Langeais

 

 

Thriller mit fantastischen Elementen

 

Hans-Joachim Rech

 

Impressum


 

© 2018 andersseitig.de

ISBN

9783961189427 (ePub)

9783961189434 (mobi)

Covergestaltung: Erhard Coch

Digitalisierung: Erhard Coch

andersseitig Verlag

Helgolandstraße 2

info@new-ebooks.de

Vorwort

Wie alles begann

Auf Langeais, einer Festung aus dem 15.Jhdt., geschieht während einer Besichtigung im Juni 1989 des Schlosses durch Touristen, ein Mord. Die Leiche eines jungen Mannes wird im Zimmer der Anne von Bretagne neben dem Kamin erstochen aufgefunden. Die Polizei steht vor einem Rätsel. Alle Recherchen führen ins Leere. Es gibt kaum Anhaltspunkte für ein Motiv, geschweige denn einen Täter. Einziger Hinweis ist die Tatsache, dass die Stichwaffe eine  breite, lange und sehr spitze Klinge besessen haben muss. Außerdem wurde der Stich mit großer Wucht geführt, denn die Klinge zerschmetterte die Rippen der Brust, zerfetzte das Herz des Mannes und durchschlug das Schulterblatt, wobei die Stoßrichtung von rechts unten nach oben links führte. Der Täter muss über ungewöhnliche Kräfte verfügen, dabei aber kleiner sein als das Opfer. Die Mordwaffe wurde nie gefunden. Die Ermittlungen laufen sich fest, der Fall kommt zu den Akten. Sechs Jahre später, im Juni 1995, der Mord im Schloss ist längst in Vergessenheit geraten, schreckt eine neuerliche Bluttat die Bürger des verträumt an den Ufern der Loire liegenden Städtchens aus ihrer Muße und Beschaulichkeit. Eine junge Touristin wird im ebenfalls im Zimmer der Anne von Bretagne erstochen neben dem Kamin aufgefunden. Der Mord von 1989 gewinnt mit einem Male für die Polizisten eine völlig neue Dimension. Ist im Schloss ein Serienmörder am Werk, ein Verrückter, möglicherweise ein Angestellter der Schlossverwaltung oder jemand aus dem Dorf? Die ermittelnden Beamten finden weder bei Mitarbeitern im Schloss noch bei den Einwohnern Langeais Unterstützung. Man will so schnell wie möglich vergessen und zur Tagesordnung übergehen. Doch Kommissar Belfort gibt nicht auf. Er beginnt zu recherchieren, stöbert in Archiven, Bibliotheken, alten Kirchenbüchern und Annalen, interessiert sich für die Geschichte und Geschicke der Stadt, ihrer Burg, der Menschen und ihrer Vergangenheit. Dabei kommt der Kriminalist unglaublichen und grauenhaften Ereignissen auf die Spur, die weit vor dieser Zeit ihren Anfang nahmen, die ihren blutigen Atem jedoch bis in unsere Zeit hinüberwehen lassen. Das ist die Geschichte einer unglücklichen Liebe, einer Geschichte von Hass, Leidenschaft, Habgier, Machthunger, Korruption, Mord und Totschlag. Einer Geschichte die weit zurückliegt, die jedoch an Aktualität kein Jota verloren hat und ihre mahnenden Worte wie ein Menetekel auf das Lebenssegel der Menschen schreibt. Drei historische Ereignisse komprimierten den Lauf des Schicksals, zwangen es einen vom Menschen bestimmten Weg zu nehmen, dessen Nachwirkungen bis in diese Zeit spürbar sind. Alles beginnt mit Fulco Nerra, dem "Faucon Noir", auch der Blutige und Wahnsinnige genannt, Graf von Anjou und Herrscher über die gleichnamige Grafschaft am Unterlauf der Loire. Dieser Mann war Zeit seines räuberischen und blutrünstigen Lebens von dem Wahn besessen, an allen strategischen Punkten seines Herrschaftsbereiches Festungen, Wehrtürme und mächtige Forts errichten zu müssen. So finden sich bauliche Hinterlassenschaften meist nur noch als Ruinen an Loire, Cher, Indre und Beaune. In Tours gründet sich das Stadtschloss aus dem 18.Jahrhundert auf den Resten der ersten Burg der Stadt, die Fulco Nerra erbauen ließ. Langeais, die mittelalterlichste aller Loire Festungen, in nur fünf Jahren Bauzeit fertig gestellt und seither nicht mehr verändert, umschließt in ihrem Geviert den mächtigen Wehrturm jenes schrecklichen Grafen, in dem unzählige Menschen auf grausame Weise ihr Ende fanden. Auch Montbazon, Chinon, Loches und Blois stehen stellvertretend für die blutige Spur des "Schwarzen Falken". Nicht zuletzt Langeais nahm unter allen Festungsbauwerken eine Schlüsselstellung ein, diente dieses Bollwerk doch der Abwehr plündernder und marodierender Kriegshorden aus der Bretagne, die immer wieder stromauf bis nach Tours und Orleans zogen. Spätere bauliche Erweiterungen, insbesondere die Errichtung der Festung, sollten für alle Zeiten auch den erneuten Zugriff der Engländer auf die Grafschaften Anjou, Berry, Touraine, Maine und Aquitanien verhindern. Nach dem Sieg der Truppen Jeanne d´Arcs über die englischen Belagerer 1429, begann Karl VII mit der Ausarbeitung der Pläne, die aber erst nach seinem Tod von seinem Sohn, Ludwig XI verwirklicht wurden. Schicksalhafte Bedeutung erhielt Langeais im Dezember 1491, als Karl VIII, Sohn Ludwigs XI, die Herzogin von Bretagne, Anna heiratete. Zuvor hatte Karl VIII sein Verlöbnis gelöst und die Tochter Kaiser Maximilians gezwungen, vom Ehevertrag zurückzutreten, was Karl somit auch zum Herzog der Bretagne machte. Zunächst jedoch wird Karl VII Nachfolger Karl VI., dem Wahnsinnigen. Eine wenig glückliche Kriegführung beschert dem König verheerende Niederlagen, so bei Verneuil 1424. Philipp von Burgund paktiert inoffiziell mit den Engländern und erwirbt durch Kauf das Lehen Namur.

