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EIN APPELL VON
REINHOLD MESSNER

Rettet die Berge

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Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

Das Zitat von Bertolt Brecht (S. 32) wurde mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags übernommen aus: »Über das Frühjahr«, in: Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 14: Gedichte 4. © Bertolt-Brecht-Erben / Suhrkamp Verlag 1993. Das Zitat von Hans Magnus Enzensberger (S. 34) wurde erstmalig veröffentlicht in: »Reminiszenzen an den Überfluss«, Spiegel Nr. 51/1996. © Hans Magnus Enzensberger 1996. © Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin. Das Zitat von Margarete Hannsmann (S. 93) wurde mit freundlicher Genehmigung der Edition Isele abgedruckt. Einzelne Passagen des Buches würden übernommen aus Reinhold Messner, Berg Heil – Heile Berge? Rettet die Alpen, erschienen in der BLV Verlagsgemeinschaft, München 1997.

1. Auflage

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:
Red Bull Media House GmbH
Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15
5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT
Gesetzt aus der Minion Pro, New Baskerville
Umschlaggestaltung: www.b3k-design.de, Andrea Schneider, diceindustries
Umschlagfoto: Archiv Reinhold Messner
ISBN 978-3-7109-0071-6
eISBN 978-3-7109-5081-0

Inhalt

Heile Berge – ein Prolog

1Wo wir stehen

Der Berg im Paket

Natur als Attrappe

Stille

Bergurlaub

Arena der Einsamkeit

Gletscher als Lebensgrundlage

Klimawandel und Gebirge

Die menschliche Verantwortung

Sport, Spiel oder Abenteuer?

Gefahr und Tod am Berg

Zurück in die Berge

Wertzuwachs durch Reduktion

2Die Berge und ich

Der Trost der Berge

Zu Fuß in die Berge

Ungewohnte Perspektiven

Auf den Spuren der alpinen Geschichte

Die Freiheit, aufzubrechen, wohin ich will

3Was sich ändern muss!

Rettet die Berge

Das Wie zählt

Sanfter Tourismus

Keine Ersatzgebirge

Aufpassen!

Genug ist nie genug

Meine Werte-Charta für die Berge

Berge besteigen, obwohl es absurd ist – ein Gespräch

Heile Berge – ein Prolog

»Bei jedem Schritt mit der Natur bekommt jemand
weit mehr als er sucht.«
John Muir

Mit »Berg Heil!« hatte ich von Anfang an meine Probleme. Schon seit ich als Kind in den Dolomiten herumsteige, sträubt sich etwas in mir, wenn ich mit »Berg Heil« begrüßt werde. In Südtirol erwidere ich vielleicht »Grüß Gott«, in Nepal »Namasté« (»Gruß an das Göttliche im Gegenüber«), in Tibet »Tashi Delek« (»Glück und Frieden«), Obwohl nicht eindeutig feststeht, welche Werte mit dem altehrwürdigen »Berg Heil« verbunden sind, kann ich mich nicht mit all den Klischees identifizieren, mit denen sich jene Berg-Heil-Gesellschaft adelt, die Berge als ihr persönliches Reservat beansprucht.

Vor fünfzig Jahren stellte auch ich das Hinaufsteigen als Gegenpol zum Untensein dar und war all den Idealen verpflichtet, die das Bergsteigen ausmachten. Hier die Berge – dort die Stadt. Hier Freiheit, Weite, Stille – dort Begrenzung, Enge, Lärm. Schwarz-Weiß-Malerei.

»Unsere Welt ist programmiert. Alle Möglichkeiten des kommenden Tages sind berechnet«, schrieb ich damals. »Gegen jedes Risiko ist man versichert. Die Gewissheit, dass alles nur so und nicht anders verlaufen kann – ich ertrage sie nicht. Als Techniker habe ich nichts gegen Eisenbeton, Asphaltstraßen und hohe Gerüste im Dienst des Menschen. Doch Mensch bin ich dort, wo die Welt ist, wie sie immer war.«

Inzwischen bin ich Realist genug zu erkennen, dass sich die Stadtkultur ins Gebirge ausbreitet, immer weiter hinauf, tiefer hinein. Geheilt von vielen romantischen Vorstellungen, die das Bergsteigen zwei Jahrhunderte lang prägten, verfolge ich zwar immer noch meine Ideen, eine idealistische Geisteshaltung aber trägt mich nicht, mich beschämt auch nicht die Kritik jener Fundamentalisten, die aus der Perspektive des Stubenhockers das Leben selbst verhindern möchten. Viele Pläne, die ich hatte, sind realisiert. Und für Ideen, die ich noch nicht hatte, reichen Energie und Zeit auch im Alter. Nein, ich bin nicht müde geworden, nur Pragmatiker. Und die einzigen Berge, auf die zu steigen sich lohnt, sind heile Berge.

