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Haupttitel

Die Übersetzung dieses Romans wurde durch ein Stipendium der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen gefördert.

Das Zitat aus dem Journal d’un génie von Salvador Dalí ist Seite 34f. der 1968 bei Desch in München erschienenen Übersetzung aus dem Französischen von Rolf und Hedda Soellner entnommen.

Verlag Voland & Quist GmbH, Dresden und Leipzig, 2016

Originaltitel: Мова 墨瓦, erschienen bei Knihazbor, Minsk 2014

© Viktor Martinowitsch, 2014

DEUTSCHE ERSTAUSGABE

1. Auflage 2016

Verlag Voland & Quist, Dresden und Leipzig, 2016

© der deutschen Ausgabe by Verlag Voland & Quist GmbH

Illustrationen: © Natallia Harachaya

Korrektorat: Annegret Schenkel

Umschlaggestaltung: HawaiiF3

Satz: Fred Uhde

E-Book: eScriptum, Berlin

ISBN: 978-3-86391-163-8

www.voland-quist.de

Viktor Martinowitsch, 1977 in Belarus geboren, studierte Journalistik in Minsk und lehrt heute Politikwissenschaft an der Europäischen Humanistischen Universität in Vilnius. Er schreibt regelmäßig für ZEIT online. Martinowitsch wurde bekannt mit dem Roman Paranoia, der in Belarus nach Erscheinen inoffiziell verboten wurde. Die deutsche Übersetzung erschien 2014 bei Voland & Quist.

Thomas Weiler, 1978 im Schwarzwald geboren, studierte nach seinem Ersatzdienst in Minsk Russisch und Polnisch in Leipzig, Berlin und Sankt Petersburg. Er lebt als Übersetzer und Vermittler russischer, polnischer und belarussischer Literatur mit seiner Familie in Markkleeberg.

… wobei jede, auch noch so »tiefe« Lexik kodiert bleibt, falls, wie man heute denkt, die Psyche selbst wie eine Sprache gegliedert ist; noch besser: Je tiefer man in die Psyche eines Individuums »hinabsteigt«, umso spärlicher werden die Zeichen.

Roland Barthes: Rhetorik des Bildes

Inhalt

  1. Erster Teil
    1. Dealer
    2. Junkie
    3. Dealer
    4. Junkie
    5. Dealer
    6. Junkie
    7. Dealer
    8. Junkie
    9. Dealer
    10. Junkie
    11. Dealer
    12. Junkie
    13. Dealer
    14. Junkie
  2. Zweiter Teil
    1. Junkie
    2. Dealer
    3. Junkie
    4. Dealer
    5. Junkie
    6. Dealer
    7. Junkie
    8. Dealer
  3. Dritter Teil
    1. Junkie
    2. Dealer
    3. Junkie
    4. Dealer
    5. Junkie
    6. Dealer
    7. Junkie
  4. Vierter Teil
    1. Dealer
    2. Junkie
    3. Dealer
    4. Junkie
    5. Dealer
    6. Junkie
    7. Dealer
    8. Junkie
    9. Dealer
    10. Teer
    11. Epilog
  5. Nachbemerkung des Übersetzers

Erster Teil

Dealer

»Es ist das Gesicht, verstehst du? Ausdruck, Augen, Stirn. Pass auf.« Ich stützte mich auf den Tresen und beugte mich vor, stieß dabei gegen mein Glas, dass das Bier aufspritzte, fing es aber ab, bevor es umfallen konnte – so besoffen war ich noch nicht. »Also, schau in diese blauen Augen, mein Freund. Kannst du glauben, dass ein Mensch, der so grundanständige Augen hat, mit Drogen handelt?«

Der Barmann lächelte und sprach mir nach: »Mi-di-lo-ge-han-del.« Er hatte es nicht so mit dem »r«. Kam wohl aus dem kantonesischen Süden von China.

Keine Ahnung, ob er überhaupt etwas kapiert hatte. Mit den Chinesen ist das eh so eine Sache. Du weißt nie, wann sie dich verstehen und wann sie nur so tun, als ob sie dich verstehen. Und schon gar nicht, wann sie dich nicht verstehen und wann sie nur so tun, als ob sie dich nicht verstehen. Dieser hier sah aus, wie ein Barmann in einer chinesischen Bar mitten in Warschaus Chinatown in unserem gesegneten Jahr 4741 (dem Jahr des Schweins) auszusehen hat. Total unbeteiligt nämlich. Er trug Big Star-Jeans und ein Le Coq-Poloshirt, dabei hätte Zara China besser zu seinem Persönlichkeitsprofil gepasst. Der oberste Kragenknopf war geschlossen. Schon da hätte ich misstrauisch werden müssen. Vorsicht vor zugeknöpften Poloshirtträgern.

In die Bar zu gehen und sich mit Bier abzufüllen ist bestimmt nicht das Erste, was man tun sollte, wenn man sich eben rund einhundert Trips im Gesamtwert von siebentausend Neuen Yuan besorgt hat. Schon gar nicht, wenn du auf dem Sprung zum Zug bist, in dem dich eine Stunde später der Zoll, Spürhunde, »Spürhunde«, Scanner und die Staatliche Suchtmittelkontrollbehörde erwarten. Aber ich habe da so meine Methoden.

Außerdem ist es schon Tradition. Nach jedem erfolgreichen Ankauf gehe ich ins finsterste Chinatown und gönne mir zwei Triumphgläser Bier. Diesmal waren es halt ein paar mehr als zwei geworden, ja, verdammt. Deshalb konnte ich dann auch die Klappe nicht halten.

»Wie heißt du?«, fragte ich den Barmann zum vierten Mal.

»Iwan. Wanja.« Er lächelte höflich. Sie sagen immer, dass sie Wanja heißen, wenn sie einen Russen vor sich haben.

