen die Guten dabei nicht helfen. ›Lasst wohlbeleibte Männer um mich sein …‹ – das kann nur ein gesalbter König sagen, aber kein Führer, der sich selbst geschaffen hat. Lasst abgefeimte Schurken um mich sein … Die Bösen, die etwas auf dem Kerbholz haben, sind gefällige Leute, hellhörig für Drohungen, denn sie wissen, wie man es macht, und für Beute … Man kann ihnen etwas bieten, weil sie nehmen. Weil sie keine Bedenken haben. Man kann sie hängen, wenn sie aus der Reihe tanzen. Lasst abgefeimte Männer um mich sein – vorausgesetzt, dass ich die Macht habe, die ganze Macht über Leben und Tod. … Was wissen Sie von den Möglichkeiten des Bösen! Wozu schreibt ihr Bücher und macht Philosophie, wenn ihr nur von der Tugend etwas wisst, und wie man sie erwirbt, wo doch die Welt im Grund von etwas ganz anderem bewegt wird.«

Hermann Göring

(gegenüber seinem Verteidiger während der Nürnberger Prozesse)

»Schon damals wie auch später hat sich stets alles um die Liebe gedreht. Das ist ja das Schicksal von Gesellschaften, die sich dem Müßiggang hingeben.«

Napoleon Bonaparte

Teil eins
Party

1. Jan und Janet

König Hussein von Jordanien ringt mit dem Tod. Anhaltende Spekulationen um seine Nachfolge verschärfen die Sorge um die politische Stabilität im Nahen Osten. Die NASA-Raumsonde Stardust ist von Cape Canaveral aus ins All gestartet, um Staubpartikel aus dem Koma des Kometen Wild 2 zur Erde zu bringen. Ziel der Mission: Erkenntnisse über die Entstehung des Universums. Bundeskanzler Schröder begrüßt die neue EU-Richtlinie zur Liberalisierung der Strommärkte. In Jacksonville, Florida, verliert die deutsche Nationalelf gegen die Auswahl der USA mit 3:0. Kaltluft im Norden verlagert sich westwärts und bringt …

Durch Ziehen des Zündschlüssels beendet ein junger Mann die 22-Uhr-Nachrichten aus seinem Autoradio und wirft die Fahrertür hinter sich zu. Er ist auf dem Weg zu einer Party. Sein Name ist Fleck. Bei seinem eigentlichen Namen nennt ihn seit seiner Schulzeit keiner mehr, er sich selber auch nicht. Es ist kalt, er geht schnell. Die Taschensäume seiner Jeans schneiden ihm in die Handrücken. Ein Abend im Spätwinter 1999, dem letzten Jahr des alten Jahrtausends.

Fleck ist einunddreißig, ein Alter, in dem in den letzten Jahren des alten Jahrtausends die Midlife-Crisis quasi vor der Tür steht. Er sieht nicht schlecht aus, in den Augen mancher Leute sogar gut, allerdings auf eine beinahe unzeitgemäße Weise, nicht dem Schönheitsideal entsprechend, nach dem etwa die Kühlergrills der Autos dieser Zeit gestaltet sind – weit auseinanderliegende Augen, schräg zulaufende Brauen, platte, brutal wirkende Nase –, eher dem vergangener Zeiten, schmal, hoch, europäisch, der Art Gesichter, wie sie einem aus alten Porträtbildern entgegensehen, oder, um im Bild zu bleiben, der sachlichen Front eines Siebzigerjahre-Coupés; gut, aber nicht unverschämt gut, will sagen sein Gut-Aussehen führt nicht zu einer anhaltenden Verzerrung der Kräfteverhältnisse im Umgang mit anderen Menschen. Nach dem Abitur hat er eine Weile herumstudiert, Orchideenfächer wie Theaterwissenschaften und Germanistik. Er hat Seminare in Philosophie und Psychologie belegt, halbherzig versucht, auf die Filmhochschule aufgenommen zu werden, und sich sogar, dem plötzlichen Impuls folgend, etwas Vernünftiges zu machen, ein Semester lang für Rechtswissenschaften eingeschrieben. Irgendwann hat er den Schulgeruch nicht mehr ertragen, den Dunst von Bohnerwachs und Lernschweiß, den er inklusive Gymnasiumszeit fünfzehn Jahre eingeatmet hatte, und die Uni verlassen. Ein paar Jahre hat er in einer kleinen Werbeagentur gearbeitet, ein Zufallsjob, den ihm ein Freund verschafft hat und den er in dem Moment hinschmiss, als ihm seine Großmutter, eine kühle, depressive alte Dame, zu der er nie ein besonderes Verhältnis hatte, einige Tausend Mark hinterließ. »Ihrerseits ist aufgrund dieses Bescheids weiter nichts veranlasst«, hatte auf dem Schreiben vom Nachlassgericht gestanden. Während des Kündigungsgesprächs in seiner Agentur hat er auf Zweifel gewartet, etwa ob es richtig sei, der Arbeitswelt und den Kollegen den Rücken zu kehren. »Ist das dein Ernst?«, hat seine Chefin gefragt, als er den gewissen Satz ausgesprochen hatte, nicht ohne Kränkung im Blick über die mangelnde Bedeutung ihrer Person und ihrer Firma in Flecks Leben. Fleck hat genickt. »Gut, dann bist du draußen.« Und Fleck hat festgestellt, dass er niemals hatte drinnen sein wollen, nicht eine Stunde, weder in dem Drinnen einer Werbeagentur noch in irgendeinem anderen.

