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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1.

„Das ist doch wirklich ein Witz“, sagte Ferris Tucker, der seine schwieligen Hände auf das Backbordschanzkleid des Achterdecks gelegt hatte und sich aufstützte. „Daheim in Old England pfeifen eiskalte Winde übers Land, und es liegt bestimmt wieder Schnee, auch in Cornwall. Und hier? Hier brennt einem die Sonne auf den Pelz, wie im Frühling.“

„Und Orangen und Zitronen gibt’s“, sagte Ben Brighton, der Erste Offizier und Bootsmann der „Isabella VIII.“, lächelnd. „Außerdem Feigen, Datteln und Oliven, Fenchel und Artischocken – und Wein, roten und weißen Wein in Hülle und Fülle.“

Sie blickten zu den Booten hinunter, die die „Isabella“ umlagerten wie ein Schwarm quicklebendiger Fische, die einen riesigen Wal begleiteten. Das Schnattern der mit Burnus und Turban bekleideten Insassen drang zu ihnen herauf, ein einziges Durcheinander von Worten jener fremden Sprache, die nach wie vor nur zwei Mitglieder der Besatzung richtig verstanden: Philip junior und Hasard junior, die Zwillinge, Philip Hasard Killigrews Söhne. Sie standen auf dem Hauptdeck neben ihrem Vater und übersetzten ihm, was die ambulanten Händler ihnen auf türkisch zuriefen.

Eifrig boten die Burnusträger, ihre Waren feil. Sie hielten geflochtene Körbe mit Früchten und Gemüse, Krüge mit Wein in die Höhe und nannten ihre Preise.

„Ja, Freunde“, sagte Big Old Shane, der soeben zu Ferris und Ben getreten war. „In England dagegen müßten wir uns mit ein paar verschrumpelten Äpfeln zufriedengeben, die vom letzten Sommer übriggeblieben sind. Und dann wären da noch das Bier und der gepanschte Wein, den Gauner und Halsabschneider wie Nathaniel Plymson ausschenken. Damit ist, weiß der Himmel, nicht viel los. Läßt es sich hier nicht viel besser aushalten?“

„Klar“, erwiderte der rothaarige Schiffszimmermann mit verdutzter Miene. „Habe ich das vielleicht bestritten?“

„Nicht direkt.“

„Sondern? Auf was spielst du eigentlich an?“

Ben lachte. „Das ist doch ganz einfach. Shane denkt, daß es dich zurück nach England zieht.“

„Mich?“ Ferris stieß einen Laut der Empörung aus. „So ein Blödsinn.“

„Gib es ruhig zu“, sagte Shane. „Schließlich sind wir doch schon eine Ewigkeit nicht mehr dort gewesen.“

Ferris hatte sich umgedreht und rückte drohend ein Stück auf den graubärtigen Riesen zu. „Sicher, das weiß ich. Aber ausgerechnet mir willst du anhängen, daß ich Heimweh nach Plymouth, nach der ‚Bloody Mary‘ und dem dicken Plymson habe? Mann, Shane, das lasse ich mir von dir doch nicht in die Stiefel schieben.“

„Von Heimweh kann keine Rede sein …“

„Mir gefällt es hier bestens“, fiel Ferris ihm ins Wort. „Hier kann man wenigstens im Hemd an Deck stehen, und das nach Weihnachten! Ist das nicht wunderbar? Mehr noch, man kann sich das Hemd sogar ausziehen. Hier, soll ich mal?“ Er traf Anstalten, seinen Oberkörper zu entblößen, aber Shane stoppte sein Vorhaben durch eine Geste.

„Schon gut, ich glaub’s dir ja“, brummte er. „Wir sind im Gelobten Land, wir haben herrliches Wetter, uns mangelt es an nichts – was wollen wir noch mehr?“

„Eben“, sagte Ferris mit grimmiger Miene. „Was wollen wir noch mehr?“

Ben Brighton grinste sich eins und stieg auf das Hauptdeck hinunter. Natürlich wären sie alle – er selbst schloß sich da nicht aus – um diese Zeit gern wieder in England gewesen, aber keiner mochte es so recht eingestehen. Zu Weihnachten war den harten Männern, die tausend Wettern und Entbehrungen getrotzt hatten, ein bißchen wehmütig ums Herz geworden, denn gern hätten sie wenigstens gewußt, wie es ihren Angehörigen zu Hause ging und überhaupt, ob sie noch alle am Leben waren.

Doch gut fünftausend Meilen Seeweg lagen zwischen der „Isabella“ und Cornwall. Und zwischen ihrem jetzigen Aufenthaltsort und die Hoffnung auf eine baldige Heimkehr hatten der liebe Gott und Hasard, der „Master next God“, noch eine ganze Reihe von Begebenheiten und Unternehmungen geschoben.

