Ein Harry Kubinke Kriminalroman
Der Umfang dieses Buchs entspricht 150
Taschenbuchseiten.
Kommissar Harry Kubinke ist Ermittler beim BKA in Berlin. Aber
plötzlich muss er sich mit einem Fall beschäftigen, der sich in
Wien ereignet hat. Doch alle Spuren führen zurück nach Berlin.
Kubinke und sein Team gehen auf Mörderjagd und kommen einer schier
unglaublichen Verschwörung auf die Spur.
Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen,
Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb
er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry
Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica
Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick,
Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jonas Herlin, Adrian
Leschek, Jack Raymond, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber und
Janet Farell.
Prolog
“Hättest du gedacht, dass wir mal ganz offiziell einen Mord
aufklären müssen, der sich in Wien ereignet hat?”, meinte Rudi, als
wir an der Currywurstbude in der Nähe unseres Präsidiums standen
und das machten, wozu wir oft genug viel zu wenig Zeit fanden: Eine
Currywurst essen. “Ich meine, wir sind hier in Berlin und wir
klären einen Mord auf, dessen Tatort sich in einem anderen Land
befindet!”
“Ja”, sagte ich.
“Wie weit ist es von hier nach Wien?”
“Keine Ahnung.”
“Ungefähr 650 Kilometer”, mischte sich der Currywurst-Mann
ein. “Ik will mir ja nich ungefragt einmischen, aber Sie reden so
laut, dass ich zuhöre musste.”
“Schon klar”, sagte ich.
“Also wenn man über Tschechien fährt”, sagte der
Currywurst-Mann. “Sage icke zumindest. So Pi mal Daumen.”
“Könnte hinkommen”, meinte mein Kollege Rudi Meier. “So Pi mal
sonstwas.”
“Ja und was haben Sie beede jetzt mit dieser Sache in Wien zu
tun, wo Sie doch Kommissare hier in Berlin sind?”, fragte der
Currywurst-Mann, denn die Sache schien ihm keine Ruhe zu
lassen.
Ich sah ihn an.
“Neugierig, was?”
“Icke?”
“Wer sonst?”
“Ja, wat soll ick da sagen? Sie nich?”
“Doch. Berufsbedingt.”
“Na eben! Dann verstehnse mir doch!”
“Nur darf ich darüber leider nicht mehr sagen”, sagte
ich.
“Wat?”
“Dienstgeheimnis!”
“Also nachdem Sie schon die eine Hälfte vom sogenannten
Dienstgeheimnis hinausgeplärrt haben, dass ik mir schon gar nich
mehr auf mein Curry-Saucen-Rezept konzentrieren konnte, könnense
auch noch die andere Hälfte erzählen”, meinte der Currywurst-Mann.
“Finde icke jedenfalls.”
“Wir hatten ja keine Ahnung, dass Sie so gute Ohren haben”,
sagte Rudi.
“Gute Ohren und gute Wurst”, sagte ich.
Aber das war alles später.
Vorher geschah auch noch was.
Ich werde Ihnen erzählen, wie es dazu kam, dass sich zwei
Kriminalkommissare aus Berlin mit einem Mord in Wien beschäftigen
mussten.
“Irgendwie habe icke jetze das Gefühl, dass Sie mir nichts
mehr erzählen werden, Herr Kubinke” sagte der Currywurst-Mann
seufzend und sichtlich enttäuscht, nachdem Rudi Meier und ich nun
schon ein paar Augenblicke konsequent geschwiegen hatten.
“Hm”, sagte ich.
“Seiense jetzt nicht so gehemmt, nur weil Sie denken, dat icke
alles mithöre!”, meinte der Currywurst-Mann. “Sonst quasselnse doch
auch völlig ungeniert!”
*
Ein paar Tage zuvor…
Norbert Artlinger zog sich die Krawatte zurecht und blickte
auf die Uhr. Es würde kein Problem sein, pünktlich am Flughafen
Berlin Tegel zu sein. Er ging auf Socken zum Computer und begann,
ihn hochzufahren.
„Das darf doch wohl nicht wahr sein! Ich dachte, wir müssen
gleich los!“, meldete sich eine weibliche Stimme in seinem Rücken.
Sie gehörte Jarmila Mohnheim, seiner Lebensgefährtin. Zusammen
bewohnten sie ein Loft im Berliner Stadtteil Charlottenburg.