Fleck ist angekommen, drückt die Klingel. Es ist lange her, dass er einer Einladung gefolgt ist. Mindestens drei Monate hat er ein Schneckenhausdasein geführt. Auslöser war ein Mädchen, das sich nach ein paar unschönen Vorfällen aus seinem Leben verabschiedet hat. Eine Abtreibung spielte eine Rolle. Er hat selbst gestaunt, wie sehr ihn diese Trennung aus dem Tritt gebracht hat. Etwas wegmachen zu lassen bedeutet eben nicht, dass es auch tatsächlich weg ist. Der Öffner surrt. Fleck drückt mit der Schulter die Haustür auf, ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen. Durchs Treppenhaus hallt Musik. Er zögert kurz.

Eine kleine Zweizimmerwohnung voller lärmender Leute, knapp hundert Menschen auf fünfzig Quadratmetern, die sich im Flur aneinander vorbeiquetschen, in Hockstellung am Boden kauern, sich vor dem Klo stauen, wo sich im Badewannenwasser die Etiketten der Bierflaschen lösen. Es ist Faschingssaison. Masken und Kostüme, wie man ihnen gerade überall auf der Straße begegnet, sieht man hier nicht. Die meisten Gäste sind Studenten der Kunstakademie, einige von ihnen kennt Fleck aus einem vergangenen Früher. Leonhard, dessen großformatige Arbeiten überall an der Wand hängen, feiert Geburtstag. Gerade drängt er vorbei, verschwitzt und rot im Gesicht vor Hingabe an die Gastgeberrolle. Er trägt eine Kurzsichtigenbrille mit mächtigem Rahmen und gibt Fleck einen Kuss ans Kinn.

»Mann, Fleck, schön, dass du da bist. Dich kriegt man ja gar nicht mehr zu Gesicht!«

Durchs Gedränge zerrt er seinen Freund hinter sich her, einen kleinen blonden Polen mit Skinfrisur, der kaum Deutsch spricht und den er als Staszek vorstellt. Fleck schiebt sich in die Küche und schüttet kurz hintereinander zwei Pappbecher Gin Tonic in sich hinein. Ich muss Gehen, Stehen, Reden in Gesellschaft wieder lernen, denkt er. Eine Weile starrt er auf eins von Leonhards Bildern. Zu seinen Werbeagenturzeiten hat er in denselben Kneipen abgehangen wie diese Akademie- und Filmschüler, weil er sich einbildete, dieselben Interessen wie sie zu haben. Mit Leonhard hat er sich ein paar Mal besoffen, seine Bilder kennt er nicht. Drei nackte Jungs in einem offenen Cadillac mit Heckflügeln. Na ja.

»Du magst mich nicht, stimmt’s?«, sagt eine Stimme mit amerikanischem Akzent.

»Wer? Ich?«

»Ja, du.«

»Warum?«

Das Mädchen hat einen merkwürdig breiten Mund mit großen Zähnen, glatte schwarze Haare, die ihr im Pony in die Stirn hängen. Nicht unbedingt hübsch, aber fröhlich, selbstsicher, betrunken. Fleck ist sich nicht bewusst, sie überhaupt angesehen zu haben.

»’cause you look sinister.«

Fleck schaut.

»This boy is nett, aber he doesn’t like me«, meint sie zu einem großen Schwarzhaarigen, der neben ihr steht. »He’s sinister.«

Der Schwarzhaarige könnte der Bruder des Mädchens sein. Flächiges, beinahe asiatisch wirkendes Gesicht, die Haare bläulich schimmernd und glatt. Er legt ihr den Arm um die Schulter und prostet Fleck zu.

Sinister heißt finster, überlegt Fleck, war es nicht so? Böse, link.

»Chicks forced to dance!«, schreit die Amerikanerin und fängt an, auf und ab zu springen. Sie packt den Schwarzhaarigen und zieht ihn über die Schwelle ins nächste Zimmer, wo die Leute zu wie mit Puppenstimmen gesungenen japanischen Schlagern tanzen. Die zwei Gin Tonic kommen allmählich in Flecks Kopf an. Der Schmerz stellt sich gar nicht ein, denkt er. Offensichtlich darf ich ungestraft Teil einer Menge sein. Jemand gibt der Reihe, in der er steht, einen Stoß, er verliert das Gleichgewicht, stolpert ins Tanzzimmer, stößt gegen die Wand und verschüttet seinen Drink. Schöne Party, sagt er sich.

»Ich bin Janet«, ruft die Amerikanerin und hüpft mit grotesk wedelnden Armen vor ihm in die Höhe.