Auf der Reede von Akka, einem der ältesten Häfen von Palästina, ankerte die „Isabella“. Noch weiter nach Süden sollte sie segeln, an der Wüste Sinai vorbei und nach Ägypten, die Mündung des Nils hinauf auf der Suche nach den Wundern, die die Karten des Seewolfs verhießen. Was sie alle am Ende dieser Reise erwartete, konnte noch keiner ahnen.

Man schrieb den 28. Dezember 1591. Als eine Art Frist hatte der Seewolf sich den Jahreswechsel gesetzt, bis dahin wollte er das „Land der Pharaonen“ erreicht haben, obwohl es natürlich keinen zwingenden Grund dafür gab, am 1. Januar 1592 bereits am Nil zu sein.

In Akka jedoch hatte er eine Zwischenstation eingelegt, um ein wenig Proviant an Bord zu nehmen. Trinkwasser, Frischfleisch, Dörrfleisch, Speckseiten und Dauerwurst waren in der Vorratskammer der Kombüse noch reichlich vorhanden, doch es mangelte an „Grünzeug“. Hier, im Heiligen Land, konnte man davon noch genug erstehen, wie sich erwiesen hatte. Wie es jedoch an den sandigen Küsten Nordafrikas sein würde, wußten die Männer der „Isabella“ nicht.

Daher hatte Hasard an diesem Morgen beschlossen, Akka anzulaufen, und jetzt, am späten Vormittag, schickte er sich an, einen Teil der lärmenden Meute in den Booten auf das von der Sonne erwärmte Deck der „Isabella“ zu lassen.

Türkisch wurde auch hier gesprochen – wie auch auf Zypern, an der Südküste Anatoliens und im Libanon, wo sie zuletzt gewesen waren –, nicht etwa vorwiegend Hebräisch oder Arabisch, denn 1517 war Palästina durch Selim I. Ägypten entrissen und dem mächtigen Ottomanischen Reich einverleibt worden. Soweit es die Sprache betraf, war dies ein Vorteil für die Seewölfe, denn sie konnten sich dank der Vermittlung durch die Zwillinge wenigstens mit den Menschen verständigen.

Als Ben sich zu Hasard und dessen Söhnen gesellte, erschien gerade auch der Kutscher in Begleitung von Carberry und Blacky und fragte: „Wie steht es mit den Preisen, Sir?“

Der Seewolf wandte sich zu seinem Koch und Feldscher um. „Sie behaupten alle, man könne ihre Waren für ein Bakschisch haben, für ein Almosen – aber wer glaubt ihnen das schon? Warte nur ab, bis das Feilschen beginnt.“

„Bezahlen wollen wir ja“, sagte Ben. „Bloß wollen wir uns nicht übers Ohr hauen lassen, nicht wahr?“

„Stimmt genau“, erwiderte Hasard. „Deshalb habe ich den Kutscher gleich rufen lassen, damit er prüft, was die Burschen uns anbieten. Sollten sie faule Ware in ihre Körbe geschmuggelt haben, können sie gleich wieder verschwinden.“

„Dann fliegen sie achtkantig über Bord, was?“ fragte Edwin Carberry, der Profos.

Hasard lachte. „Nein, dann komplimentieren wir sie in ihre Boote zurück, Ed. So nennt man das.“

„Hol’s der Henker“, brummte der Narbenmann. „So fein werde ich mich nie ausdrücken können. Ist denn das so schlimm?“

„Eigentlich nicht“, entgegnete sein Kapitän. „Aber du solltest dir merken, daß wir hier Gäste sind und keine Leute ins Hafenwasser befördern dürfen, nur weil uns ihre Nase vielleicht nicht paßt.“

„Wie? Ihre Nase? Und was ist, wenn sie uns begaunern?“

„Dem einen oder anderen mag das so im Blut liegen“, sagte Hasard. „Aber auch das ist kein Grund dafür, gleich rüde Methoden anzuwenden. Halte dich bitte zurück.“

„Aye, Sir.“

„Man soll seinen Nächsten lieben wie sich selbst“, sagte der Kutscher mit einem feinen Zucken in den Mundwinkeln.

Der Profos fuhr zu ihm herum. „Das steht in der Bibel, wie, was? Na schön, ich habe nichts gegen die Bibel, du Bratfloh. Aber ich kann deine schlauen Reden nicht ausstehen, Kutscher. Halt gefälligst dein Schott, sonst setze ich dich auf der nächsten Feluke aus, da kannst du dann als Bordkaplan deine weisen Sprüche von dir geben.“

„Aye, Sir“, sagte der Kutscher.