»Und wie heißt du wirklich?«

Er sagte etwas, das ich wie immer nicht einmal wiederholen, geschweige denn mir merken konnte. Was wollte ich auch mit seinem Namen?

»Noch eins, ein Dunkles«, bestellte ich. Das letzte Glas war irgendwie schon leer, hatte ich gar nicht mitbekommen. Nein, wie gesagt, ich war nicht betrunken! Früher war ich nach einem erfolgreichen Ankauf immer zu den Türken gegangen und hatte eine Shisha mit ordentlich Ganja weggeraucht. Warschau ist um einiges attraktiver geworden, seit sie Gras legalisiert und Döner verboten haben. Aber Shishas gehen angeblich auf die Gesundheit. So habe ich halt die Triumphbiertradition begründet.

Ihr fragt jetzt vielleicht, ob ich auch mal probiert habe, was ich da weiterverkaufe. Bin ich bescheuert? Die Suchtmittelkontrolle erkennt einen Suchti doch sofort! Das prägt sich ein. Wer im Stoff steht, weiß, was ich meine. Wer nicht, braucht eh nicht weiterzufragen.

»Das Gesicht, da …« Ich wollte das Gespräch mit dem Barmann fortsetzen, das er, wie es schien, gar nicht aufgenommen hatte. »Da fließt doch alles ein, was du tust. Hier, pass auf, ich hab grad ein Bierchen gezischt. Was ein anständiger Physiognomiker ist, der sieht in meiner Visage auf Anhieb den Bierdurst. Und die Physiognomiker bei denen erst …« Ich wiegte anerkennend den Kopf.

Der Chinese hatte jegliches Interesse an meinen Ausführungen verloren und sich dem Netvisor zugewandt, auf dem eine Talkshow lief oder die Wettervorhersage – in den chinesischen Programmen erkennst du das nie so genau. Ich musterte mich kritisch im Spiegel hinter dem Tresen: Persönlichkeitsprofil Marks & Spencer mit einer Spur Tommy Hilfiger-Romantik. Stahlblaue Augen. Jungenhaft rosige Wangen. Student in den höheren Semestern oder Jungdozent. Vielleicht auch Priesteranwärter im Hugo Boss-Tempel. Oder Verkäufer in einer Boutique. Kurzum, eine Assoziationskette aus ausnahmslos positiven, ansprechenden Berufen zum Wohle der Gesellschaft. Bloß nicht lächeln. Ich hätte das Lächeln der besonders Schlauen, heißt es. Das passt nicht zu blauen Augen und rosigen Wangen.

»Es ist nämlich so: Ich habe ein Musterschülergesicht. Ich weiß das. Sie wissen das. Die Zollies sehen das Gesicht eines braven, lauteren Menschen, der seinen Brand in einem Warschauer Bierschuppen gelöscht hat – alles klar, keine weiteren Fragen. Macht man eben so in der Welt dort. Wer tatsächlich vor ihnen steht, bleibt schön unter uns beiden. Verstehst du, Wanja, altes Haus, mein Gesicht ist mein größter Trumpf! Weil sonst hätten sie mich bei der ersten Kontrolle am Arsch! Und du willst mir erzählen …«

Das alte Haus ignorierte mich beharrlich weiter, aber ich wollte seine Aufmerksamkeit.

»In meinem ganzen Leben, Wanja! Nicht ein einziges Mal geschnappt! Und ich fahre seit fünf Jahren alle drei, vier Monate. Nicht ein einziges Mal!« Da bemerkte ich plötzlich, dass ich mich gleich einpissen würde. Ist schon ein Kreuz mit diesem Bier – immer lässt es dir erst ausrichten, es wäre Zeit für den Klogang, wenn du nicht mehr hingehen kannst, sondern rennen musst. Ich also losgerannt und – zum ersten Mal überhaupt an diesem Tag! – meinen Rucksack mit den hundert Trips im Gesamtwert von siebentausend Yuan unbeaufsichtigt stehen gelassen.

»Bin ja gleich zurück«, habe ich mir noch gesagt, als ich die Klotür schon hinter mir geschlossen hatte. Hier in Warschau kann ja eh keiner was anfangen mit diesen hundert Trips. Hier kosten sie ja nichts. Also nichts heißt: so gut wie nichts. Keine fünfzig Euro alles zusammen. Aber drüben, daheim, in Minsk, in Chinesisch-Russland, kriege ich dafür, sechs-, ach was, locker siebentausend Yuan, und für einen Neuen Yuan gibt es bekanntlich 1,36 Euro. Glückwunsch, Alter, das nenne ich einen guten Schnitt!

Jetzt wollt ihr natürlich wissen, wo ich eingekauft habe. Und denkt, ich erzähle euch nichts. Aber ich erzähle es eben doch, in allen Einzelheiten. Geht doch hin und kauft euch selber was! Und versucht es einzuführen! In Brest sacken sie euch ein, stecken euch bis zur Gerichtsverhandlung für zwanzig Tage in den Knast zu den verlausten westeuropäischen Migranten, die ins Reich der Mitte drängeln, um sich ein paar Tausend Euro für Gallina Blanca-Tütensuppen zu verdienen, damit sie im Alter was zu beißen haben. Das Gericht wird euch dann als Dealer verurteilen, nichts anderes bin ich nämlich, wie ihr inzwischen wohl kapiert habt, und über euch zu Recht die Todesstrafe verhängen, oder es nimmt an, ihr hättet euch für den Eigenbedarf eingedeckt, dann bekommt ihr sechs bis zehn Jahre verschärften Arrest. Also schreibt ruhig mit, bitte sehr!