»Das ist Janet«, echot der Schwarzhaarige und greift ihr von hinten an die Brüste. »Janet und ich heiraten. Stimmt’s, Bitch, wir heiraten! Hey, du da, was sagst du?«

Janet hebt die Arme, fasst hinter sich und zieht den Schwarzhaarigen an seinen schwarzen Haaren zu sich herunter. Nachdem sie ihn geküsst hat, sieht der Schwarzhaarige zu Fleck hinüber, schüttelt sich wie ein Comic-Hund und verdreht die Augen. Der ganze Raum tanzt. Alle hüpfen durcheinander, dass der Boden vibriert. Wirklich schöne Party, denkt Fleck.

Dann steht er mit dem Schwarzhaarigen, von dem er inzwischen weiß, dass er Jan heißt und ebenfalls Kunst studiert, in der Küche vor dem zermatschten Buffet, wo Kuchen, Nudelsalat, Käsereste und Joghurtnachspeise zusammen mit verschüttetem Rotwein eine bröckelige Masse bilden. Sie trinken Wodka und Gin gemischt mit lauer Cola und Tonic, das in offenen Plastikflaschen herumsteht. Gemeinsam hacken sie mit dem Brotmesser aus dem Eisfach des Kühlschranks Gefrierreif für ihre Drinks. Fleck fühlt sich gut.

»Das mit dem Heiraten«, sagt er, »meinst du das ernst?«

»Klar, warum nicht?«

»Mit Standesamt und allem?«

Jan nickt. »Im Mai. Wonnemonat und so. Janet wird die Mutter meiner Kinder. Mindestens sechs will ich haben.«

Jan lacht laut. Fleck sieht ihn an.

»Wie alt bist du?«

»Neunundzwanzig, yeah.«

»Und Janet?«

»Fünfundzwanzig.«

»Wie lang kennt ihr euch?«

»Halbes Jahr, bisschen länger.«

»Den gleichen Namen habt ihr ja schon. Aber heiraten? Ist das nicht … übertrieben?«

»Wieso übertrieben? Wir lieben uns. Irgendwann muss man es halt tun.«

»Meine Eltern waren auch verheiratet«, meint Fleck unbestimmt.

»Man muss es halt anders machen. Sich gegenseitig die Freiheit lassen. Vielleicht nicht mal zusammenziehen, jeder seine eigenen Freunde und so, eben wie wir bisher auch gelebt haben. Wieso soll ich sie nicht heiraten, Mann? Sieht sie nicht geil aus? Wir lieben uns, verstehst du? Den Rest sehen wir schon. Müssen wir deswegen gleich auf ein Häuschen sparen und Kreuzworträtsel lösen?«

Janet kommt herein, drückt Jan die Zunge in den Mund und sagt gleichzeitig: »Come on, baby, tanz mit mir. It’s my favorite song.«

Der künftige Gatte scheint keine Lust zu haben. Da greift das Mädchen nach Flecks Hand und zieht ihn ins Tanzzimmer. Leute sind gegangen, nun ist Platz. Fleck lässt sich von Janets ausladenden Bewegungen anstecken. Er tanzt zum ersten Mal seit langer Zeit. Die Musik wird ruhiger, Janet wirft sich ihm in die Arme, immer noch mit ausladenden Bewegungen, sie kommen aus dem Gleichgewicht, lachen. Katzenartig sieht sie zu ihm herauf, legt den Kopf an seinen Hals und schließt sich an ihn an, wie um herauszufinden, wie ihre Körperformen ineinanderpassen. Die macht mich an, denkt Fleck erstaunt. Jan kommt rein, lehnt sich in den Türrahmen und sieht ihnen zu, ohne dass es ihn zu stören scheint. Fleck genießt Janets Nähe und gibt sich Mühe, es vor Jan zu verbergen. Janet untersucht tastend seinen Rücken, die Flanken, seinen Hintern. Jan redet mit jemandem, dreht ihnen den Rücken zu. Als er wieder in die Küche verschwunden ist, wagt Fleck, Janets Berührungen zu erwidern. Janet dreht sich in seinen Armen, wendet ihm den Rücken zu und schiebt ihn, indem sie sich an ihn anlehnt, gegen die Wand, wo sie, wie sie es vorher mit Jan gemacht hat, hinter sich fasst und seinen Kopf zu sich herunterzieht. Sie küsst ihn. Offenbar geht das, denkt Fleck. Offenbar machen die das so.

Um halb vier haben die meisten Gäste die Party verlassen.

»Du bist ein okayer Typ«, sagt Jan zu Fleck, als sie wieder in der Küche stehen, Alkoholreste zusammenschütten und rauchen.

»Selber«, erwidert Fleck.

Janet erzählt von einem misslungenen Konzert ihrer eben gegründeten Girlieband, Leonhard von den Sake-Besäufnissen während eines Japanaufenthalts seiner Akademieklasse. Drüben im Tanzzimmer liegt Leonhards polnischer Freund betrunken auf einer Matratze und wird von einer ebenso betrunkenen Freundin in den Schlaf gestreichelt. Eine wirklich schöne Party, die allmählich zu Ende geht. Fleck überlegt laut, wie er heimkommen soll.