Hasard hatte den Zwillingen einen Wink gegeben. Philip und Hasard junior beugten sich über das Schanzkleid, steckten die Finger in den Mund und stießen beide einen schrillen Pfiff aus, der die Händler verstummen ließ. Dann rief Philip junior etwas, das in den Ohren ihres Vaters und seiner Männer wie „Bysgidiorus“ und „Schasgiorsudüs“ klang, und deuteten auf den einen und anderen der Burnusträger.

Ihre Worte wirkten wie ein Zauberspruch. Mit geradezu unglaublicher Eilfertigkeit und Geschicklichkeit enterten die sechs Auserwählten an der von Blacky inzwischen ausgebrachten Jakobsleiter auf und balancierten ihre Körbe und Krüge auf ihren Häuptern und Händen.

Die anderen, die in den Booten bleiben mußten, blickten recht betroffen drein, doch die Zwillinge beschwichtigten sie mit ein paar schnell ausgestoßenen, zungenbrecherischen Worten.

„Was habt ihr ihnen gesagt?“ wollte ihr Vater von ihnen wissen.

„Daß sie auch noch drankommen, Dad, Sir“, antwortete Hasard junior.

„Wir werden sehen“, sagte der Seewolf. Er war sich noch nicht schlüssig darüber, ob er auch die anderen alle an Bord lassen sollte. Vielleicht genügte ihm die Ware, die jetzt von dem halben Dutzend Turbanmänner auf die Kuhl gehievt wurde. Diese sechs Männer schienen tatsächlich das beste Obst und Gemüse zu veräußern. Wie es allerdings mit dem Wein war, ließ sich erst nach einer Geschmacksprobe beurteilen.

Hasard hütete sich davor, die ganze Schar an Bord aufzunehmen. Bei anderen Gelegenheiten hatte sich schon erwiesen, daß es ein großer Fehler sein konnte, denn oft wurden Bumboote und Proviantschaluppen nur als Tarnmittel benutzt. Oft genug hatten verkleidete Beutelschneider und Marodeure die „Isabella“ zu kapern versucht, und auch in Neapel hatte es ein ähnliches Abenteuer gegeben, bei dem die Seewölfe leicht den kürzeren hätten ziehen können.

Bei aller gegenseitigen Gastfreundschaft war auch im Heiligen Land Vorsicht geboten. Der Seewolf vergaß dies keine Minute, weil ein gebranntes Kind bekanntlich das Feuer scheut.

Die Händler setzten ihre Körbe und Krüge auf den Planken ab und begannen wieder, die Qualität der Waren in den lautesten Tönen anzupreisen. Der Kutscher trat mitten zwischen sie, beugte sich über die duftenden Fenchel, über Artischokken, Stielmangold, Sellerie, Rosmarin und Salbei und begutachtete sie mit kritischer Miene. Er nahm Orangen und Zitronen in die Hände und ließ seinen Blick argwöhnisch über die grünen und schwarzen Oliven wandern.

Mit Oliven hatten die Seewölfe auch nach ihren vielen Reisen in fremde Länder nicht viel im Sinn, doch alles andere brauchten sie dringend. Wenn kein Sauerkraut an Bord war, dann mußte die Mannschaft die Abwehrstoffe gegen Skorbut und andere Mangelkrankheiten aus anderen Nahrungsmitteln beziehen. Obst und Gemüse konnten aus diesem Grund nicht reichlich genug in den Vorratsräumen gestaut werden.

Der Kutscher begann mit seiner Auswahl, und wenig später bedeutete Hasard seinen Söhnen, sie sollten die Händler dazu veranlassen, noch mehr volle Körbe an Bord zu holen. Diesmal beteiligte er auch die anderen Zubringer, die in den Booten geblieben waren, so daß am Ende keiner von ihnen leer ausging.

Einer der Burnusträger auf der Kuhl hob unterdessen seinen Weinkrug von den Planken hoch und goß die von Stenmark und Luke Morgan rasch herbeigeholten Mucks mit rubinroter Flüssigkeit voll.

Der Mann war hochgewachsen und hager, sein braungebranntes, asketisch wirkendes Gesicht war im Gegensatz zu seinen Begleitern bartlos. Er begleitete seine Tätigkeit durch aufmunterndes Nicken und Lächeln.

Rasch waren alle gewünschten Frischwaren an Bord geholt. Die Weinprobe verlief positiv. Hasard übernahm zehn Fässer Rot- und Weißwein, die von Blakky, Batuti und Matt Davies aus den Booten an Bord gehievt wurden. Ziemlich schnell wickelte der Seewolf nun auch die Bezahlung ab, indem er sich auf ein großes Handeln gar nicht erst einließ, sondern rigoros die Preise bestimmte.