Artlinger sah sie kurz an. Sie war bereits vollkommen fertig und
trug ein eng anliegendes Kleid, das in einem schrillen Farbgemisch
gehalten war. „Meinst du der Flieger nach Wien wartet auf uns,
Norbert?“
„Wir kommen schon pünktlich. Ich möchte nur kurz sehen, wie
das Wetter in Wien so ist.“
Artlinger hatte eine Seite mit Webcams angewählt, die in
verschiedenen Städten in aller Welt installiert waren. In Wien gab
es gleich drei. Eine zeigte den Platz vor dem Stephansdom, eine das
Rathaus und die dritte war in der Nähe des Donauufers angebracht.
Artlinger wählte letztere aus. Per Mausklick konnte man den
Bildausschnitt schwenken.
Artlingers Gesichtszüge gefroren plötzlich.
„Das gibt's doch nicht“, murmelte er.
„Was hast du denn da für perverses Zeug angeklickt!“, stieß
Jarmila Mohnheim hervor und trat näher. „Da wird ja jemand
umgebracht!“
1
Norbert Artlinger zoomte einen bestimmten Bildausschnitt
heran. Zwei Männer waren zu sehen. Der eine Ende dreißig und
dunkelhaarig. Er trug einen Anzug. Der zweite war größer und
kräftiger. Er hatte rotes Haar und trug Jeans und Lederjacke.
Artlinger hatte gesehen, wie die beiden sich auffällig heftig
gestikulierend gegenübergestanden hatten. Der Rothaarige hatte den
Anzugträger an der Schulter gefasst. Dieser schüttelte die Hand von
sich und wandte sich zum Gehen.
Mit einer blitzschnellen Bewegung nahm der Rothaarige dann
etwas aus seiner Jackentasche. Artlinger hatte erst nicht sehen
können, was es war. So fein war dann die Auflösung der Webcam wohl
doch nicht.
Aber im nächsten Moment wurde klar, dass es sich um eine Art
Schlinge handeln musste.
Mit einer raschen, geübten Bewegung schlang sie der Rothaarige
um den Hals seines Opfers, das verzweifelt ersuchte, sich zu
wehren. Es dauerte nur einen Augenblick, dann sank der Anzugträger
zu Boden und blieb regungslos liegen. Der Rothaarige beugte sich
über ihn und schien sich zu vergewissern, dass das Opfer auch
wirklich tot war.
Dann begann er, die Taschen des regungslos daliegenden Mannes
zu durchwühlen. Er holte ein Klappmesser hervor und fing damit an,
die Etiketten aus der Kleidung heraus zu trennen.
Er ging dabei sehr ruhig vor.
„Meine Güte, wie ist das möglich? Das ist mitten in einer
großen Stadt von mehr als einer Million Einwohner!“, stieß Jarmila
hervor, die noch immer kaum fassen konnte, was sie da zu sehen
bekam.
„Das ist eine ziemlich einsame Stelle am Donauufer“, sagte
Artlinger. „So etwa gibt es in Berlin auch. Auf der einen Seite
sind ein paar Lagerhallen, wo anscheinend nicht mehr gearbeitet
wird und von der anderen Seite schützen den Mörder die Pfeiler
einer Donau-Brücke.“
„Wieso bringt denn dort jemand eine Webcam an, Norbert?“
„Weil man eine prima Aussicht auf die UNO-Gebäude in Wien hat,
wenn man die Kamera virtuell etwas schwenkt – und außerdem
natürlich auf die Donauschiffe, deren Kais ein Stück weiter
liegen.“
Quälend lange Augenblicke des Schweigens vergingen.
Der Mörder schleifte indessen sein Opfer zum Ufer und warf den
reglosen Körper in den Fluss. Dann blickte sich der Rothaarige nach
allein Seiten um.
„Norbert, wir müssen etwas tun!“
„Und was, wenn ich fragen darf? Was wir sehen geschieht
tausend Kilometer von uns entfernt in einem anderen Land...“
„Lass uns die Polizei anrufen.“
„Welche Polizei? Die in Wien? Bis die am Ort des Geschehens
sind, ist der Kerl längst auf und davon. Und wenn ich 110 hier in
Berlin wähle...“ Artlinger machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Denen traue ich nicht mehr viel zu!“
Der Mörder war unterdessen aus dem Bildausschnitt
herausgegangen.