Wenn du in Warschau aus den Bahnhofskatakomben kommst, siehst du den Kulturpalast-Wolkenkratzer, in dem jetzt lauter Boutiquentempel sind (ich kaufe mir immer was am Südeingang, bei der Hermès-Kapelle. Bei ihrem letzten Clip »Temptation is salvation« sind mir die Tränen gekommen, ganz ehrlich. So viel Leidenschaft und dann am Ende das Gefühl, dir sind sämtliche Sünden vergeben! Das ist echt das Allerheiligste! Diese aufrichtigen Menschen sind wirklich das Geld wert, um das sie dich bitten, damit du blasser Niemand dich ihren Ikonen nähern darfst. Die Kohle für die Erlösung durch den Kauf eines kompletten Hermès-Anzugs habe ich mit meinen Minsker Drogengeschäften natürlich noch nicht zusammen, aber ich kaufe mir die Vergebung im Kleinen: Knöpfe, ein Kuli, sogar eine Krawatte habe ich, auch wenn ich sie zu nichts anderem tragen kann. Ich glaube, dass sie gut fürs Karma ist. Und dass gut gekleidete Menschen wie in der Reserved-Werbung auf jeden Fall in den Himmel kommen. Erlösung durch Shopping ist die Top-Religion, auch wenn sie bei uns im Reich der Mitte kaum verbreitet ist).

Aber egal.

Also, du gehst durch den Tempel zur McDonald’s-Ranch mit den weidenden Sojastieren und der Schockerwerbung »Und wie siehst du nach dem Tod aus?« mit dem taufrischen Toten im Sarg, knackig-frisch wie das Plastikgemüse und die ewigen Pommes. Coole Idee, die Kunden, die sich nur um ihr Aussehen sorgen, mit dem Gedanken zu ködern, die McDonald’s-Konservierungsstoffe würden ihren Körper vor dem Zerfall bewahren. Aber irgendwie auch gruselig.

Dann ist es auch schon vorbei mit der »besseren Gegend«, und du kommst nach Turkestan. Da wird Fleisch gebraten und Feuer geschluckt, werden Mavi-Jeans nach Gewicht verkauft und Souvenirs aus Paris und Pamukkale verhökert. »Sonderpreis! Sonderpreis!«, rufen sie in einem fort und enthüllen damit das offene Geheimnis, dass sie nicht mit Waren handeln, sondern mit Billigkram, mit der Möglichkeit, sich für einen Appel und ein Ei etwas zu kaufen, das kein Mensch braucht. Jedem sein Merchandising. Angeblich leben hier nicht nur Türken mit ihren Türkinnen, sondern auch Marokkaner, Äthiopier und Pakistaner. Ich kann die eh nicht unterscheiden, für mich gibt es nur Russen und Chinesen. Alle anderen haben ein und dasselbe Gesicht. Hier kommt es millionenfach vor. Ein millionenfaches Grinsen. Nach einer halben Stunde drehst du durch. Multikulti halt. Bei uns herrscht Sinologie, bei ihnen Multikulti.

Jetzt musst du dich zusammenreißen, sonst bist du verloren, konvertierst zum Islam und findest dich plötzlich als Pamukkale-Souvenirhändler wieder. Frag nach dem Weg zum Fluss, möglichst ohne dir was andrehen zu lassen. Und lass dich bloß nicht ins »Kontakt-Haus« schleppen – da kriegst du nur gewöhnlichen Sex mit einer abgefuckten Französin, die voll auf exotische Perserin oder Afghanin macht.

Zwischen dem Türkenviertel und dem Fluss findest du das große rote Schriftzeichen für »Volk«, das Eingangstor zum gelben Getto. Das Chinatown von Warschau unterscheidet sich nicht großartig von dem in Minsk – ein riesiger Asia-Markt, der sich verselbstständigt und in ein ganzes Dorf verwandelt hat. Nur dass in Warschau alles flach bleibt, eingeschossig.

Ich will dir jetzt keinen konkreten Chinesen empfehlen, wo du dir deinen Stoff besorgen sollst. Erstens würdest du ihn sowieso nicht finden, weil man sich hier unmöglich orientieren kann, nicht mal mit GPS, und zweitens ist der Stoff überall derselbe. Genau wie der Preis.

Zuerst wollen sie einen Euro für ein Briefchen. Daraufhin musst du das Gesicht verziehen und dich abwenden. Dann bieten sie es dir für fünfundsiebzig Cent an. fünfundsiebzig Cent für ein Briefchen sind in Warschau, nur nebenbei, ein ordentlicher Preis. Aber jetzt pass auf: Hier musst du dich wieder entschieden umdrehen und sagen: »Ich nehme hundert für fünfzig Euro.« Und dir vorher klargemacht haben, dass das ein ordentlicher Preis ist. Wenn sie nicht drauf eingehen, ziehst du ab. Sonst wird es nichts. Sonst musst du halt doch die fünfundsiebzig Cent zahlen. Oder abziehen. Das geht auch. Nicht vergessen: hundert für fünfzig ist mein Preis. Der Preis für mein Musterschülergesicht und meine blauen Augen. Wenn du rausfinden willst, was ein guter Preis für dich ist, geh in zehn Asialäden rein. Nach dem elften kennst du deinen Preis.

Diesmal war es bei mir allerdings ohne den üblichen Zirkus und das leidige Gefeilsche abgegangen. Das hätte mich ebenfalls misstrauisch machen müssen.

Ich fand einen der typischen Anbieter. In den Läden, die das verkaufen, worauf ich spezialisiert bin, werden meistens auch noch Kalender vertickt, Horoskopbücher, Papproboter, vorsintflutliche Radios, aus denen man nach langer Sendersuche die Stimme seiner Ahnen hören kann, die einem verrät, womit man handeln muss, um schnell Millionär zu werden, Meditationsteppiche, Kimonos mit Drachenmuster, Opiumpfeifen, Mao- und Laotse-Zitate, wundertätige Greisenbilder, wobei man schon Chinese sein muss, um zu kapieren, was für Greise das sein sollen und warum die wundertätig sind. Hinter den Schaufensterscheiben, wenn es denn Schaufenster und Scheiben gibt, liegen bündelweise getrocknete Kräuter, Ginsengwurzeln, Fasanenschwanzgras, geschwärzte Eidechsen. Daran erkenne ich übrigens, dass ich richtig bin, an diesen Kräutern und Eidechsen.