Heile Berge bestehen aus der Summe von Kulturlandschaft – die der Mensch seit Jahrtausenden gestaltet, umgestaltet, pflegt –, und Naturlandschaft, die einst als Ödland unberührt blieb. Nur die beiden Hälften zusammen ergeben jenes besondere Landschaftsbild: »Heile Berge«, die eine starke Aussage, etwas Einmaliges, Unverwechselbares ausstrahlen.

Dabei ist das eine ohne das andere nicht vorstellbar: die Kulturlandschaft, im Idealfall genutzt, ist dem kulturellen Wandel, der eine nachhaltige Heimat für die jeweilige Bergbevölkerung sichert, unterworfen. Darüber die Naturlandschaft, für die lokale Bevölkerung einst absolut nutzlos, die alle Werte in sich birgt, die dieses Ödland – Kare, Felsen, Gletscher mit ihrem Verwitterungsprozess – vor Missbrauch schützen: Es ist die Erhabenheit, jenes Schrecklich-Schöne, das den Menschen einst ein weiteres Vordringen verbot.

Diese unantastbaren Berge waren ihnen Orientierungshilfe, Hindernis, Mythos. Vor allem waren sie unzugänglich: wegen der Schwierigkeiten voranzukommen, der Gefahren und der Unberechenbarkeit. Stille und Weite dort oben, die Unendlichkeit, wurden respektiert wie das Göttliche. Belassen wir den Bergen all diese Werte, weisen sie den Menschen ab, bleiben Gefahrenraum, brauchen nicht vor ihm geschützt zu werden. Ihre Kraft ist wesentlicher Teil der Bergnatur.

1

Wo wir stehen

Der Berg im Paket

»Die größte Sehenswürdigkeit, die es gibt,
ist die Welt – sieh sie dir an.«
Kurt Tucholsky

Befinden wir uns in unmittelbarer Nähe, zwischen den Bergen, entsteht in uns Menschen nicht das Gefühl von Größe und Erhabenheit. Die starren Massen aus Fels und Eis haben etwas Einengendes, das uns ängstigt, nichts Befreiendes. Ständig wird unser Blickfeld eingeschränkt. Wer nach Erweiterung, nach Ausdehnung sucht, muss in die Höhe steigen. In der Ebene überblicken wir höchstens fünf Kilometer. Vom Gipfel eines Dreitausenders ertastet das Auge schon einen zweihundert Kilometer entfernten Horizont, in achttausend Metern Höhe geht die Sonne viel früher auf als im Flachland. Fernsicht ist auch Übersicht.

Der Wunsch, diese zu gewinnen oder den Blick zu genießen, lockte Hirten und Jäger – lange vor den Romantikern, die eine entrückte, erhabene Bergwelt zu entdecken glaubten –, in die Höhe. Soweit für seine Bedürfnisse brauchbar, nutzte und erkundete der Mensch diese Höhen, beutete sie aber nie aus. Das Unzugängliche respektierte er als das ihm natürlicherweise Versperrte.

In vielen Regionen und Lebensphilosophien galten und gelten bestimmte Berge als heilig: »Götterberge«, »Altäre«, »Opferstätten«. In Tibet ist heute noch die Vorstellung lebendig von Göttern, die auf den Gipfeln des Himalaya tanzen. Die Menschen dort ziehen im Geiste eine Begrenzungslinie um ihre Berge und heiligen sie damit. Wie einst auch der Sagenkönig Laurin um seinen Rosengarten. Wer diese Grenze überschreitet, wird zerschmettert.

Doch unser Blick auf die Berge veränderte sich im Laufe der letzten 250 Jahre stärker als die Berglandschaft selbst. Mit der Aufklärung schwanden Mythen, auch die Angst, zuletzt Furcht und Ehrfurcht. Nicht Einheimische, sondern Forscher und Eroberer erfanden das Handwerk des Bergsteigens – Chaos und Schrecken der Gebirge wurden in Kauf genommen –, unter Strapazen und Gefahren.

Inzwischen hat die Verstädterung längst alle Grenzen überwunden. Man bucht und konsumiert heute jenes Gespenst, dem man früher endlich für ein paar Wochen entfliehen wollte: die perfekt organisierte, geschickt verpackte Zivilisation!