Die Händler zeigten sich einverstanden, nahmen ihre Münzen entgegen und verabschiedeten sich wort- und gestenreich. Sie versicherten Hasard und seinen Männern, daß Allahs Segen ihnen gewiß sei, verbeugten sich mehrfach und wandten sich schließlich dem Schanzkleid und der Jakobsleiter zu, um die „Isabella“ zu verlassen.

Als letzter ging der Hagere, doch er drehte sich am Schanzkleid überraschend wieder um, als die anderen bereits außenbords abenterten.

Hasard, der die kleine Gruppe bis hierher begleitet hatte, sah als erster, welchen Gegenstand der Mann blitzschnell unter seinem Gewand hervorholte.

Es handelte sich um eine Steinschloßpistole mit achteckigem Lauf. Ihre Mündung wies genau auf Hasards Brust.

Hasard stand wie erstarrt auf der Kuhl. Ben Brighton, Carberry, die Zwillinge und alle anderen in seiner Nähe erblickten die Steinschloßpistole jetzt ebenfalls und griffen fluchend zu ihren Waffen.

Der Burnusmann stieß einen zischenden Warnlaut aus.

„Ganz ruhig bleiben“, sagte Ben Brighton langsam. „Laßt eure Pistolen stekken, Männer, ihr gefährdet Hasard.“

„Hölle und Teufel“, sagte der Profos. „Was hat dieser lausige Kümmeltürke vor?“

„Das ist doch klar“, flüsterte Blakky erbost. „Er will unser Geld und unser Gold. Verdammt, jetzt sind wir doch in eine Falle gegangen.“

„Philip“, sagte der Seewolf zu seinem Sohn, der rechts neben ihm stand und den Händler entgeistert ansah. „Erklär ihm, daß er keine Chance hat. Er hat nur eine Kugel, und die muß er auf mich abfeuern. Ich kann mich auf ihn stürzen und die Kugel mit meinem Leib auffangen, und dann geht es ihm an den Kragen. Dann verläßt er die ‚Isabella‘ nicht lebend, sondern mausetot und mit einem Gewicht an den Füßen.“

Philip junior wollte gerade zum Sprechen ansetzen, da entgegnete der Burnusmann zu ihrer aller Überraschung in ziemlich gutem Englisch: „Nein, das glaube ich nicht. Ich werde leben, und ihr werdet mich auf eurem Schiff mitnehmen, denn dein Mut kann nicht so groß sein, daß du dich für deine Männer opferst, Kapitän.“

„Wie denn, was denn?“ rief Carberry. „Er kann Englisch? Hölle und Kanonenrohr, dann ist er also gar kein Türke?“

„Vielleicht ein Hebräer“, meinte Blacky.

„Oder ein Araber“, sagte Stenmark.

Ben Brighton schüttelte den Kopf. „Unsinn, es ist völlig ausgeschlossen, daß ein Eingeborener dieses Landstrichs unsere Sprache beherrscht. Ich glaube, daß er ein Europäer ist. Seht euch doch mal seine Augen an.“

„Sie sind nicht dunkel, sondern hell“, sagte der Kutscher verblüfft. „Hellblau.“

„Es ist unser Pech, daß uns das nicht eher aufgefallen ist“, sagte der Seewolf zu dem Mann mit der Steinschloßpistole. „Aber du täuschst dich, wenn du glaubst, daß du mich einschüchtern kannst. Wage nicht, deine Kumpane zurückzurufen.“

„Meine Kumpane?“ wiederholte der andere. Er lachte. „Nein, nein, ich habe nichts weiter mit ihnen zu schaffen. Hörst du nicht, wie sie ablegen und davonpullen, Kapitän? Einfaltspinsel sind sie, harmlose Biedermänner, Krämerseelen, die von alledem, was ich plante, nicht das geringste ahnten. Arglos blieben sie, als ich mich unter sie mischte, mein Türkisch reichte aus, um sie glauben zu lassen, ich wäre aus Griechenland und hätte vom türkischen Wesir in Jerusalem die Erlaubnis erhalten, hier in Akka einen bescheidenen Kleinhandel zu betreiben. Ich kaufte Obst und Gemüse und rüstete eine kleine Tartane aus, und hier bin ich nun, aber die da unten begreifen ja immer noch nicht, was ich vorhabe. Selig sind die geistig Armen, der Herr stehe ihnen bei.“

Carberry blickte verdutzt den Kutscher an und zischte: „Sag mal, höre ich richtig? Der Hundesohn drückt sich ja noch schlimmer aus als du. Ist der etwa nicht ganz richtig im Oberstübchen?“

„Was willst du?“ fragte Hasard. „Wer bist du?“