Artlinger versuchte durch einen virtuellen Kameraschwenk
seinem Weg zu folgen, was aber unmöglich war. Für einen kurzen
Moment war der Mörder noch einmal im Erfassungsbereich der Webcam
zu sehen. Er hatte ein Handy am Ohr und gestikulierte fast genauso
heftig wie in seinem Gespräch mit dem Ermordeten.
Dann war er verschwunden.
Artlinger ließ sich in den Drehsessel fallen, der vor dem
Computer stand.
„Jedenfalls weißt du jetzt, wie das Wetter in Wien ist“, sagte
Jarmila.
2
Norbert Artlinger ging auf und ab. Die für Berlin enorm große
zweihundert Quadratmeter Wohnung, die Artlinger in einem Altbau
bewohnte, bot genug Platz dafür. Artlinger brauchte diesen Platz.
Er war Galerist und Kunst bedeutete ihm in mehrfacher Hinsicht
alles. Beruflich und privat. Beruflich war er Galerist und privat
mit einer Künstlerin liiert. Vor einem Jahr war Jarmila Mohnheim
bei ihm eingezogen.
Die hohen Wände waren seitdem mit ihren großformatigen Bildern
vollgehängt, die ein fröhliches Durcheinander von Formen und Farben
darboten.
Nur war sie damit bislang nicht besonders erfolgreich gewesen
- und das, obwohl sie nun einen der erfolgreichsten Galeristen der
Berliner Kunstszene in mehrfacher Hinsicht an ihrer Seite hatte.
Sie hatte ihren Vornamen geändert und nannte sich nun Jarmila
anstatt einfach und schlicht Jana Mohnheim. Und außerdem benutzte
sie seit einiger Zeit vorwiegend Tierblut anstatt Ölfarbe und
anstatt eines Pinsels ihren eigenen Körper, mit dem sie sich auf
der Leinwand wälzte.
Das alles hatte ihr allerdings nur in den Boulevard-Medien
einige Aufmerksamkeit eingebracht. Ihrer Wertschätzung in der
Kunstszene waren diese Aktionen eher abträglich gewesen und der
Wert ihrer Bilder hatte sich nicht gesteigert. Die meisten erwiesen
sich schon auf Grund ihrer außerordentlich großen Formate als
unverkäuflich und so hingen sie nun im Dutzend in Artlingers
Wohnung. Wenigstens waren hier die Räume hoch genug, um Gemälde,
die derartig aus dem Rahmen fielen, aufzuhängen.
In Wien standen ihnen nun wichtige Gespräche mit Galeristen
aus Europa bevor und außerdem hatten sie einen Termin mit einem
Event-Manager aus Basel, der Jarmilas Karriere etwas auf die
Sprünge helfen sollte.
Dass sie wirklich die künstlerische Potenz hatte, um ganz groß
herauszukommen, daran glaubte nicht einmal Artlinger.
Er musste es schließlich wissen.
Er hatte zahllose Künstler aufsteigen und fallen sehen. Von
den meisten sprach schon nach wenigen Jahren niemand mehr. Eine
kleiner Hype, damit hatte es sich für das Gros. Über längere Zeit
oben zu bleiben, das schafften nur die wenigsten. Und eigentlich
gab es keine Indizien dafür, dass ausgerechnet Jarmila dazugehören
sollte.
Bei einem anderem Künstler hätte Artlinger vielleicht
argumentiert, dass sich der ganze Aufwand nicht lohnte.
Aber bei Jarmila galten andere Regeln. Sie war einfach
besserer Laune, wenn sie zumindest die Illusion hatte, dass es
aufwärts ging. Also machte Artlinger auch diese Aktion mit.
Und davon abgesehen, war Wien ohnehin immer eine Reise wert.
Aber jetzt hatte sich alles geändert.
Norbert Artlinger griff zum Telefon.
„Wen rufst du an?“, fragte Jarmila.
„Das Büro.“
„Jetzt? Wieso das denn?“
„Wir werden unseren Flug etwas verschieben müssen.“
“Was?”
“Ja, du hast richtig gehört.”
3
Ich trug unter der Lederjacke eine schusssichere Weste.
Man macht schon einiges mit, nur damit man nichts abkriegt.
Angenehm ist das nicht, kann ich Ihnen sagen!
Und eine Zulage gibt es auch nicht dafür.