Diesmal stand eine »Glückslotterie«-Trommel am Eingang, aus der man nach Einwurf einer Zwei-Euro-Münze ein Zettelchen mit »beter livin« oder »beter hels« entnehmen konnte, das einem allein schon ein »besseres Leben« oder die sagenhafte »bessere Gesundheit« garantieren wollte. Klar, wer’s glaubt! Ich kann mich nicht beklagen, weder über mein Leben noch über meine Gesundheit. Und selbst wenn – ich würde mein Heil nicht in der chinesischen Lotterie suchen. Sondern in der hochgeistigen Hermès-Tempelboutique, wenn ihr wisst, was ich meine.

Der alte Verkäufer saß hinter dem Ladentisch und übte chinesische Schriftzeichen. Tusche und ein Stückchen grau-gelblichen Aquarellpapiers, nicht größer als eine Kinderhand. Pinselte ein Zeichen und ab damit in den Müll, dann das nächste.

Im Laden herrschte eine Stille, wie sie nur in diesen kleinen Asialäden anzutreffen ist, die bloß Ramsch im Angebot haben, dessen Verkauf sich finanziell überhaupt nicht rechnen kann. Neben dem Alten stand eine echte mechanische Uhr, die tatsächlich tickte wie in der Breitling-Werbung, unglaublich! Eine mechanische Uhr in unserem aufgeklärten Jahr 4741!

Ich grüßte ihn und fragte, ob er Mafia-Tusche im Angebot hätte.

Aber er konnte mit meinem Humor nichts anfangen und fuhr weiter mit seinem Pinsel über das Zettelchen. Da fragte ich rundheraus: »Hast du Stoff?« Er schaute auf und sagte in ordentlichem Polnisch: »Weißt du, weshalb ich für die Kalligraphieübungen diese kleinen Papiere verwende?«

Ich antwortete mit einem frechen Grinsen: »Klar weiß ich das, Väterchen! Papier ist sackteuer, und du hast hier einen ziemlichen Verbrauch! Könntest wenigstens noch die Rückseite vollpinseln. Ist doch keine Art – ein Zeichen pro Zettel und dann in den Müll!«

Er lachte und pinselte: 老外. Dann streckte er mir den Zettel hin und erklärte: »Auf dem kleinen Papier ist es viel schwieriger. Der Pinsel sträubt sich gegen die Ränder, die Hand kann weder Kraft noch Tempo entfalten. Bei der Kalligraphie geht es vor allem um eines: schnelle Striche. Nur so erreicht man Dynamik und Geschmeidigkeit.«

Ich räusperte mich vernehmlich, wie jener Mähdrescherfahrer im lokalen Kunstmuseum, dem erklärt wird, warum man der Mona-Lisa-Reproduktion keinen Schnurrbart aufmalen soll.

Aber er überging meinen feinen Sarkasmus geflissentlich.

»Unser Leben ist ebenso ein Versuch, künstlerische Schönheit auf einem kleinen Stück Papier unterzubringen.« Er blickte auf. »Ich bin schon achtzig.«

Der letzte Satz schien mir keinerlei Zusammenhang zum vorher Gesagten zu haben.

»Der Kalligraph ist immer ein Krieger«, fuhr er fort. »Und der Krieger sieht, wen er vor sich hat, einen Bauern oder einen Großmeister der Klinge, denn dieses Verständnis rettet ihm das Leben, wenn er auf einen ernsthaften Gegner trifft.« Er musterte mich eingehend. »Aber ich bin weder Kalligraph noch Krieger. Ich bin nur ein kleiner Händler, der seine besten Jahre mit dem Verkauf von Ramsch in einem kalten Land vergeudet hat, unter unkultivierten Barbaren, die eine Terrakottakanne nicht von einem Tonkrug unterscheiden können. Das Papier, auf dem ich mein Leben ausgebreitet habe, ist fast voll, aber der Wunsch, etwas Schönes zu hinterlassen, ist immer noch da.«

Ich hatte sein Gerede jetzt schon über und fragte mich, wie lange sein Vortrag wohl noch dauern würde. Wenn die alten Chinesen dich erst am Wickel haben, können sie dich stundenlang zutexten. Aber ich musste auf den Zug. Und vorher noch meine Bierchen kippen.

Er stand auf, trat vor einen großen, schwarz lackierten Holzschrank und zog eine der vielen Schubladen auf. Sie war in ihrer gesamten Tiefe mit Schätzen ausgelegt, für die man in Minsk die halbe Stadt hätte kaufen können. Der Stoff war noch nicht gefaltet, Unmengen Zettelchen in allen Formaten, größtenteils mit Pinsel und Tusche beschrieben, womöglich sogar von dem Alten selbst.

Dann war er also auch Produzent. Normalerweise handelten die Dealer mit Stoff aus speziellen Fabriken, in denen hunderte Chinesen unter hygienewidrigen Umständen … Die Sozialmarketing-Spots der Staatlichen Suchtmittelkontrolle sind ja allgemein bekannt, ihr wisst, wie es weitergeht. Die Buchstaben waren klar und leserlich geschrieben, manchmal war nämlich auch kein Wort zu verstehen und die Kunden beschwerten sich. Hier aber – alles wie mit dem Lineal gezogen. Ich konnte ein paar Wörter erkennen und wandte schnell den Blick ab.

Wie gesagt, ich lasse die Finger davon, ich darf nicht.