Die Engländer nehmen Karl VII in die Zange, der als Herrscherfigur ein erbärmliches und farbloses Bild abgibt. Jeanne d`Arc erscheint vor Orleans mit einer kleinen Reiterschar und sprengt den Belagerungsring der englischen Eroberer. Die Stadt und damit Frankreich sind gerettet. Zwei historische Treffen zwischen Karl VII und Jeanne d`Arc in Chinon und Loches führen dazu, das sich Karl VII in Reims zum König salben lässt. Damit hatte Jeanne d`Arc ihre Schuldigkeit getan und musste auf irgendeine Art verschwinden, denn ihre Beliebtheit beim Volk war größer als die des Königs. Sie bedeutete eine große Gefahr für Karl VII und die Offiziere seiner Armee. Vor Compiègne wird Jeanne von burgundischen Truppen gefangen und an die Engländer verkauft, die sie in Rouen als Hexe verbrennen. Karl VII schließt Frieden mit Philipp von Burgund und erobert später die Normandie. Dadurch schneidet er die Bretagne vom Hinterland ab. Der König reformiert das Heer und lässt Reiterschwa- dronen aufstellen. Gleichzeitig fördert er den Ausbau der Artillerie, was die Bedeutung der mächtigen Festungsbauten zunehmend mindert. Der Niedergang der englischen Herrschaft auf dem Kontinent ist nach der Befreiung Orleans nicht mehr aufzuhalten. Nach dem Tod Karl VII  übernimmt sein Sohn Ludwig XI die Königswürde in Frankreich. Dieser Herrscher zeichnet sich vor allem durch seine Heimtücke und Raffinesse, sowie seine ungewöhnliche Intelligenz aus. Herausragendes Merkmal seiner bösartigen Charakterzüge ist seine außergewöhnliche Begabung Ränke und Intrigen zu inszenieren. Das macht ihn zu den am wenigsten geliebten Königen Frankreichs. Nach seinem Tod wird sein Sohn Karl VIII König von Frankreich. Seine kindliche Ungeduld kosten den Staat Unsummen, denn die Baulust des Königs kennt keine Grenzen. Besonders nach seinem wenig erfolgreichen Kriegszug in Italien, von wo er die Renaissance nach Frankreich und Mitteleuropa brachte, erlebte das Land einen spätmittelalterlichen Bauboom, begann mit dem Ausklingen der Spätgotik der Übergang in die Renaissance. Klassisches Beispiel dafür ist das Schloss Amboise, wo Karl VIII geboren wurde. Dort wuchs er heran, wurde ausgebildet und dort, in diesem Irrgarten baulicher Fantasterei, errichtet durch Karl VIII selbst, kam er im Jahre 1498 bei den Vorbereitungen zu seinem zweiten Italien Feldzug zu Tode. Die allgemeine Lesart billigt dem König einen natürlichen Tod in Folge eines Unfalls zu. Er soll sich an einem niedrigen Türsturz den Kopf gestoßen haben und zur Nacht hin an einer Gehirnblutung gestorben sein. Inoffiziell und wahrscheinlicher ist die Tatsache, dass Karl VIII ermordet wurde, angestachelt und inszeniert durch Maximilian I, der von Karl VIII durch den Eheverzichtsvertrag von 1491 auf erniedrigende Weise gedemütigt wurde. Mehrere Kriege zwischen Karl VIII und Maximilian I gingen zugunsten Maximilians aus. Karl VIII fällt daraufhin 1494 in Italien ein. Maximilian aber wird nach Karls Tod zum großen Verhandlungspartner und Gegenspieler Ludwig XII, dem er mit viel Geschick und Weitsicht große Teile Frankreichs, so auch die Grafschaft Blois abhandelt. Damit ist die Verbindung hergestellt zwischen den Bluttaten des Fulco Nerra, auf dessen Grundmauern seiner Festungen, immerhin ließ er zwanzig erbauen, alle noch heute erhaltenen Schlösser, die in dieser tragischen Geschichte von Bedeutung sind, errichtet wurden. Der Tragödie letzter Akt nimmt ihren Anfang an jenem Dezembertag in Langeais, als Karl VIII die Herzogin der Bretagne, Anna zur Frau nimmt. An diesem Tag werden alle Fäden zu einem verknüpft, die sich um sich selbst drehend, immer enger um Karl VIII zusammenziehen. Und im Strudel des Untergangs triumphiert das Böse, manifestiert seine Macht, das in scheinbar sinnlosen, ohne jeden Zusammenhang stehenden Morden seine Wiedergeburt zelebriert, die einen aufrechten und unerschrockenen Kriminalisten bis an den Rand des Wahnsinns treiben.