»Bist du mit dem Auto da, du Idiot?«, fragt Leonhard. »Du fährst nicht mehr, dass das klar ist. Janet und Jan, ihr bleibt doch auch? Wir haben meine Matratze, irgendwo gibt’s noch eine, da ist nur noch Birgit, wir kommen klar.«

Schließlich liegen alle mehr oder weniger angezogen, provisorisch mit Schlafsäcken und Wolldecken zugedeckt im Tanzzimmer: Gastgeber-Leonhard mit seinem Freund und Birgit auf der einen Matratze, Janet, in der Mitte zwischen Jan und Fleck auf der anderen. Die Skalenbeleuchtung des Verstärkers ist das einzige Licht im Raum, leise Musik, gedämpftes Reden und Kichern, ab und zu ein müder Satz von einer Matratze zur anderen. Fleck bemerkt, wie Janet anfängt, ihn an der Brust zu berühren, nur mit dem Fingernagel durchs T-Shirt, spielerisch und zufällig. Sie fährt an seinem Körper herunter, ohne Eile, ohne besondere Absicht. Offenbar geht das, offenbar machen die das so. Genauso vorsichtig berührt er Janet nun ebenfalls, durch ihr Shirt hindurch, fährt so langsam, dass seine Bewegung Zufall sein könnte, nach unten, hebt den Rand ihres Shirts auf und streicht mit der Hand über ihre nackte Haut. Eine dritte, größere, rauere Hand mischt sich ein: Jan, der gemerkt zu haben scheint, warum sie beide so still geworden sind. Janet öffnet den obersten Knopf von Flecks Hose, dann die übrigen, Fleck fährt in ihren Hosenbund, was sie ihm durch Einziehen des Bauches erleichtert, Jan streicht mit der Hand über Flecks Bauch, Fleck greift über Janet hinweg unter Jans T-Shirt und befühlt seine haarige Brust. Als Flecks Mittelfinger in Janets Möse eindringt, seufzt sie leise, greift in bekannter Weise hinter sich, biegt Jans Kopf zu sich herunter und küsst ihn.

»There must be justice«, flüstert sie, dreht sich zu Fleck, sucht seinen Mund und lässt ihre Zunge hinter seine Zähne gleiten.

Jan stützt sich auf den Ellenbogen und sieht zu, wie seine Freundin Fleck küsst. Im Dunkeln glitzern seine Augen. Er beugt sich über Janet, die jetzt mit den Lippen an Flecks Kehlkopf herumzupft, drückt seinen Mund auf den von Fleck und greift hinunter nach dessen Schwanz. Auch Fleck fasst nach unten. Ein unerwartet erregendes Gefühl, mit einem Mann im Bett zu liegen. Zwei Schwänze statt einem. Dass der von Jan kleiner ist als sein eigener, erfüllt ihn mit einer gewissen Befriedigung.

»Was geht ab da drüben?«, fragt Gastgeber-Leonhard laut ins Rascheln der Schlafsäcke.

Janet und Jan kichern. Auch von der anderen Matratze hört man Geräusche von Küssen und Berührungen, wahrscheinlich Leonhard und Staszek, das Mädchen Birgit schläft bereits oder tut so.

»Do you mind me suck another man’s cock?«, flüstert Janet ihrem Freund zu und rutscht, ohne eine Antwort abzuwarten, unter der Decke an Fleck hinunter. Fleck spürt, wie Janets Lippen seinen Schwanz umschließen, und drückt seine Zunge tiefer in Jans Mund. Jan erwidert seine Heftigkeit fast unangemessen hart, seine stoppeligen Wangen kratzen in Flecks Gesicht, dennoch ist mit Händen zu greifen, dass er nicht mehr richtig bei der Sache ist: Jans Schwanz in Flecks Hand wird biegsam, kleiner, schlaff. Mechanisch streicht er auf Flecks Brust herum, lässt schließlich von ihm ab und zieht sich auf seine Seite zurück. Janet kommt hoch und sucht die Augen ihres Freundes.

»Ich glaub, ich will gehen, Süße«, sagt Jan. Er spricht leise, aber sachlich und entschieden. Draußen dämmert es, die Skalenbeleuchtung des Verstärkers leuchtet weniger hell, die Konturen des Zimmers treten hervor, auf der Nachbarmatratze zeichnet sich ein unordentlich bewegtes Gebirge ab.

»Okay«, sagte Janet. Es klingt wie eine Frage.