»Daher folgender Vorschlag …« Seine Fingerspitzen glitten über die Papiere, betasteten sie, huschten durch die Zeilen. »Du wählst die Ware selbst und nennst deinen Preis.«

Er hielt kurz inne und ergänzte dann: »Ein seltsames Land habt ihr, wenn euch das hier als Droge gilt.«

»Nicht ›ihr‹, sondern wir, Väterchen!«, entgegnete ich. »Wir leben doch im selben Land.«

Schnell zählte ich, ohne richtig hinzusehen, um bloß nicht irgendwo hängen zu bleiben und geflasht zu werden, die hundert Trips ab, türmte sie zu einem Stapel und legte sie dem Alten vor. Der wollte sie schon zu den szenetypischen Päckchen falten, die sich später dem Kunden bequem in die Hand schieben lassen, da kam mir ein überraschender Gedanke. Ich wollte das Schicksal auf die Probe stellen und mich noch einmal meiner besonderen Fähigkeiten an der Grenze versichern. Vielleicht hatte ich auch einfach keinen Bock zu warten, bis der ganze Stoß kleingefaltet war. Dann hätte ich mir ja noch die ganze Zeit seine Predigten anhören müssen. Über Land und Schriftzeichen. Ich finde Weisheit super, aber nur in den Talkshows im Netvisor. Hier hatte ich keine Weisheit bestellt.

»Lass gut sein«, sagte ich zu ihm. »Ich nehme sie so mit. Ich werde nie kontrolliert.«

Er sah mich erstaunt an, wahrscheinlich war ihm so ein komischer Vogel in seinem ganzen Leben noch nicht begegnet. Geschwind teilte ich den Stoß in zwei etwa gleich hohe Stapel und packte die brandheiße Ladung in meinen Rucksack. Ein grandioser Anblick, wie von einer Weichselbrücke: Die Drogen füllten fast den gesamten Innenraum aus. Da gab es nichts zu suchen. Man brauchte nur den Reißverschluss aufzuziehen. Neunzig Prozent der Fahrgäste müssen an der Grenze ihre Koffer öffnen. Wie konnte ich, ehrlich jetzt, wie konnte ich da so sicher sein, dass ich zu den zehn Prozent gehören würde, die unsere chinesischen Zöllner durchwinken?

»Hier hast du fünfzig Euro, Väterchen«, sagte ich gönnerhaft und streckte ihm einen schillernden Schein hin.

Ich finde, es sagt einiges über mich als Person aus, dass ich den Händler auf sein Angebot hin, selbst einen Preis zu nennen, anständig bezahlt habe. Jedenfalls gefällt mir der Gedanke, dass das einiges über mich aussagen könnte. Wie gesagt, das Musterschülergesicht will gut gepflegt sein. Einen Alten beleidigen, der eine der stärksten Drogen überhaupt herstellen kann, hieße, dieses Gesicht mit dem Ausdruck übertriebener Selbstsucht und Geldgier zu entstellen. Ihr findet es komisch, so etwas aus dem Munde eines Pushers und Drogenschmugglers zu hören? Jeder hat so seine Schwächen. Wenn mich das Gewissen zwickt, mache ich einen Opferkauf in der Hermès-Kapelle.

Jetzt, wo ich langsam klarkriege, wie komisch das alles gelaufen ist, frage ich mich: Hat mich etwa dieser Alte verpfiffen? Bin ich wirklich nur zufällig in dieser Bar gelandet, in der ich Bier gesoffen habe wie eine Fledermaus Blut? Hätte ich besser die Klappe gehalten mit meinen besonderen Grenzfähigkeiten? Dann wäre die ganze Geschichte nie passiert!

Oder war es am Ende genau richtig? Wie hatte er gesagt? Kleines Stück Papier, die Hand kann kaum Kraft und Tempo entfalten, um geschmeidige Schönheit zu malen? Geduld, Geduld. Gleich gibt es hier so viel Geschmeidigkeit und Schönheit, dass ihr kotzen könntet.

Aber erst mal komme ich, höchstens leicht angetrunken (das ist mir wirklich wichtig!), schwankend, aber noch sicher auf den eigenen Beinen, vom Klo zurück in die Bar. Der Barmann im hochgeschlossenen Le Coq-Shirt schaut seine Talkshow oder Wettervorhersage, die Wände wanken widerlich, auf dem Tisch steht mein halb volles dunkles Lech, auf dem Boden liegt mein Rucksack mit den Schätzen. Ich zahle mein Bier, will dem Barmann erklären, dass bei uns in Russisch-China Le Coq-Träger nur verarscht werden, weil »coq« ja »Hahn« heißt und »Hahn« nicht nur der »Hahn« ist und … Aber da verliere ich den Faden, zahle mein Bier noch mal (der Barmann hätte auch nichts dagegen, wenn ich dreimal zahlen würde), werfe mir den Rucksack über, wundere mich kurz, dass er so schwer ist, mein ganzer Gleichgewichtsapparat kommt aus dem Tritt, der Sauhund, und ich mache vornübergebeugt, um nicht nach hinten zu kippen, einen Schritt und treffe auf Anhieb die Tür …

Ich trete hinaus ins oktoberklare, kristallene Warschau. Die Stadt mit dem vielen Himmel und den wenigen Wolken, den breitschultrigen Brücken und den Häusern, die mehr Sonne abstrahlen, als der Himmel hergibt. Wo so viel Platz ist, dass einem eng wird ums Herz und die Füße überallhin zugleich wollen. Wo du den Gedanken erst richtig genießen kannst, dass dein Rucksack bis oben hin voll ist mit diesen Papierchen hochwertigen erstklassigen Stoffs, der stärker ist als LSD – mit Mova.

Junkie

Mein erster Mova-Flash? Klar kann ich mich daran erinnern. An meinen ersten Kuss nicht mehr, aber an diese Nacht ganz genau. Das ist wie dein erstes Mal, die erste Prügelei, die erste Platonlektüre.