Kapitel  1

Die Ankunft

Wer sich Langeais von Süd-Osten über Villandry nähert, fährt zunächst ein Stück des Weges über eine alte, schmale Straße längs der Loire, die ihre Fluten in beschaulich-trägem Lauf dem fernen Atlantik zuführt und das Leben beiderseits des größten Stroms Frankreichs zu einem Erlebnis werden lässt. Vor Langeais ergießen sich die Wasser des Cher in den Strom,  der an seinen Ufern einigen der schönsten Schlösser Frankreichs eine ewige Heimstatt gab. Über eine Jugendstil-Stahlbogenbrücke, die in elegantem Schwung die Ufer des Flusses miteinander verbindet, gelangt der Reisende in das idyllische Städtchen mittelalterlicher Prägung, wo unübersehbar das Schloss Langeais der beherrschende Mittelpunkt ist. Schmal sind die Straßen im Ort, und es verlangt wie andernorts ein gehörig Maß an Fahrgefühl, um sicher in die Rue de Tours zu gelangen, wo sich das Hotel La Comtesse Marie Anne befindet. Über das Hotel ist zu sagen, dass sich hinter einer verputzten, mit kleinen Balkonen verzierten Fassade, die schon bessere Zeiten sah, ein respektables Interieur verbirgt, das dem Gast alle Annehmlichkeiten zur Verfügung stellt, um sich von eines langen Tages Reise angemessen zu erholen. Ganz sicher wird der ausländische Besucher ins Staunen geraten, wenn er das Hotel betritt, denn vom äußeren Eindruck her sollte man bei französischen Hotels grundsätzlich nicht auf das Innere schließen. Die Überraschung wird groß sein, wenn der Gast sich im Empfangsraum der Herberge dem helfenden Verständnis der Chefin anvertraut. Zweifellos ist dieses Hotel in seiner Einrichtung vom Geist des 19.Jahrhunderts geprägt, was dem Aufenthalt in seinen Räumlichkeiten einen wohligen Charakter verleiht, eine dem Besucher angenehme, vertraute Atmosphäre aufbaut. Die bauliche Substanz des Hauses ist wesentlich älter, wenn auch zahlreiche An- und Umbauten von der Regsamkeit der Besitzer künden, ihr Hotel “La Comtesse Marie Anne“ dem internationalen Standard anzugleichen. Über alte, knarrende Dielentreppen führt der Weg den Gast in zwei Etagen, die mittels verwinkelter Korridore und Flure mit weiteren, dem individuellen Wohlbefinden dienenden Etablissements verbunden sind. So dauert es seine Zeit, bis sich der Fremdling in diesem abenteuerlich-geheimnisvollen Treppen- und Flurlabyrinth zurechtfindet. Zur Nachtzeit hallt das seufzende Stöhnen uralter Balken und Bohlen in jeden Winkel des Hauses und kündet auf diese Weise von der Lebhaftigkeit seiner Gäste. Im hinteren Teil des Hotels, der sich wie ein Wintergarten zum Ufer der Loire hin öffnet, befindet sich der Speisesaal, im dem zwei Dutzend geschmackvoll dekorierte Tische morgens und abends wie geduldige Kutschpferde auf ihre Kundschaft warten. Die großen Fensterflügel lassen sich gänzlich aufschieben, so dass der ungehinderte Zugang in die weit auslaufende, parkähnliche Anlage möglich ist. Mächtige Kastanien bilden aus Ästen, Zweigen und Laub einen undurchdringlichen Baldachin, der die Wärme des Tages wohltuend fernhält.