Fleck ist maßlos enttäuscht. Warum kann es nicht weitergehen, wie es angefangen hat? Da ist er ja doch, der Altteilehaufen bürgerlicher Treuemoral, mit dem Jan angeblich nichts zu tun haben will. Warum können sie nicht noch eine Weile bleiben in diesem paradiesischen Zustand, wo es nur Lust gibt und die Neugier auf den Körper des anderen? Wenn er ehrlich ist, kann er Jans Gefühle durchaus nachempfinden. Er reagiert, wie jeder Mann reagiert, der merkt, dass »seine« Frau auch mit einem anderen Spaß haben kann: Er fängt an, an seinen Fähigkeiten als Liebhaber zu zweifeln, an seinen Qualitäten überhaupt, er bekommt es mit der Angst. Es ist klar, dass Jan seine Freundin nicht mit ihm teilen will.

Janet scheint weder glücklich noch unglücklich, dass die Sache an dieser Stelle zu Ende ist. Fast hätte sich Fleck gewünscht, sie würde Widerstand leisten. Mit ihrem Gesicht kommt sie dicht an seines, sieht ihm in die Augen und küsst ihn lange auf den Mund. Auch Jan küsst ihn auf den Mund. So nah sei er einem Mann noch nie gewesen, flüstert er, es klingt ehrlich, voller Einsicht in seine Eifersucht, aber das, das müsse er jetzt erst mal verarbeiten. Leise steht er auf.

Drüben raschelt es.

»Geht ihr?«, fragt Leonhard. Sein Gesicht sieht weiß unter der Decke hervor.

»Ja«, meint Jan knapp.

»Jetzt? Mitten in der Nacht?«

Janet und Jan ziehen sich an. Noch einmal beugt Janet sich zu Fleck herunter, küsst ihn mit der Zunge. Jan tut das Gleiche, fast wie zur Entschuldigung, sagt »Schlaf gut«, und: »Das nächste Mal machen wir’s richtig.« Dann verlassen beide den Raum.

Fleck kommt sich liegen gelassen vor auf der unbezogenen Matratze mit seiner Erektion. Hilfloser Ärger steigt in ihm auf. Natürlich wird es zu einem nächsten Mal nicht kommen. Der Moment ist vertan. Im Zimmer wird es heller, er fühlt sich plötzlich unangenehm nüchtern. Aus der anderen Ecke hört man tiefe, regelmäßige Atemzüge. Morgen mithelfen, den ganzen Scheiß aufzuräumen? Nee. Jedes Geräusch vermeidend angelt er nach seinen Kleidern neben der Matratze, zieht sich an, greift sich im Gang seine Jacke und drückt sich aus der Tür.

Während des unruhigen Schlafs am Vormittag hat Fleck einen Traum. Zunächst nur ein Gefühl, eine körperliche Empfindung, dann erst stellt sich das Bild dazu ein. Sein Zeigefinger ist von etwas Weichem, Warmen, Feuchtem umschlossen: Er steckt in einer Vulva. Die Vulva gehört nicht zu einem individuellen Körper, sie ist isoliert, ohne Zusammenhang, gleichsam anonym. Sein Zeigefinger gleitet darin auf und ab. Flecks Blick fährt zurück, andere weibliche Geschlechtsorgane tauchen auf, große, kleine, es werden immer mehr. Ein fleischfarbenes Gebilde voller Öffnungen, überall Poren wie ein Schwamm, und in jeder Pore steckt ein Zapfen, ein männliches Geschlechtsteil, Tausende von Penissen unterschiedlichster Größe und Stärke, die sich, wie Raubfische in ein Beutetier, wie Würmer in einen Klumpen Fleisch, in die kleinste Öffnung des Gebildes bohren und es wie besessen penetrieren. Tausendfaches Schmatzen und Schnalzen liegt in der Luft. Während Fleck aus der Nähe so etwas wie Lust verspürt hat, empfindet er jetzt Ekel. Sein Blick entfernt sich weiter, aus dem Schmatzen wird ein betäubendes Vibrieren, das fleischfarbene Gebilde zeigt sich in seiner ganzen Riesenhaftigkeit, rund, bis zum Platzen aufgewölbt, aus Abermillionen von geilen Löchern und fickenden Schwänzen bestehend. Groß wie ein Planet schwebt es im leeren Raum, pumpend, exzessiv, hemmungslos. Mit zunehmendem Abstand wird es kleiner, wird zu einem Himmelskörper, zu einem summenden Stäubchen. Andere summende Stäubchen geraten ins Blickfeld, immer mehr von ihnen, die sich zu einer Wolke verdichten, die Wolke wird zu einer Schnecke mit weiten Windungen, die sich majestätisch wummernd durch die Jahrmillionen schraubt. Es gibt nur noch Paarung, Begattung, Kopulation, hat nie etwas anderes gegeben, eine große Zeugungsmaschine, ein geiler Mahlstrom, der mit weit ausgreifenden Tentakeln ins All hineingreift, es einschlürft, in sich ballt und in seiner Mitte durch einen kosmischen Abfluss ins Nichts vergurgelt.