Moment, halt, stopp! Dass das gleich mal klar ist, mes amis: Bitte keine Verachtung. Und kein Mitleid. Eure tränenreiche Anteilnahme könnt ihr euch sparen. Ich bin kein Drogenabhängiger. Wieso nicht? Vier Gründe:

  1. Mova macht nicht abhängig. Das ist medizinisch erwiesen. Fragt einen Arzt eurer Wahl außerhalb der lauschigen vier Wände seiner Praxis, wo die medizinische Aufsicht alles mitschneidet, und er wird es euch unter vier Augen erklären. Mova geht direkt auf die Psyche, ohne Umweg über den Körper, deshalb sind Vergiftungserscheinungen von vornherein ausgeschlossen. Ohne Vergiftung kein Entzug, um mit meinem Junkie-Kumpel mit Medizinerdiplom zu sprechen, den sie inzwischen hopsgenommen haben. Wenn ich nicht auf Turkey komme, bin ich auch kein Junker. Dixi et animam meam levavi! Oder vielleicht sogar salvavi!
  2. Ich könnte jederzeit aufhören. Ich war in meinem Leben wochenlang vollkommen clean. Ohne Entzug. Der einzige Grund, warum ich wieder bei Mova gelandet bin, ist der, dass ein Leben ohne Mova kotzlangweilig ist. Schaut euch doch mal um. Wenn ihr dann noch zufrieden seid, lernt drei Sprachen, lest euch den Grundkurs Philosophiegeschichte durch und schaut euch noch mal um. Früher oder später seid ihr ganz bei mir, I swear!
  3. Wenn ich nicht auf Mova bin, bin ich vollkommen im Lot. Mein regelmäßiger Konsum hat sich nicht negativ auf meine intellektuellen Fähigkeiten ausgewirkt. Eher im Gegenteil.
  4. Die sogenannte »Mova-Psychose« ist ein Popanz, den die Staatliche Suchtmittelkontrolle aufgebaut hat, damit ihr bei den Staatsdrogen bleibt: Alk, Cannabis und medizinische Opiate.

Aber zurück zu besagter Nacht. Natürlich hatte ich auch vorher schon von Mova gehört. Von wegen »gar, gar nie probieren, sonst kriegst du sofort Aids, und schwul wirst du davon auch«. Aber der Kopf wollte trotzdem. Wie die Jungs bei Mark Twain Pfeife rauchen wollten. Als Zeichen ihrer erwachsenen Verderbtheit. In unserer Jugend zieht es uns alle zum Derben, aber wenn wir dann älter und tatsächlich verdorben sind, sehnen wir uns zurück nach der naiven Unschuld unserer jungen Jahre.

Meine Geschichte unterscheidet sich kaum von den meisten anderen. Nachtclub. Laute Musik. Und: ein Mädchen.

Damals war das CocoInn in der Komsomolskaja so ein Szeneschuppen, üble Gegend, direkt an der Grenze zu Chinatown. Dahinter begann der Ameisenhaufen von Minsk-Shanghai, wo man sich, wie ich damals meinte, als weißer Mann nach achtzehn Uhr besser nicht mehr hin verirrte, wollte man nicht zu Chop Suey verarbeitet werden. Das CocoInn war die letzte Bastion bourgeoiser Dekadenz: Livejazz alter Schule, Musiker mit echten Gitarren und Saxophonen. Die Inneneinrichtung war ganz in Schwarz und Gold gehalten, Kristall, Lichter, Topless-Bedienungen in venezianischen Masken, die unvermeidlichen Türsteher mit ihren strengen »Ganoven«-Anzügen und den weißen Kaninchenköpfen – ein kleiner Gruß aus der Welt vergangener LSD-Trips, als Eurasien noch Lewis Carroll las, bevor es sich mit Psychedelika zuschüttete (die Zeiten sind längst vorbei, die heutigen Tschandalas haben noch nie etwas von Carroll gehört, aber weiße Kaninchen sind bei uns im Dorf gerade in, weiß der Henker, warum). An den Wänden billige Aubrey-Beardsley-Kopien, ein auf art nouveau gebürsteter Tresen, mit einem Wort – geschmackloser Agroglamour mit Niveau. In Tokio gab es solche Clubs vor dreißig Jahren, in Peking noch vor zwanzig, bis Nowosibirsk und Zentralchina hatten sie sich vor vielleicht zehn Jahren vorgearbeitet, bis sie nun auch in der Peripherie angekommen sind, bei uns, in Moskau und in den Petersburger Sümpfen, wo angeblich kein fehlerfreies Chinesisch mehr zu hören ist.

Ich war in einer zufällig zusammengewürfelten Runde in diesem Club gelandet, die sich wohl nur gefunden hatte, weil ein nächtliches Taxi für vier Leute billiger kam. Nach einer halben Stunde und dem ersten Cocktail hatte sich jeder in eine andere Ecke verzogen, eine weitere Stunde später wurde es so voll, dass es kein Verziehen mehr gab und alle dicht an dicht, Schulter an Schulter tanzten. Zu Michael Jackson, finalized by FJ Lee – graue Vorzeit übersetzt in chinesische Data-Psychose. Und an dieser Stelle komme ich ins Schwimmen, weil sich Magie bekanntlich schwer in Worte fassen lässt.

Also, stellt euch vor: Dunkelheit, Stroboblitze und digital fire, Musik, die unter die Haut geht. Genau die Zeit, in der du nichts dazutun musst, sondern ganz im Hier und Jetzt sein kannst; der totale Flow, sattes, sinniges Leben. Inspiration. Zwischen Mitternacht und zwei Uhr früh gibt es immer diesen kurzen Moment, in dem es sich so anfühlt, als wären die anderen alle deine Geschwister und du nicht das einsame, von der Welt verstoßene Wesen (das du ja real bist), sondern ein erwünschter, lebendiger Mensch.