Alte Bistrotische, mit schmiedeeisernen Gestellen und fleckigen Marmorplatten, finden sich geschickt zwischen Rosen, Rhododendron, Hibiskus und Fliederbüschen drapiert, wo zu später Stunde bei einem Aperitif oder Champagner der Gast dem Traum vom “Leben wie Gott in Frankreich“ ein kleines Stück näher kommt. So ist auch die Küche landestypisch und vermittelt einen ersten Eindruck vom “Savoir Vivre“ der Franzosen, dem “Wissen zu Leben“ und findet bei Einheimischen wie Gästen ungeteilte Zustimmung. Wein und Brot gehören traditionell auf jeden Tisch, der im Laufe eines Abends eine Vielzahl an Gerichten und Getränken verkraften muss. In den Sommermonaten hat das ansonsten verträumt und nur sich selbst und seinen Bewohnern gehörende Städtchen die Last zahlloser Besucher aus vieler Herren Länder auf seinen ehrwürdigen Schultern zu tragen. Da sind die Gassen und Straßen erfüllt vom Gebrumm der Busse und Autos, die sich nicht nur an den Wochenenden in endloser Schlange durch den Ort zum Schloss schieben. Von früh bis spät hallen die Stimmen zahlreicher Sprachen zwischen den Häusern, und erst wenn die Nacht ihr linnenes Schlaftuch ausbreitet, findet Langeais für einige Stunden Zeit zu verschnaufen. So wie Langeais ergeht es zahlreichen Orten, und der Ort teilt das Schicksal der meisten mittelalterlichen Städte, nicht nur in Frankreich, sondern weltweit. Es wäre sicher in dieser Abfolge weitergegangen Jahr um Jahr, und all das Geschehene wäre nicht über Gebühr interessant, waren es doch Vorgänge, die sich jeden Tag aufs Neue wiederholten und im Bewusstsein der Menschen einen Gewöhnungsrhythmus erzeugten. Diese Gewöhnung ließ sie zwar nicht abstumpfen, aber sie machte sie doch geduldiger ja - fast bin ich geneigt zu sagen - gleichgültiger, was möglicherweise nur das Ergebnis subjektiver Eindrücke ist, denn die folgenden Ereignisse begründeten den Verdacht, dass es so sei. An einem Sommertag des Jahres 1989 erreicht ein Reisebus aus Deutschland die Stadt, fährt in die Rue de Tours ein und hält vor dem Hotel La Comtesse Marie Anne( benannt nach der Herzogin Anna von Bretagne - der Frau Karls VIII). Zwei Dutzend verschwitzte Reisende verlassen den Bus und nehmen das Hotel in Beschlag, wo bereits die Zimmer reserviert sind. Nach der Zuweisung der Räumlichkeiten, der Bekanntgabe der Essenszeiten und des Transportes der Koffer in die einzelnen Etagen, begeben sich die Gäste in ihre Quartiere, wo sie sich die Anstrengungen des ersten Reisetages vom Körper waschen. Da es bis zum Abendessen noch Zeit hat, bietet sich für einige Gäste die Gelegenheit, sich mit den Örtlichkeiten vertraut zu machen. Gegenüber vom Hotel befindet sich eine Bar, in der fast immer einige alte Männer, selten jüngere Leute, an ebenso alten Tischen sitzen und sich im Erzählen der neuesten örtlichen Belanglosigkeiten bei einigen Gläsern Rotwein nebenher über die alten Zeiten unterhalten, die ja doch ganz anders waren, geruhsamer und beschaulicher. Gleich daneben liegt der Laden des Schlachters, über dessen Schaufenster eine rosig-runde lachende Sau für die Produkte des Metzgers wirbt. Eine Bäckerei, ein Elektrofachgeschäft, eine Tankstelle, zahlreiche kleine Häuser, ein Weinladen und zwei Souvenirläden sind die architektonischen Hüllen, die der Rue de Tours zu Leben und damit zu ihrem Namen verhalfen. Zum Ende der Straße hin verengt sich die Fahrbahn, endet zunächst an einer kleinen Kreuzung, um dann unvermittelt halb rechts abzuschwenken, direkt auf das Schloss Langeais zu, das wie ein gewaltiger Steinberg die Stadt verschließt wie ein Korken die Flasche. Erst wenn man nahe genug vor diesem Gigant steht, sieht man die schmale Straße, die sich wie eine Schlange um die Burg windet und irgendwo zwischen den Häusern verschwindet. Getrennt ist das Schloss von der Stadt durch einen Wassergraben, der nur durch eine Zugbrücke, die noch voll funktionsfähig ist, überwunden werden kann. Im Rücken des Ortes, nach Nord - Osten, erheben sich die sanften Hügel der Touraine, die Ufer der Loire, in die sich die verschachtelten Häuser wie verschreckte Kaninchen ducken. Wenn man um die Burg herum aus Langeais hinaus geht sieht es aus, als wolle die Festung mit ihrem massigen Leib den Ort unter sich begraben. Ein Stein gewordenes Monument mittelalterlichen Größenwahns wurde zum Abbild skrupellosen Machthungers, zum Instrument gnadenloser Besitzgier einiger Weniger, die auf dem Rücken eines im Staub des Boden liegenden Volkes ihren parasitären Neigungen frönten. Morgen würden sie sich alles ansehen, die kulturhungrigen Touristen; in jede Ecke des Schlosses und jeden Winkel der Stadt steckten sie ihre Nasen. Nichts war vor ihnen sicher, seit es im 11.Jahrhundert jenen berühmt berüchtigten Grafen gab, der von Sicherheitsängsten geplagt die Touraine mit Burgen und Bastionen überziehen ließ. Langeais war so ein Bollwerk, dessen wuchtiger Steinkörper auf den Fundamenten jener Bastei ruht, und von der bis in diese Tage der Blut- oder Schreckensturm allen Anfechtungen trotzte und sich im hinteren Hof der Burg zu schrecklich-imposanter Größe aufrichtete. Kurz vor Neunzehn Uhr hielt ein weiterer Bus vor dem Hotel La Comtesse Marie Anne. Eine amerikanische Reisegruppe hatte für die Nacht in Langeais gebucht und erfüllte die bis zu diesem Augenblick in friedlicher Ruhe dösende Herberge mit lautstarker Lebendigkeit, die selbst das Mitteilungsbedürfnis der Deutschen Gäste in den Schatten stellte.

“Mon Dieu - das kann ja heiter werden“ stöhnte die Chefin des Hotels und wies den Neuankömmlingen ihre Zimmer zu. Mit den Amerikanern kam auch ein Teil der deutschen Reisegruppe aus dem Ort zurück, um sich dem abendlichen Mahl hinzugeben. Jedenfalls sah das der Prospekt des Hauses so vor. Der Speisesaal füllte sich, die bislang beschauliche Ruhe verwandelte sich im Handumdrehen in ein schwatzendes, gackerndes, lachendes und radebrechend rufendes Durcheinander, in dem sich nicht einmal mehr die Bedienung des Hotels zurechtfand. Trotzdem erhielten alle Gäste, wie durch ein Wunder, dass von ihnen bestellte Essen, wenn auch der Inhalt des Tellers oder der Terrine nicht immer mit den Angaben auf der Speisenkarte übereinstimmte. Bei den Getränken gab es wie fast überall auf der Welt überhaupt keine Probleme, so dass der Abend sowohl für die Gäste als auch für den Hotelier zufriedenstellend ausfiel. Bis weit nach Mitternacht scholl aus dem Garten des Hotels Singen und Lachen hinaus in den Ort, und die Kommunikation zwischen Amerikanern und Deutschen erreichte fantastische Dimensionen. Schließlich siegten jedoch die Götter des Schlafes, und als die Turmuhr des Schlosses ein Uhr in der Nacht schlug, trugen die Engel des Traumes die abgekämpften Reisenden auf ihren Flügeln davon.