Auf den Gipfeln tanzen keine Götter mehr … Dort stehen nun Fremdlinge und wissen dabei nicht, was sie tun. Denn das Staunen am Rande der Unendlichkeit ist im Paket – all-inclusive – nicht inbegriffen.

Natur als Attrappe

»Mit der Natur ist es wie mit der Ruhe: Man träumt
von ihr, man spricht von ihr, aber in strikter Form
mögen die meisten sie nicht.«
Wolf Schneider

Dem Skifahrer und Snowboarder von heute ist nur wichtig, dass Schnee liegt. Er will irgendwo runterfahren, seinen Spaß haben, egal ob auf Kunst- oder Naturschnee. Letzterer schwindet zunehmend, die Erzeugung und Bereitstellung des künstlichen Winterwunders verschleudert massiv wertvolle Ressourcen: Wasser, Energie, Landschaft. Lawinengefahr bekümmert den Sportler wenig, Gletscherspalten müssen markiert sein. Wozu gibt es Lawinenwarnung, Pistendienst, Verbotsschilder? Na dann: »Ski Heil!«

Sportkletterer verlassen sich auf eingebohrte Sicherungshaken, Alpinisten von heute auf den Wetterbericht, die Eisgeher auf ihre Geräte – und sie alle im Notfall aufs Handy im Rucksack, mit dem der Rettungshubschrauber gerufen werden kann. Aus jeder Sportkletterwand, von jeder Graterhebung ertönt das »Berg Heil!«. Als wären Felsen, Schneehänge, Eisflanken nicht viel mehr als Klettergerüste, wird auf mehr oder weniger schiefen Ebenen »Fit for fun« gespielt. Die Landschaft dahinter, die Natur drum herum, wird als Kulisse empfunden: schön vielleicht aus der Distanz, aber kein wirklicher Freizeitbereich.

Im Gebirge dominieren inzwischen modisch geprägte Aktivsportarten, die immer weniger umweltverträglich gestaltet werden, weil der Naturbezug schrumpft. Natur wird vielfach nur noch als Attrappe erlebt. Wie in den Ballungszentren schafft sich der Mensch auch im Gebirge künstlich eine »zweite Natur«, in der eine präparierte Piste und abgesicherte Routen, markierte Steige, Hütten, Rettungshubschrauber die Voraussetzung sind für sein »Freizeitvergnügen«. Dienstleistung allerorten, gewohnten Komfort und die totale Beherrschbarkeit der Natur setzt er voraus. Vieles am Berg ist zum Konsum verkommen, dazu gehören auch Nervenkitzel und Körperkult. Durchtrainierte Mountainbiker, sportlich braun gebrannte Freeclimberinnen, willensstarke Durchhaltetypen repräsentieren dabei den Leistungsdruck einer Dienstleistungsgesellschaft, der wir noch vor wenigen Jahrzehnten »mit Seil und Haken« entgehen zu können glaubten.

»Das Individuum wird in der eigenen Lebenswelt immer fremder und heimatlos«, sagt Werner Bätzing. Im Gegensatz zur notwendigen Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur im Arbeitsbereich stünde im Freizeitbereich eine mögliche und spielerische Aktivität als Ausgleich zwischen Kopf und Körper, Geist und Natur – wenn wir wirklich mit Herz und Geist in die Berge gehen würden. Bergsteigen als Hilfsmittel, um vergessene und verdrängte Instinkte zu sensibilisieren, setzt aber nicht nur wenig erschlossene Berge voraus, sondern auch Aktive, die ihren Sinn des Lebens nicht ausschließlich aus dem Bergsteigen ziehen. Wo Natur zur Kompensation emotionaler Defizite unserer Gesellschaft benutzt wird, steht das »Berg Heil« für Sinnersatz in einer anonymen Alltags- und Arbeitswelt, wird der Weg zum Berg zur Flucht aus der Stadt.

Die Bilder, die wir von »Natur« vor Augen haben – aus Fernsehen, Werbung, Wissenschaft –, führen uns spiralartig aus einem immer sterileren Leben in eine immer künstlichere Freizeitwelt. Wir alle sind überfordert, wenn wir unsere Defizite aus dem Alltagsleben im Gebirge kompensieren wollen. Wer Stress, Hektik und Leistungsdruck aus dem Alltag in die Bergwelt überträgt, hat für Selbstverwirklichung weder Zeit noch Raum.