Und in diesem Augenblick geistiger Umnachtung materialisierte sich neben mir diese scharfe Lady: langbeinig, lüsterne Lippen, fiebriger Blick, Kurzhaarschnitt. Schwarz. Und, Gott, wie sie tanzte! Ich hatte sofort das Gefühl, sie seit Jahrmillionen zu kennen, sie so durch und durch erkannt zu haben, wie wir unvollkommenen Menschengeschöpfe, deren Dasein so flüchtig ist wie das eines Schmetterlings, einander unmöglich erkennen können. Im Nachhinein denke ich, ein kurzes Gespräch hätte genügt, diese Illusion zu zerstreuen. Ein Gespräch über Beardsley, zum Beispiel. Oder über chinesische Clubs, in denen das schöne Kind natürlich nie gewesen ist. Aber wir führten kein Gespräch in Worten. Wir ließen unsere Körper sprechen, unsere Blicke, den Rhythmus unserer Bewegungen. Bis sie mich an der Hand nahm und mir lüstern ins Ohr wisperte: »Chadziem!«

Sie sagte nicht »Komm!«, sondern »Chadziem!«. Das allein ist doch schon der Hammer, oder? Ist euch so was schon mal passiert? Hat mit euch schon mal jemand einfach so Mova gesprochen?

Sie nahm mich also an der Hand, sagte dieses Wort und zog mich hinter sich her zu den Toiletten. Ich dachte damals, jetzt kommt die klassische Coldsex-Nummer – das wäre die normale, anständige und durchaus vorzeigbare Konsequenz gewesen. Wir tanzten längere Zeit in der Warteschlange, der üblichen trunkenen Nachtclubschlange, in der die Hälfte der Leute so zugedröhnt ist, dass sie vor der Toilettentür nicht mehr weiß, wofür sie sich eigentlich angestellt hat.

Wir tanzten also, ich hatte einen Ständer und überlegte mir, wie ich sie am liebsten nehmen würde. Dann schlüpften wir hinein. Die Toilette verfügte über die provinzielle Luxusausstattung, wie sie bei den hiesigen Kleinhändlern, die sich für die finanzielle Elite im Reich der Mitte halten, so beliebt ist: badewannengroßes Waschbecken, Silberablage für die Kokslines, eine Kloschüssel gab es nicht, jedenfalls nicht in diesem Raum, und ob es noch weitere Räume gab, ist mir verborgen geblieben. Die Clubbesitzer hatten offenbar verstanden, dass die heutige Jugend nur noch zum Chillen und Vögeln auf die Toilette ging. Wenn einer richtig Druck hat, kann er ja raus und an die Hauswand pissen wie ein anständiger Dorfmacho.

Ich knöpfte mir also die Jeans auf, aber sie stoppte mich mit dem sanften, aber bestimmten Griff einer satten Raubkatze, schlang die Beine um mich, griff sich in den BH und zog ein Papierchen hervor, szenetypisch gefaltet à l’enveloppe, nicht größer als ihr Daumennagel. Sie schaute mir tief in die Augen und flüsterte, direkt an meinem Ohr: »Fliegst du mit mir in den Süden?«

Ich bekam es mit der Angst zu tun, weil ich vorher noch nie probiert hatte, und sie muss das gespürt haben, eine gewisse emotionale Bindung zwischen uns gab es also doch. Sagen wir so: Wenn es zwischen Fremden überhaupt eine emotionale Bindung geben kann, dann gab es sie zwischen uns. Dieses namenlose Mädchen öffnete mir die Tür zu einer Welt, aus der ich bis heute nicht zurückgekehrt bin (weil es mir hier gut geht). Sie spürte also, dass ich Novize war, und flüsterte noch einmal mit einer mir unverständlichen Zärtlichkeit: »Dein erstes Mal?«

Ich nickte wortlos.

»Das soll Glück bringen«, säuselte sie und blickte mir wieder in die Augen. »Mova mag es, wenn man jemanden zum ersten Mal flasht. Aber vielleicht hast du auch keinen Trip. Bei vielen wirkt es nicht im ersten Versuch.«

Wieso ging sie das Risiko ein, ihren Stoff mit mir zu teilen? Ich weiß es bis heute nicht. Angeblich ist die Wirkung viel stärker, wenn du zu zweit auf einen Trip gehst. Bestätigen kann ich das aber nicht, das war meine erste und letzte derartige Erfahrung damals. Ist viel zu gefährlich. Ich hätte sie ohne Probleme wegen »Verleitung zum Erstkonsum von Suchtmitteln« bei der Kontrolle anschwärzen und dafür meine viertausend Neue Yuan einstreichen können. Aber sie hatte sich mir anvertraut, wie ich mich seither keinem Menschen mehr anvertraut habe. Was habe ich da von wegen emotionaler Bindung erzählt?

Sie entfaltete also rasch das Briefchen in ihrer Hand, der Text darauf war so winzig, dass wir die Köpfe zusammenstecken mussten, das fühlte sich gut an. Er war von Hand geschrieben, in unterschiedlich großen Druckbuchstaben, mit Verzerrungen wie bei den Captchas zur Onlinesicherheit. Inzwischen weiß ich, dass damit die mobilen Scanner ausgetrickst werden sollen, damals wunderte ich mich noch darüber. Der Text war gereimt und wunderschön. Beim ersten Lesen blieb mir ungefähr ein Drittel der Wörter unverständlich, ich las noch mal von vorn, und da kam ich auf den Trip. Wie so oft bei Mova-Texten ist er fest in meinem Hirn gespeichert, er wird noch da sein, wenn ich schon tot bin.