Kapitel 2

Der Tod des Michael Norman

“Madame et Monsieur - leur petit déjeuner - ici en la Salle à manger - s`il  vous plait“

Glockenhell klang die Stimme der Hotelchefin den eintrudelnden Gästen entgegen, und die Serviermädchen wiesen den teilweise abenteuerlich aussehenden Reisenden ihre Tische und Sitzplätze zu. Der Duft frischen Kaffees wehte wie ein belebender Schleier durch den Frühstücksraum und vertrieb rasch die Nachwirkungen des gestrigen Abends, unter denen einige noch immer sichtbar litten, während wiederum andere den Tag damit begannen, womit er gestern endete. In der nächsten halben Stunde beschäftigten sich fast alle Gäste ausgiebig mit ihrem Frühstück, wobei sie sich lautstark mit ihren Freunden und Nachbarn unterhielten, was wiederum die Chefin des Hotels veranlasste, die Türen des Speiseraumes dezent zu schließen.

“Oh - mon dieu - lequel bruit! - Ferme la porte - Janine“

Amerikaner wie Deutsche ließen es sich gut gehen und diskutierten ausgiebig über den zurückliegenden Abend und die bevorstehende Schlossbesichtigung. Während die Gäste aus Amerika am späten Vormittag mit dem Bus weiterfahren, werden die “Germans“  mit ihren “Bicycles“ die weitere Tour zu den Schlössern der Loire fortsetzen. So sah es das Programm vor, und es gibt nichts was Reiseleiter und Veranstalter mehr fürchten und hassen, als unvorhergesehene Änderungen des geplanten und seit Monaten festgelegten Tour-Ablaufs. Die deutschen und amerikanischen Touristen kamen zum Ende des gemeinsamen Frühstücks.

“Meine Damen und Herren, in zehn Minuten vor dem Hoteleingang. Um Neun Uhr dreißig öffnet das Schloss. Die Besichtigung dauert etwa eineinhalb Stunden. Danach fahren wir auf unseren Rädern nach Azay - le - Rideau. Viel Spaß. Bis nachher.“

“Ladies and Gentlemen, the time is right, we are go to visit the castle in ten minutes. We are meet us in the front of the hoteldoor. Thank you.“

Lebhaftes Schwatzen kündete vom Aufbruch der Gruppen, und das Getrappel zahlloser Füße hallte durch die Flure des Hotels. Türen klapperten, Rufe klangen von Etage zu Etage, und die Hotelchefin ging kopfschüttelnd und schwer atmend zu ihrem Personal in die Küche.

“Impossible - impossible“  stieß sie zwischen ihren zusammengepressten Lippen hervor.

Endlich war es soweit. Die Gruppen setzten sich fast gleichzeitig in Bewegung, und während die Amerikaner lachend und redend, wie ein fröhlicher Haufen in bunte Hawaii Hemden gehüllt, das Bild der Rue de Tours belebten, strebten die Deutschen fast lautlos, in feldmarschmäßiger Schlachtordnung, dem Eingang der Burg zu, wo die für sie reservierten Eintrittskarten bereitlagen. Leider hatte der forsche Auftritt nicht den gewünschten Erfolg, denn die Kartenverkäuferin ließ sich von jedem Reisenden mit penetranter Genauigkeit den Berechtigungsgutschein zeigen, stempelte diesen ab - und dann erst gab es das ersehnte Ticket.

“Bitte - meine Herrschaften - folgen Sie mir!“ erklang die vertraute Stimme des Reiseführers, der seine ihm anvertrauten Schäfchen im Innenhof der Burg versammelte.

“Wir besichtigen zunächst die “École de Gobelins des Bruxelles“, die Tapisserie des Schlosses, die Teppichknüpferei, die seit dem Sechzehnten Jahrhundert in dieser Burg beheimatet ist. Die hohe Kunst des Knüpfens brachten die flämischen Teppichweber nach Frankreich, wo sie zur meisterlichen Vollendung geführt wurde.“

Der bildungshungrige Lindwurm schob sich unaufhaltsam durch die Eingangstür des Ostturms der Festung, stöberte zwischen Teppichen und den üblichen Souvenirs herum, derweil die Stimme des Reiseleiters auf die baulichen Besonderheiten der Burg aufmerksam machte.

“Erbaut wurde Langeais im  Fünfzehnten Jahrhundert in nur fünf Jahren unter Ludwig XI. auf den Resten einer Festung, die einst Fulco Nerra, der Schwarze Falke , auch der Blutige oder Wahnsinnige genannt, zum Schutz gegen Bretonen und Seeräuber errichten ließ. Den Beinamen erhielt er wegen seiner Grausamkeiten gegenüber der Bevölkerung und seinen Gefangenen, von denen viele in den Kerkern des Schlosses zu Tode kamen. Über diese Wendeltreppe gelangen wir in die erste von zwei Etagen. Wir sehen dort die Zimmer der Anne de Bretagne, des König Karl VIII und den großen Speisesaal mit den Wappen der Grafen und Könige. Beachten Sie bitte auch den gefliesten Boden der Räume. Auf den Kacheln sehen Sie die Hoheitszeichen der Anne de Bretagne, die Hermelinschwänze und das Wappen der französischen Könige, die Lilien. Bitte folgen Sie mir!“

Durch die Treppenspirale wanden sich Deutsche und Amerikaner hinauf in die erste Etage, wo sich die Touristen wie eine Flutwelle in die offen liegenden Räumlichkeiten ergossen.