Über Headset war ich mit den anderen BKA-Kollegen
funktechnisch verbunden, die an diesem Einsatz beteiligt waren. Da
ich den Reißverschluss meiner Lederjacke geschlossen hatte, um die
Kevlar-Weste zu verbergen, steckte meine Dienstwaffe in der
Seitentasche und nicht im Holster. Meine Hand hatte sich um den
Griff der Pistole gelegt, sodass ich sie jederzeit herausreißen
konnte.
Zusammen mit meinem Kollegen Rudi Meier ging ich die Straße
entlang, vorbei an einem Club, der sich „Bordsteinschwalbennest“
nannte.
Aber so verrucht, wie der Name vermuten ließ war das
„Bordsteinschwalbennest“ nicht. Es war ein Nachtclub der
Luxusklasse, in dem viel Geld umgesetzt und wenig Gewinn gemacht
wurde. Aber das war nach unseren Ermittlungen auch gar nicht das,
was der Besitzer im Sinn hatte.
Das „Bordsteinschwalbennest“ diente unseren Ermittlungen nach
der Geldwäsche. Dreckige Drogendollars sollten weiß gewaschen
werden. Der Besitzer hieß Dima Modesta und war keineswegs ein
unbeschriebenes Blatt.
Er galt als treuer Gefolgsmann der Russen-Mafia-Größe Vladi
Gruschenko und hatte sich in dessen Organisation vom Türsteher und
Schläger aufwärts hochgedient und war offenbar auf seine alten Tage
mit dem nicht gerade anstrengenden Job belohnt worden, einen Club
zu führen, der keine Gewinne, sondern nur Umsatz zu machen
brauchte.
Immer dasselbe Spiel.
Formal war Modesta der Besitzer – aber unser Kollegen hatten
ermitteln können, auf welchen verschlungenen Finanzpfaden Vladi
Gruschenko seinen Strohmann mit dem nötigen Kapital ausgestattet
hatte. Das alles lief über mehrere Scheinfirmen in Liechtenstein,
der Schweiz und auf den Cayman Islands.
Wir hatten genug gegen ihn gesammelt, um ihn festnehmen zu
können. Damit brach dann auch für Modestas Boss Vladi Gruschenko
ein wichtiges Stück aus dem Imperium heraus, das diese graue
Eminenz des organisierten Verbrechens aufgebaut hatte.
Rudi und ich hatten den Eingang zum „Bordsteinschwalbennest“
passiert. Ich machte an einem Zeitschriftenladen Halt und sah mir
die Magazine im Drehständer an, den ich mit der Linken leicht
bewegte. Rudi ging noch ein Stück weiter und blieb dann zwischen
zwei parkenden Fahrzeugen stehen. Er tat so, als wollte er über die
Straße gehen. Da die Straße stark befahren war, konnte er dort eine
ganze Weile bleiben, ohne dass es auffällig war und gleichzeitig
den Eingang des „Bordsteinschwalbennest“ beobachten.
Es war später Vormittag. Da war der Nachtclub natürlich noch
nicht geöffnet. Es gab lediglich hin und wieder Lieferverkehr.
Wir wussten, dass Dima Modesta hier auftauchen würde. Er sah
dann nach dem Rechten und traf sich auch mit Geschäftspartnern.
Maximal eine halbe Stunde dauerten diese Aufenthalte.
Dima Modesta war ein sehr misstrauischer Mann.
Offenbar hatte er sich vorgenommen, nie wieder so einfach in
seiner Privatwohnung verhaftet zu werden, wie es im Zusammenhang
mit seiner letzten Verurteilung wegen schwerer Körperverletzung und
Nötigung der Fall gewesen war. Er besaß zwar ein Luxus-Apartment,
das auch von unseren Kollegen überwacht wurde – aber dort hielt er
sich so gut wie nie auf.
Statt dessen übernachtete er abwechselnd in mehreren, über den
gesamten Großraum Berlin verteilten Wohnungen. Wohnungen, die
formal so genannten „Freundinnen“ gehörten. In Wahrheit handelte es
sich dabei um Call-Girls, die für ihn anschafften. Leider kannten
wir die meisten Schlupflöcher nicht und so mussten wir ihn vor dem
„Bordsteinschwalbennest“ abpassen.
Unser Kollege Kronburg meldete sich über Funk.
„Modestas kanariengelber Ferrari ist im Anmarsch“, sagte er.