2. Hunde wenden den Kopf

Nächster Tag, ein Freitag im Februar 1999, halb fünf Uhr nachmittags. Fleck ist auf der Straße stehen geblieben, den Blick starr auf einen überquellenden Papierkorb gerichtet, der an einem Verbotsschild festgeschraubt ist. Es wird dunkel, ein Streifen Himmel über der Häuserschlucht verfärbt sich müde violett, der Feierabendverkehr rauscht vorbei. Eine Mutter zieht ein Faschingskind mit aufgemalten Schnurrbarthaaren und Nasenpunkt hinter sich her. Eine schlampige Alte schleppt zwei Plastiktüten, ein Typ trägt ein Skateboard unterm Arm, ein silberhaariger Türke einen Alu-Aktenkoffer. So kann es nicht weitergehen, denkt Fleck. Die Art, wie ich mein Leben lebe und meine Gedanken denke, so kann es nicht weitergehen. Der Türke mit dem Alu-Koffer geht an ihm vorbei, dann der Typ mit dem Skateboard. Auf einmal hat Fleck das Gefühl, ein paar Zentimeter in den Boden zu sinken. Er spürt einen Anflug von Panik. Der Anblick des Papierkorbs mit den McDonald’s-Verpackungen und einem zerknickten Regenschirm, der an eine tote Fledermaus erinnert, wird überscharf, er brennt sich ihm ein, als wollte er eins der Bilder werden, die ihm der rückwärts ablaufende Lebensfilm im Augenblick des Todes einmal zeigen wird. Plötzlich herrscht vollkommene Stille in seinem Kopf, eine Stille ohne Gedanken. Dann durchströmt ihn, er weiß nicht woher, eine Welle ungerichteter Kraft. Ihm ist, als könnte er in diesem Moment, und nur in diesem, seinen Kopf durch eine graue Schicht schieben, einen Kokon, in dem er schon sein Leben lang gesteckt hat. Die alte Frau rammt ihm eine ihrer Plastiktüten gegen die Wade und schimpft zu ihm hoch. Mit größter Willensanstrengung löst er den Blick von dem Mülleimer, sieht sich um. Aus welcher Art von Schlaf erwache ich gerade, fragt er sich. Auch andere Lebewesen scheinen das Sonderbare dieses Moments zu bemerken. Das Tigerkind, von der Mutter davongezerrt, starrt, den Zeigefinger im Mundwinkel, zu ihm herüber. Zwei Golden Retriever, an der Leine ihres Herrchens, wenden den Kopf, fixieren ihn mit ihren Tieraugen. Fleck saugt die nasskalte Luft in sich hinein, füllt mit ihr den hintersten Winkel seiner Lungen, die Schultern in der Daunenjacke senken sich wieder, eine große Dampfwolke bildet sich vor seinem Mund. Es ist vorbei, denkt er. Was dich so lange gequält hat, spielt keine Rolle mehr. Wirklich und endgültig vorbei. Der jetzige Moment hat mit den vorigen Momenten nichts zu tun … Der Gedanke an die Aberzahl von Möglichkeiten, was er mit seinem Leben tun könnte, lässt sein Herz schneller schlagen. Sein Dasein kommt ihm vor wie eine leere Fläche, in die er nach Belieben Dinge stellen kann, ein Ozean, in dem jeder Weg möglich ist. Ich bin frei, denkt er. Der jetzige Moment hat mit dem vorigen keinerlei Verbindung!

Als der Augenblick der Klarsicht vorüber ist und die Alltagsgedanken wieder einsetzen, bleibt wie das Relikt einer anderen Sphäre eine Idee, ein Entschluss in ihm zurück: Jetzt wird er sich am Leben bedienen. Spaß will er haben, wilden, abwegigen, unvernünftigen Spaß. Eigentlich, denkt er, kann ich doch machen, was ich will.

3. Der erste Sven

Es ging eine Treppe hinunter. An der Garderobe vorbei, wo er seine Jacke abgab, in einen großen schwarz gestrichenen, mehrfach gewinkelten Raum mit Spiegeln an den Wänden und verschiedenen Bars. Die Lightshow flackerte über der leeren Tanzfläche, kommerzieller Tech House hallte zwischen den Wänden: Fleck war zu früh. Der Barkeeper schob ihm ein Bier mit einem korrekten aber, wie ihm vorkam, zweideutigen Lächeln hin. Der Laden hieß Cisco. Von San Francisco. Die Einrichtung war ordentlich runtergefeiert und stammte vermutlich aus Glamrock-Zeiten. Überall im Raum tauchte das Leitmotiv der Golden-Gate-Bridge auf: als Foto, als Relief, als Neonröhren-Installation, die hin und wieder im Rhythmus der Musik aufflackerte. An der Wand hingen großformatige Reproduktionen von Cable Cars, die US-Flagge und anderer Amerika-Krimskrams. Wem war denn das eingefallen? Fleck saß unbequem auf seinem Barhocker und hielt sich an seinem Bier fest. Irgendwann war er schon mal hier gewesen, mit zwei Freunden, vor langer Zeit, in einem anderen Leben, diesmal jedoch blieb die ganze Bürde der Entscheidung, hergekommen zu sein, an ihm alleine hängen. Kss, krss machte es hinter ihm. Er fuhr herum. Ein Endvierziger, hellblond gefärbt, in hautenger Lacklederhose, machte Winkewinke und verdrehte grotesk die Augen. Zwei andere, etwa fünfunddreißig, am entgegengesetzten Ende des Tresens lachten. »Oh diese Beine, dieser Rücken«, hörte er einen sagen. Verarschten sie ihn oder jemand anders?