“Look - Walter, how nice it is - how nice“

“Lovely - beautyful - incredible - darling - it is so nice“

Die Lobeshymnen und Rufe der Verzückung kannten weder verbale noch nationale Schranken. Der Reiseleiter schöpfte aus seiner Erfahrung und überließ die pulsierende Schar ihrer Neugier, derweil er sich dezent zurückzog und mit Aline, der französischen Aufsicht, die er seit Jahren kannte und mit der ihn eine herzliche Freundschaft verband, ein privates Gespräch führte.

“Bon Jour Aline -  comment va tu?“

“Oh - bon Jour Harald, tres bien - et toi?“

“Bon - merci - . Du siehst gut aus. Wie geht es der Familie. Alles in Ordnung?“

“Danke, du auch. Qui, meiner Familie geht es gut.  - Voila - bald wirst du dich mit Mademoiselle Computer unterhalten - hier im Schloss.“

“Mit was - mit Computer?“

“Qui - mon Cherie,  nous acheter Handys, du verstehst, Kopfhörer. Keine Führung mehr, alles machst du selbst. Das spart Geld und Personal. C`est la vie.“

“Das darf doch nicht wahr sein. Ich habe immer geglaubt, so was gibt es nur in Deutschland und Japan.  Scheußlich die Vorstellung.“

“Consolé toi - Harald, es dauert noch eine Zeit. - Komm in mein Büro - ich habe einen guten Kaffee. Deine Schäfchen kommen doch ohne dich aus.“

“Schäfchen kommen nie ohne den Leithammel aus - liebe Aline“

Aline, die französische Aufsichtsbeamtin und Fremdenführerin und Harald der Reiseleiter, gingen zusammen in Alines Büro, derweil die internationale Touristenschar die Burg Langeais ohne nennenswerten Widerstand lautstark eroberte. Das Trappeln und Schwatzen hallte durch die Zimmer und Säle des Schlosses, floss wie Dauerregen die Treppen und Stufen hinunter, um schließlich irgendwo zwischen Teppichen und schweren Brokatvorhängen zu verstummen.

“Hier hinauf - in die zweite Etage, da geht es zum Krönungszimmer der Anne von Bretagne.“

“Und ins Schlafzimmer -  -  Mensch - sind das Betten“

“Lovely - beautyful - ist that nice“

Die höfische Prachtentfaltung des ausgehenden 15.Jahrhunderts verfehlte ihren Eindruck nicht und ließ die deutschen und amerikanischen Besucher nicht aus dem Staunen heraus kommen. Im großen Krönungssaal war die Zeremonie der Heirat zwischen Karl VIII und Anna von Bretagne originalgetreu nachgestellt. Lebensgroße Figuren in zeitgenössischer Bekleidung vermittelten eine Ahnung von der Pracht und dem Glanz jener Zeit, und von den politischen Kämpfen und Intrigen, die hinter den Tapisserien und Brokatvorhängen ausgetragen und eingefädelt wurden.

“The Visitroom at the Comtesse Marie Anne of Bretagne,  - look - Ladies and Gentlemen, what a wonderful chimney, a very good fire-place for warming up in wintertime and other opportunities -haha“

Die Ladies kreischten vor Vergnügen und die Gentlemen klopften sich auf die Schenkel und lachten lauthals durch den Raum.

“Follwo me - please - we are go to the next room“

“Please - Michael - come on - the next room“

“Yea - Jenny - I come, a moment please, I make a foto. One minute - okay!“

“Okay - I wait for ou in the next room“

Aus dem großen Krönungssaal hallten dumpf die Stimmen der deutschen Touristen in das Zimmer der Anna von Bretagne. Aus dem Nebenraum, dem Schlafzimmer des Königs, klangen die erklärenden Worte des amerikanischen Reiseleiters an Michaels Ohr. Außer ihm war niemand mehr in diesem Zimmer. Diese Gelegenheit musste Michael nutzen. Rasch baute er sein Stativ auf,  setzte den Selbstauslöser der Kamera  in Betrieb und stellte sich rasch neben den Kamin unter das Bildnis der Anne de Bretagne.

“Es ist an der Zeit Aline, ich muss zurück zu meiner Reisegruppe. Schließlich werde ich dafür bezahlt. Also mon Cherie, bis zum nächsten mal und vielen Dank für den Kaffee. Adieu - au revoir“

Harald verabschiedete sich von seiner französischen Kollegin, ging durch den Speisesaal des Schlosses zur Wendeltreppe, die hinaufführt in die zweite Etage, wo Deutsche und Amerikaner  in die Geheimnisse des königlichen Ehelebens eingeführt wurden. Ein gellender grässlicher Schrei ließ alle Anwesenden im Schloss Langeais erstarren. Wie die Welle einer Sturmflut hallte das Echo dieser akustischen Explosion durch die Räume und Gänge des mittelalterlichen Gemäuers. Der deutsche Reiseleiter befand sich auf dem letzten Treppenabsatz  vor dem Eingang in den Vorraum zu den Zimmern Karls VIII und Anna von Bretagne, als der Aufschrei fürchterlichen Leids wie eine Lawine über ihn hinwegfegte. Im Nebenzimmer wurden die amerikanischen Touristen vom Todesschrei des Michael überfallen, und einige der Damen und Herren ließen vor Schreck ihre Taschen und Reisebücher fallen. Im angrenzenden Krönungssaal inspizierten derweil detailbesessene Radwandertouristen aus Deutschland die Intarsien einer Truhe, während der Rest sich über die zwei Dutzend Figuren ausließ, die zur Staffage der Hochzeitszeremonie gehörten, als sie vom Geschrei des Amerikaners aus ihren Ferienträumen gerissen wurden.