„Er müsste gleich um die Ecke kommen.“
„Verstanden“, murmelte ich in das Mikro am Kragen hinein.
Es dauerte nur wenige Augenblicke, da bog der unübersehbare
kanariengelbe Ferrari von Dima Modesta um die Ecke. Schnelle Autos
waren eine Schwäche von Modesta.
Er parkte den Wagen am Straßenrand. Seine Leute sorgten –
manchmal auch mit ziemlich rabiaten Methoden – dafür, dass vor dem
„Bordsteinschwalbennest“ immer ein Parkplatz frei war, wenn Modesta
ihn brauchte.
Selbst Lieferfahrzeuge mussten dann notfalls weichen.
Inzwischen war allerdings wohl bereits jedem Lieferanten des
„Bordsteinschwalbennest“ eingeimpft worden, wo die „Verbotene Zone“
war.
Dima Modesta saß nicht allein im Ferrari.
Neben ihm auf dem Beifahrersitz befand sich eine
wasserstoffblonde Schönheit mit aufgespritzten Lippen. Die beiden
schienen einen ziemlich heftigen Wortwechsel zu haben, von dem wir
allerdings kein Wort verstehen konnten.
Dann stiegen beide aus.
Das war der Moment für unseren Zugriff.
Von der einen Seite näherten sich Rudi und ich, von der
anderen unsere Kollegen Fred Düpree und Lukas Marxheimer.
Modesta kannte keinen von uns persönlich. Trotzdem schien er
einen sechsten Sinn für solche Situationen entwickelt zu haben. Er
blickte in Freds Richtung, ließ die Blondine in seinem Schlepptau
los und machte einen schnellen Schritt in Richtung des
„Bordsteinschwalbennest“-Eingangs.
„Bleiben Sie stehen! BKA!“, rief Rudi.
Wir rissen unsere Waffen heraus.
Dima Modesta ebenfalls. Er zog eine Automatik unter der Jacke
hervor und feuerte wild um sich. Unser Kollege Lukas Marxheimer
sank getroffen zu Boden.
Wir feuerten ebenfalls. Eine Kugel traf Modesta in die Brust,
riss seinen Blouson auf und offenbarte das graue Kevlar, dass er
darunter trug. Er taumelte durch die Wucht des Treffers gegen die
Wand. Er ballerte aber weiterhin um sich. Seine Schüsse waren
vollkommen ungezielt.
Stolpernd rettete er sich dann durch die Tür des
„Bordsteinschwalbennest“.
Fred Düpree kümmerte sich um unseren niedergeschossenen
Kollegen Lukas Marxheimer und verständigte bereits den
Rettungsdienst. Die Kugel hatte ihn am Hals erwischt, wo ihn auch
die Kevlar Weste nicht schützte. Eine Blutlache breitete sich auf
dem Pflaster des Bürgersteigs aus.
Rudi und ich setzten nach, um Modesta gefangen zu nehmen.
Die Blondine mit den aufgespritzten Lippen stand wie
angewurzelt da.
Dann dröhnte das Geräusch einer gewaltigen Explosion uns in
den Ohren.
Die Fenster des „Bordsteinschwalbennest“ barsten nach außen.
Glassplitter flogen wie Geschosse durch die Luft. Wir warfen uns zu
Boden und ich riss die Blondine mit mir auf das Pflaster. Ihr
Aufschrei ging im Detonationslärm unter. Eine Welle aus Druck und
Hitze brandete über uns hinweg und ließ auch noch die Scheiben des
Ferrari und einiger anderer parkender Fahrzeuge zerplatzen.
4
Norbert Artlinger betrat das Dienstzimmer von Max Herter,
einem Innendienstler aus der Fahndungsabteilung.
„Bitte setzen Sie sich, Herr Artlinger“, sagte Herter und
deutete auf den freien Sessel.
„Danke.“
„Die Kollegin, die Sie an mich verwiesen hat, sagte, Sie
hätten im Internet einen Mord beobachtet.“
Artlinger nicke. „Richtig. Allerdings nicht hier, sondern in
Österreich, genauer gesagt in Wien.“ Er lächelte.
„Dann erzählen Sie mal!“
Artlinger holte einen sorgfältig gefalteten Computerausdruck
aus der Innentasche seines Jacketts und legte das Blatt auf den
Tisch, nachdem er es ausgebreitet und mit der Hand glatt gestrichen
hatte.