Allmählich füllte sich der Laden. Junge Gays tänzelten herein, ein ganzer Trupp, sie küssten den Barkeeper über den Tresen hinweg und reichten ihm ihre Taschen, die er irgendwo unter der Bedienfläche verstaute. Alle sahen gleich aus, schien es Fleck, Gesichter, Körper, wie aus industrieller Fertigung. Einer trug ein Krankenschwesternoutfit mit strohblondem Perückenturm, hochsitzendem Stopfbusen, schwarzen Nylons an Hüfthaltern unter dem weißen Kittel und Stethoskop um den Hals, ein anderer war komplett in ein netzstrumpfartiges Etwas eingenähnt, das mehr von seinem mageren Körper zeigte als verhüllte. Klar, es war Fasching. Sie alberten herum, winkten einander und küssten sich kompliziert. Fleck verlor sich in den vielfältigen Möglichkeiten, Arme und Beine zu knicken, den Körper zu recken, seine Ebenen und Gelenkachsen gegeneinander zu verschieben. Diese Produktfamilie schien über ein paar Gelenke mehr zu verfügen als gewöhnliche Menschen. Er bestellte ein zweites Bier, ein drittes.

Mit dem vierten stand er irgendwann an der Tanzfläche und starrte über eine Menge zuckender Männerleiber. Jetzt war der Laden voll, viele Tänzer hatten sich ausgezogen und tanzten mit nacktem Oberkörper. Tanzten sie, oder spielten sie tanzen? Taten sie etwas aus eigenem Antrieb, oder machten sie etwas nach, und wie sollte man das eine vom anderen unterscheiden? Ein großer Dicker mit nacktem Oberkörper bewegte sich mit Kopulationsbewegungen auf ihn zu und schlang ihm sein nass geschwitztes T-Shirt um den Hals, um ihn auf die Tanzfläche zu ziehen. Fleck schlug um sich. In einer Art Wahrnehmungsverschiebung hatte er auf einmal das Gefühl, ins Innere einer Pralinenschachtel geraten zu sein. Die Pralinen tanzten, hüpften zur Musik auf und ab, sie schrien und johlten, zeigten ihre glitzernde Verpackung mit der rosa Schleife und sangen: Nimm mich, nimm mich, nicht die anderen, mich musst du auspacken, mich, ich bin ganz besonders süß. Eine Praline sang es der anderen zu, und die sang es wieder zurück, sie sangen es in Gruppen, auf verschiedene Stimmen verteilt, im Chor, aber irgendwie war da kein Esser, keine Naschkatze, zu den vielen Objekten der Begierde schien es keinen Begehrenden zu geben.

Schluss, dachte er, aufhören mit solchen Gedanken, sonst gehst du besser gleich. Es gibt doch einen Grund, weshalb du hier bist, warum du dir diesen extra dicken Joint reingezogen und dich hineingewagt hast in dieses knallbunte Reich mit seinen Kristallzuckergesetzen. Er dachte an Jan und seinen Versuch sexueller Freizügigkeit, ein rigides, besitzfixiertes, ehrversessenes, zwiegespaltenes Wesen wie er selber eines war. Männer wie Jan gab es hier nicht, hier gab es nur …

Er merkte, wie ihn aus dem Gewühl jemand ansah, über einen anderen Körper hinweg. Das Gesicht lehnte ruhig mit dem Kinn auf einer Adidas-Schulter, die dazugehörigen Hände fuhren den Adidas-Rücken hinunter, und obwohl der Typ, am Bund der Jeans angekommen, den Gummi einer blendend weißen Unterhose anhob und seine Hand darin versenkte, ließ er nicht davon ab, Fleck anzustarren. Starren war nicht der richtige Ausdruck, seine Augen schienen vor Langeweile oder Müdigkeit halb geschlossen, aber die Richtung war unbeirrt und eindeutig. Eine sackförmige Nebelmaschine an der Decke puffte einen vanille-aromatisierten Rauchring über die Tanzfläche. Fleck fuhr zusammen und sah hoch: Ein grauer Riesenkringel ging über ihn hinweg. Aber der Blick war immer noch da. Ehe er sich kontrollieren konnte, hatte er weggesehen und einen Verlegenheitsschluck aus seiner Flasche genommen. Nein, dieser Blick war zu herausfordernd, zu ungeniert, als dass Fleck ihm hätte standhalten können. Er sah noch mal hinüber, wo die Augen über der Schulter unverändert auf ihn gerichtet waren, und drängelte schließlich, um seiner Befangenheit nicht länger ausgesetzt zu sein, in eine andere Richtung.