“Oh - mon dieu - was ist passiert?“

“Michael - Michael“ kreischte es jaulend durch die Flure und Räume des Schlosses.“

“Help - help - please help - at once - quick - we need a doctor - a doctor - hurry“ rief ein Amerikaner mit besonderes auffälligem Hawaiihemd in den Treppenaufgang dem herbeieilenden Aufsichtspersonal zu.

“What,s happened - an accident?“ fragte der deutsche Reiseleiter.

“I don,t know - but the groundfloor is covered with blood, and the young men is .. I don,t know. We need a doctor - at once“ brüllte der Amerikaner  außer sich.

“Okay - okay Mister, the guide phoned with the hospital and the police - okay?“

Die Menschentraube drängte zurück ins Zimmer der Anne de Bretagne. Aline, Harald und die Mitglieder der deutschen Reisegruppe, versuchten sich ein Bild von dem zu machen, was im Zimmer der Königin passiert war.

“He is died  - he is died“ schluchzte fassungslos eine junge Frau mit Namen Jenny,

“but why - I don,t understand that - why“.

Eine ältere Mitreisende Lady setzte sich neben das Mädchen und nahm sie tröstend und beruhigend in ihre Arme, wobei sie der zitternden Frau immer wieder über die Haare streichelte.

“Terrible -  it is terrible - horrible - incredible“ stieß ein anderes junges Mädchen wie abwesend hervor.

“Darf ich - bitte meine Herrschaften - ich bin Arzt. Bitte - lassen sie mich durch.  - Please - I am a Doctor - please - let me look what is happend with the Gentleman.“

Aus der deutschen Reisegruppe schob und drückte sich Martin Reincke in das Zimmer der Anne de Bretagne, und erst weiteres nachdrückliches Bitten veranlasste die amerikanischen Touristen vom Ort des Geschehens Abstand zu nehmen. Durch die bunt verglasten Fenster fiel der Licht einer warmen Junisonne, die den Raum zunehmend erwärmte. Ihr milder Glanz beleuchtete eine schreckliche Szenerie. Vor dem Kamin im Zimmer der Anne von Bretagne lag Michael, der Freund Jennys, auf dem Rücken inmitten einer sich rasch ausbreitenden Blutlache. Das helle Sommerhemd war über der linken Brustseite völlig zerfetzt. Aus einer großen Öffnung im Brustbereich drang pulsierendes Blut unaufhörlich nach außen. Die Augen des jungen Mannes blickten weit aufgerissen und mit einem Ausdruck des Erstaunens in eine weit entfernte Welt. Sein Mund erstarrte weit offen im Schrei des Todes, der den Besuchern noch immer in den Ohren hallte. Sicher und schnell untersuchte Walter Reincke den jungen Amerikaner, aber seine ärztliche Hilfe kam für Michael zu spät.

„Geben Sie mir eine Decke - bitte“ rief Doktor Reincke der französischen Aufsicht zu, und Aline eilte sich diesem Wunsch nachzukommen.

„Ich muss sie bitten das Schloss nicht zu verlassen. Gleich wird die Polizei kommen und alles weitere klären. Kann irgend jemand von Ihnen dazu etwas sagen? Haben Sie etwas gesehen?  - Can you help me - is somethings seen by somebody - please - ?“

Achselzucken und verneinendes Murmeln war die Antwort. Niemand hatte etwas gesehen oder konnte sich erklären, wie das geschehen konnte.

„Tut mir leid für Sie - kein schöner Auftakt für eine Reise.  - I am sorry for you - a very bad start for a wonderful Journey. Excuse me - „ 

Martin Reincke wandte sich an Aline.

„Danke für die Decke - wir müssen den Raum schließen - zu beiden Seiten.  Geht das?“

„Qui Monsieur -- un terrible mort avec le homme.  Je ferme la porte.“

Knarrend schlossen sich die beiden Türen zum Zimmer der Anne von Bretagne, wo auf dem Boden vor dem Kamin unter dem Bildnis einer wunderschönen jungen Frau ein junger Amerikaner lag, und das Wissen um seinen Tod mitnahm auf seine Reise in die Ewigkeit. Die Mitglieder der Reisegruppen versammelten sich im Hof des Schlosses und diskutierten leidenschaftlich und emotionell die Rätsel um den Tod des jungen Michael. Seine Freundin Jenny wurde von Doktor Reincke umsichtig versorgt, und bereits zehn Minuten nach dem grässlichen Ereignis fuhr der Rettungswagen mit dem Notarzt und heulenden Sirenen über die Zugbrücke in den Schlosshof ein. Im Laufschritt rannten Notarzt und Sanitäter, angeführt von einem Kollegen Alines, über die steinernen Stufen hinauf in die erste Etage des Schlosses, hinein in das Zimmer der Anne von Bretagne, um gemeinsam festzustellen, dass dem toten Michael Norman aus New Jersey/USA nicht mehr zu helfen war. Der Arzt, ein Mann von sportlicher Statur und geradem Blick, informierte weitere fünf Minuten später präzise und mit wenigen Worten die hinzukommenden Polizisten über seine Eindrücke vom Tod des Amerikaners. Über Funk wurde die zuständige Kriminalpolizei in Tours von den Vorgängen in Kenntnis gesetzt und um Übernahme gebeten. Damit lag der Fall in den Händen des Kommissars Marchaud, eines älteren Beamten, der zum Jahreswechsel in den Ruhestand zu gehen beabsichtigte.