„Ich hatte leider kein Fotopapier mehr, sonst wäre der
Ausdruck noch besser geworden. Aber ich habe die Daten auf eine CD
gebrannt, die ich Ihnen überlassen kann.“
„Da wäre sehr nett.“
Er griff in die andere Innentasche, holte den Datenträger
hervor und legte ihn neben das Blatt.
Herter nahm sich zunächst den Ausdruck.
„Das ist ein Screenshot.“
„Scheint, als hätten Sie genau im richtigen Augenblick auf den
Knopf gedrückt“, sagte Max Herter.
„Das Gesicht des Täters ist gut zu sehen“, bestätigte
Artlinger. „Und was er tut auch.“
„Die ganze Videosequenz haben Sie nicht zufällig
gespeichert?“
„Nein, nur den Screenshot. Das ganze stammt von einer
Wettercam, die man virtuell schwenken kann. Es ist reiner Zufall,
dass ich gerade den passenden Ausschnitt erwischt habe.“
„Und wo ist das Ganze passiert?“
„Am Donauufer. Die genaue Position der Webcam können Sie auf
der Homepage ersehen, über die man an die Wettercams herankommt.
Die Netzadresse steht auf der Rückseite des Ausdrucks.“
„Wie lange ist das her?“
„Eine Stunde.“ Er zucke mit den Achseln. „Tut mir leid, aber
ich musste erst ein paar Dinge regeln. Eigentlich waren meine
Lebensgefährtin und ich auf dem Sprung nach Wien. Deswegen wolle
ich ja auch wissen, wie dort das Wetter ist.“
„Verstehe“, nickte Max.
„Nein, Sie verstehen gar nichts. Ich musste unseren Flug
umbuchen und ein paar ziemlich wichtigen Leuten sagen, dass ich
erst morgen früh in Wien sein werde.“ Artlinger hatte jetzt einen
hochroten Kopf. Er lehnte sich zurück und strich sein Haar nach
hinten. „Aber ich wollte nicht einfach los fliegen, ohne dass hier
gemeldet zu haben.“
„Sie sind ein vorbildlicher Staatsbürger, Herr
Artlinger.“
„Danke. Nur wird sich der Staat dafür kaum bedanken und mir
höchstens noch mehr von meinem sauer verdienten Geld durch seine
Steuern abknöpfen.“
„Trotzdem, Sie waren sehr aufmerksam. Und wir würden uns
manchmal wünschen, dass mehr Menschen so reagierten. Wo ist
eigentlich Ihre Lebensgefährtin?“
„Die ist mit den Nerven ziemlich am Ende und wollte nicht
mitkommen.“
„Es wäre gut, wenn sie noch vor Ihrem Flug nach Wien hier
vorbei schauen und auch noch eine Aussage machen könnte. Manchmal
gibt es ja Details, die der eine übersieht, aber an die sich der
andere noch gut erinnert.“
„In Ordnung.“
„Und nun schildern Sie mir bitte die gesamte Szene, die Sie
gesehen haben. Möglichst von Anfang bis zum Schluss. Jedes Detail
kann eventuell wichtig sein.“
„In Ordnung.“
„Sind Sie damit einverstanden, dass ich eine Audioaufzeichnung
Ihrer Aussage anfertige? Wir vermeiden dadurch womöglich unnötige
Rückfragen an Sie...“
„Meinetwegen.“
„Und ich nehme an, dass Sie auch nichts dagegen haben, wenn
wir diese Aufzeichnung möglicherweise an die österreichischen
Behörden weiterleiten?“
„Nein. Ich hoffe nur, dass sich der ganze Aufwand lohnt und
dieser Killer hinter schloss und Riegel kommt!“
Artlinger schilderte wie der Mann im Anzug mit einer Schlinge
erwürgt und anschließend in den Fluss geworfen wurde. „Dieser
Rothaarige hat die Taschen durchsucht und die Etiketten in der
Kleidung entfernt. Deutet das nicht auf einen Profi hin?“
„Ja, das ist gut möglich“, gab Max Herter zu. „Aber für solche
Spekulationen ist es im gegenwärtigen Stadium der Ermittlungen wohl
noch zu früh.“
Artlinger beugte sich etwas nach vorn und hob die Augenbrauen.
„Was geschieht jetzt?“