Es handelte sich wohl um einen Auszug aus einem Text der deutschen feministischen Romantik des 19. Jahrhunderts, übertragen in einen linguistischen Drogencode. Dafür sprechen jedenfalls das erwähnte Pferd, der »Pflug« (vermutlich ein archaisches deutsches Automobil, da es »gelenkt« werden muss) und das Schwert als beliebtestes Attribut der Spätromantiker. Hier kommt der Text. Aufgepasst, er flasht:

Kali ciabie, miły, Kraina pakliča

za rodny zmahacca paroh,

to sumu nia budzie ŭ mianie na abliččy,

ni strachu nia budzie ŭ hrudzioch …

Wenn, Liebster, die Heimat ruft, für sie zu streiten,

du fort in die Schlacht ziehen musst,

so lasse ich Angst nicht die Augen mir weiten

noch Trauer mir schnüren die Brust.

Mein Mädchenherz wird in den schwierigen Zeiten

nicht zittern noch zagen vor Pein,

so tapfer wie du werde vorwärts ich schreiten,

dir größere Kraft zu verleihn.

Mein Herz brennt so hell wie die Herzen der teuersten

Söhne fürs ureigne Land,

es loht für das Erbe der Väter in feuriger

Lieb’ unterm Leinengewand.

Du ziehst in den Kampf, ich versorge den Braunen

und lenke behende den Pflug –

so schützen wir, hegen, beackern, erbauen

gemeinsam das Land Belarus.

Genau wie an Flinten, an pfeifenden Kugeln,

an Schwertern, blau glänzend und scharf,

so hat unsre Heimat an tapferen Jungen

und Mädchen wohl allzeit Bedarf.

Sie war schneller drauf als ich, es dauerte keine Sekunde, da straffte sich ihr Körper wie von selbst, und sie lachte heiser auf. Ich kämpfte noch mit dunklen Wörtern wie »spadčyna«, als ich hörte, wie mein Herzschlag lauter wurde, schneller, die Clubmusik übertönte und sich in das Hufgetrappel eines Pferdes im wilden Galopp über ein Feld verwandelte. Kurz bevor ich gänzlich weg war, sah ich noch, wie das Textblatt in einer künstlich blauen Flamme aufloderte – es war wohl aus selbstzerstörendem Papier. Es loderte auf und verschwand, ließ lediglich einen bläulichen Molekularnebel zurück, dann war ich endgültig drauf. Die Wirklichkeit verdunkelte sich zu einem rasenden Kaleidoskop aus Alltagsszenen von einem fremden Planeten: Da stehe ich neben einem erdverwachsenen Haus aus groben Baumstämmen, ja, aus dicken Bohlen, sogar mit hölzernen Zierleisten über den Fenstern, himmelblau gestrichen. Da verstehe ich, dass diese Gruft bewohnt ist, dann verstehe ich, dass ich es bin, der dort wohnt, dann verstehe ich, dass ich dort wohne und – holy shit – glücklich bin. Dann sehe ich, wie mir und einer schwarzhaarigen jungen Frau, deren Gesicht mir irgendwie bekannt vorkommt, unter einer mächtigen Eiche weiße Tücher um die Unterarme geschlungen werden, alte Mütterchen singen in einer unverständlichen Sprache schräg im Chor, und weiter geht es mit Schlaglichtern aus einer Wirklichkeit, die es nie gegeben hat und auch nicht geben konnte: Da schlage ich Rundhölzer auf einen Eichenpfahl, und irgendetwas sagt mir, dass dieser Zaun »płot« heißt, da schleppe ich mich hinter einem Pferd übers Feld, in den Händen ein furchtbar schweres Gerät, nur mein gepresster Atem ist zu hören, da wird ein urtümliches Fest gefeiert, bei dem alle übers Feuer springen, und wieder diese schwarzhaarige Frau, mit der ich Hand in Hand im Kreis herumwirble, und plötzlich wird mir klar, dass die Musik – Geklimper auf primitiven Saiteninstrumenten – wunderschön ist und man dazu wunderbar unterm Sternenhimmel übers taufeuchte Gras springen kann, da rüttelt mich jemand an der Schulter und tätschelt mir die Wange – der Trip war tatsächlich reichlich kurz und ging nicht besonders in die Tiefe.

Vor mir standen zwei provokant gekleidete chinesische Jugendliche, einer streckte mir einen Fünf-Yuan-Schein hin.

»Is abe Toilette velewenden«, erklärte er mir, und ich kapierte, dass diese »Velewendung« stattgefunden haben musste (zu welchem Zweck, wollte ich gar nicht wissen), während ich hier im Off stand.

»Ihle Geld!« Er hielt mir immer noch den Schein unter die Nase.

Na klar: Sie waren hier reingekommen, hatten einen komischen Kauz gesehen, der mit abwesendem Blick in der Ecke stand, und messerscharf geschlossen, dass ich der Wachmann, der Kloputzer oder jedenfalls derjenige sein musste, dem die WC-Gebühr zu entrichten war, hatten ihre dunklen Geschäfte erledigt und wollten jetzt, als rechtschaffene Bürger, ihr Geld loswerden. Ich hatte mich schnell wieder gefangen: »Chinesen gehen aufs Haus.« Erst jetzt fiel mir auf, dass meine Hose offen stand, das Hemd hervorschaute und der Gürtel weg war.

Das schwarzhaarige Mädchen, meine Reiseführerin nach Mova-Land, war nirgends zu sehen, mehr noch: Ich sollte ihr nie wieder begegnen. Sie war verschwunden und hatte mir zum Abschied nur eine leichte Gonorrhö hinterlassen, sorry für mein Griechisch. Mit Antibiotika hatte ich die Krankheit nach drei Tagen wieder los. Nicht aber die Langeweile, die mich dazu treibt, den fehlenden Sinn des Lebens im Rausch zu suchen.

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