„Merde - das hat mir noch gefehlt. So kurz vor Schluss klebt dir irgend so ein Arsch noch ein dickes Pfund Scheiße an die Stiefel. Konnte der Junge sich nicht einen anderen Platz für seinen Abgang aussuchen?“ Mürrisch und verärgert nahm Marchaud die Ermittlungen auf.

„Mademoiselle - wir brauchen einen Raum - wegen der Vernehmung der Reisenden - Sie verstehen? - Was können Sie mir anbieten? - Vielleicht den Krönungssaal?“

„Non - Monsieur - auf keinen Fall. Aber vielleicht weiß der Verwalter einen Rat.“

„Monsieur Kommissar, Sie können den Seminarraum benutzen. Falls Sie noch etwas benötigen, so lassen Sie mich das wissen. Ich stehe zu Ihrer Verfügung. Madame Aline wird Ihnen den Weg zeigen. - Ach - wird es lange dauern - die Vernehmung? Wir erwarten heute noch weitere Reisegruppen!““

Marchaud nickte beiläufig.

„Merci - Monsieur Directeur. Qui - es dauert wie es dauert. - Und ihren Reisegruppen bieten sie besser ein anderes Schloss an. Sind ja genug da.“

„Verdammt -“ fluchte der Verwalter,  „dass hat mir noch gefehlt.“

Die Kommissar Marchaud zugeteilten Beamten vernahmen im Seminarraum die deutschen und amerikanischen Touristen, soweit das überhaupt möglich war. Zumindest wurden alle Personalien akribisch erfasst, was für die Touristen einige Stunden zusätzlichen Aufenthalt in Langeais bedeutete.

„Bernard, George, ihr hört euch im Ort um, in den Geschäften, in den Bars und Bistros. Vielleicht ergeben sich Anhaltspunkte. Latiffe, du machst dich über die Räume her. Viel Glück.“

Kommissar Marchaud schwieg und wandte sich der Freundin Michaels, Miss Jenny Brewer zu, die in eine Decke eingehüllt auf einem Stuhl saß und teilnahmslos aus einem Fenster des Seminarraumes in den Garten des Schlosses starrte.

„Miss Brewer -- Miss Brewer, Jenny Brewer aus New Jersey. Verstehen Sie mich? Kann ich Sie etwas fragen? -- Miss Brewer - ich würde gerne...“

„Qui - Monsieur - fragen Sie - fragen Sie - was Sie - wollen. - Michael - ist - tot. - Er wurde -- ermordet. - Ich - weiß - es. Aber - ich weiß nicht - warum!“ antwortet Jenny Brewer langsam und tonlos. Marchaud nickte und sprach Jenny sein Mitgefühl aus. Das war Routine, die er sich im Laufe seines fast vierzigjährigen Polizistenlebens angewöhnt hatte. Aber es klang so überzeugend, dass Jenny ihm in die Augen sah und sich leise bedankte.

„Sie werden sicher zurück fahren, nach Amerika. Es ist nur - wegen der Leiche - ich meine, dass wird noch ein paar Tage dauern, bis die Überführung...“

„I understand - wohin bringen Sie meinen Freund - wenn ich...“

„Nach Tours - in die Gerichtsmedizin. Wenn ich Ihnen in Tours ein Hotel be...“

„Danke - aber was soll ich in Tours? Ich bin eine Fremde in einem fremden Land. Ich kann eben so gut hier bleiben - und warten.“

„Gut - wie Sie möchten. - Also Miss Brewer, der Tote, Mister Michael Norman, war das ihr Verlobter oder...“

„Mein Freund - Monsieur - ein sehr guter Freund“ schluchzte Jenny.

„Sie sind beide das erste Mal in Frankreich?“

„Ja, es ist unser erster Besuch in Europa. Wir haben Semesterferien und diese Reise von meinen Eltern geschenkt bekommen - zu Weihnachten.“

Marchaud schluckte und wartete mit den weiteren Fragen, bis sich Jenny beruhigte.

„Was ist da oben passiert - ich meine, was haben Sie genau gesehen? Können Sie sich daran erinnern?“

„Wir verließen das Zimmer, Michael blieb allein zurück. Er wollte noch Aufnahmen machen von sich und Anne.“

„Wer ist Anne?“ horchte Marchaud leise fragend.

„Das Bild der Herzogin, über dem Kamin, Michael wollte es fotografieren. Gemeinsam mit sich. Auf einem Stativ - sie verstehen mich?“

„Oui Mademoiselle - ich verstehe sie. Ein Erinnerungsfoto - ein Souvenir - ist es so?“

„Ja Monsieur Kommissar, so ist es. Ohne Touristen. Die Deutschen hielten sich im Krönungssaal auf, und meine Gruppe war bereits im Schlafzimmer Karls. -- Und dann....“

„Ja - Miss Brewer, was geschah dann?“

„Es war so entsetzlich, sein Schreien, es wollte überhaupt nicht aufhören. ---- Plötzlich war alles still - - ich konnte die Uhr an meiner Hand ticken hören - meine Uhr...“ heulte Jenny laut auf und barg ihren zucken Körper in der Decke, wobei sie beide Hände vor ihr Gesicht presste. Kommissar Marchaud legte sanft und beruhigend seine Hand auf Jennys Haar und streichelte leicht ihren Kopf.

„Kommissar,  le Docteur Fragounard fragt an, ob Sie heute noch nach Tours kommen?“

„In jedem Fall. Ich möchte den Bericht noch heute lesen. Bestellen Sie dem alten Aufschneider meine Grüße. -- Entschuldigen sie Mademoiselle, aber wir kennen uns alle und ...“