In der Ecke, in die es ihn geschwemmt hatte, stand eine Gruppe mittelalter Schwuler. Eine eigene Spezies, wie ihm vorkam. Die Augen schienen ihm das Bedrohlichste an ihnen: Wie sie ihn anschauten, wie sie die Jungen auf der Tanzfläche anschauten, wie sie einander anschauten; wie sie sich anschauten, wenn sie sich kannten und wenn sie sich nicht kannten, wie sie scheinbar unbeteiligt zu jemandem hinübersahen, vermeintlich uninteressiert den Blick wieder abwandten und wie zufällig zum Objekt des Interesses zurückkehrten, wie sie prüften, abwogen, taxierten, aus den Augenwinkeln linsten. Der Blick fremder Wesen, ein Blick des Hungers auf ein Stück Fleisch. Er verstand die uralte Angst vor Augen, Augen, die sich in einem starren Gesicht als Einziges bewegten, einem Blick, der nicht in eine Mimik, ein Lächeln eingebunden war, der keine Verbindung aufnahm, nicht in Kommunikation überging. Eins dieser Augenpaare fiel ihm besonders auf, es stach im wahrsten Sinn heraus. Es gehörte einem untersetzten Typen Anfang vierzig mit beginnender Glatze und in den Nacken gelegtem Kopf. Sympathisches Gesicht eigentlich, jedenfalls das einzige in der Reihe, auf dem sich ein Lächeln bildete, als er hinsah. Dafür war der Blick selbst umso beunruhigender: ungleich, das linke Auge anders als das rechte, kalt, stechend, beängstigend starr. Gegen den bösen Blick hatte man sich früher Amulette umgehängt, Steine aus blauem Glas, die selber Augen darstellten, war es nicht so?

Hier hielt er es nicht aus. Er kehrte um, arbeitete sich gegen den Strom zurück und sah den Typen mit dem Schlafzimmerblick am alten Platz an der Bar lehnen. Die Adidas-Schulter war verschwunden, er war allein. Er mochte vierundzwanzig sein und drückte, als er Fleck erblickte, mit der Faust in der Hosentasche in einer lasziven Dehnbewegung seine Jeans so weit herunter, dass man das kurz rasierte Schamhaar beinahe bis zum Schwanzansatz sah. Es fehlte nicht viel, und die Hose, aus der sein Arsch sowieso schon zu zwei Dritteln hing, wäre zu Boden gesunken. An der Stelle, wo der Bauchmuskel ins Leistenband überging und eine Kuhle bildete, zeichnete sich das Relief einer Ader ab. Während er so posierte, schaute er teilnahmslos in eine andere Richtung. Fleck starrte auf die Ader mit bekiffter Faszination. Der Typ musste es bemerkt haben: Wie nebenbei kratzte er sich im Schritt, drehte wie in Zeitlupe den Kopf, rekelte sich ihm ein kleines Stück entgegen und sah jetzt geringschätzig, mit herausforderndem Desinteresse und einem leichtem Anflug von Ekel zu Fleck herüber. Ich bin es nicht gewohnt, so angesehen zu werden, dachte Fleck, verdammt, Frauen sehen einen nicht so an. Wieso war dieser Typ so selbstsicher, und warum war er selbst nicht in der Lage, diesen Blick zu parieren, sein Gesicht zum kleinsten Lächeln zu verziehen, sich entweder entschieden abzuwenden oder einfach hinzugehen und einen belanglosen Satz zu sagen? Zum zweiten Mal wandte er unfreiwillig den Blick ab. Ihm war klar, dass der andere nun wusste, wie wichtig er auf einmal war, und dass er selber, Fleck, ihm genau aus diesem Grund sehr gut unwichtig sein konnte. Wollte er das hinnehmen? Wollte er fremde Eitelkeit triumphieren lassen? Die Adidas-Schulter kam zurück. Von vorn sah sie anders aus, als man von hinten gedacht hätte, älter, mit ein wenig verbrauchtem Gesicht, aber sportstudiogestählt, solariumsbraun. Der Typ drückte, den Rücken zu Fleck, das Knie in den Schritt des anderen. Das enthob Fleck jeder weiteren Reaktion. Arschlöcher. Blödes Pack. Macht doch, was ihr wollt. Er setzte seine Runde fort.

Fleck stand irgendwo mit seinem siebten Bier herum, schaute in das Durcheinander zuckender Körperteile und wurde allmählich müde. Seine Energie war verbraucht, er hätte nicht herkommen sollen. Für so etwas war er sich zu gut, zu fein, und andererseits hatte er es nicht gewagt. Eine Niederlage. Plötzlich spürte er, wie sachte ein Kopf gegen sein linkes Ohr stieß.

»Ich heiße Sven.«

Der Typ von vorhin stand neben ihm, sehr nah, und lächelte. Das Lächeln war freundlich, fast ein bisschen schüchtern, nicht kokett, nicht arrogant oder provozierend, überhaupt nicht mehr.

»Und weil das Leben kurz ist«, meinte Sven, »frage ich dich jetzt gleich, ob du mit zu mir kommen willst.«

4. Weinender Stefan