Aus dem Amerikanischen von Michael Krug

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Hell Divers 3: Deliverance

erschien 2018 im Verlag Blackstone Publishing.

Copyright © 2018 by Nicholas Sansbury Smith

Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-783-7

www.Festa-Verlag.de

An meine guten Freunde und Partner bei Blackstone Publishing:

Danke, dass ihr dabei geholfen habt, der Hell Divers-Reihe Leben einzuhauchen. Die Zusammenarbeit mit jedem Einzelnen von euch ist mir eine Ehre.

»Eine große Vision ist nötig, und der Mann, der sie hat, muss ihr so folgen, wie der Adler das satteste Blau des Himmels sucht.«

– Crazy Horse

1

Vor sechs Jahren

Gezackte Blitze zuckten mitten durch die gewaltige Unwetterfront, die sich über dem Ödland zusammenbraute. Die Senke aus rissigem Erdreich schien sich in alle Richtungen endlos zu erstrecken. Das konstant flimmernde Licht erhellte eine Straße, die gewunden durch das kahle Terrain verlief. Vor Hunderten Jahren hätten diese Straße blühende Felder gesäumt. Nun jedoch gab es weit und breit nur zwei Lebewesen, die ihre Spuren im Staub hinterließen.

Ein Mann und sein Hund wanderten über den aufgerissenen Asphalt. Der Mann trug einen schwarzen Strahlenschutzanzug und ein olivfarbenes Halstuch zwischen der Brustpanzerung und dem Helm. Vor langer Zeit hatte das Metall seiner Körperpanzerung matt geschimmert, doch die Jahre unter freiem Himmel hatten alles zu einem stumpfen Grau ausgebleicht. Er hinkte leicht – eine Folgeerscheinung alter Verletzungen und abgenutzter Gelenke.

Der Mann bedeutete dem Hund, zu ihm zu kommen, als sie weiter über die verfallene Straße stapften. Während der 30 Kilo schwere Siberian Husky die kristallblauen Augen auf den Weg gerichtet ließ, behielt der Mann die wirbelnden Sturmwolken im Blick.

Beide suchten sie – der Hund nach Feinden, der Mann nach etwas, an das er sich kaum noch erinnern konnte. Er kniff die Augen zusammen und betrachtete die Form einer aufgedunsenen Wolke, die ihn an einen überdimensionierten Käfer erinnerte. Er blieb auf der Straße stehen, ließ das Gewehr sinken und legte den Kopf schief, als Erinnerungen seinen gequälten Geist fluteten.

»Was du suchst, das gibt es nicht mehr«, murmelte er in kratzigem Flüsterton. »Sie sind inzwischen alle tot.«

Fragend schaute der Husky zu ihm auf, bevor der Hund weiter voraustrabte. Der Mann verharrte im böigen Wind, der sein Halstuch wie ein Flügelpaar hinter ihn wehte, während er in seine Vergangenheit einzutauchen versuchte. Ganz gleich, wie sehr er es versuchte, an bestimmte Dinge konnte er sich einfach nicht erinnern. Auch nicht an wichtige Dinge. Zum Beispiel, wer in seinem alten Leben eine Rolle gespielt hatte, bevor man ihn zurückgelassen hatte. Aber er konnte sich an den eigenen Namen erinnern. Er stand in gekritzelter Handschrift auf der ersten Seite eines eselsohrigen Buches, das er in einer Plastikfolie in der Brusttasche seiner Weste aufbewahrte.

»Du bist Xavier Rodriguez.« Er schluckte, zwang den Speichel seine trockene Kehle hinunter. »Du bist X«, sagte er, diesmal lauter. »Du bist der letzte Mensch auf Erden.«

Miles schaute zu ihm zurück. Der Kunststoff des Strahlenschutzanzugs, den der Hund trug, flatterte hin und her, als Miles mit dem Schwanz wedelte. X spürte ein unwillkürliches Ziehen an den Lippen. Näher war er einem Lächeln seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gekommen. Ihm wurde klar, dass er sich gar nicht an die letzte Gelegenheit dafür erinnern konnte.

»Bleib in Bewegung«, sagte er sich. Die Worte wurden zu einem Mantra, das er in Gedanken unablässig wiederholte, während er sich den Weg über den aufgerissenen Asphalt bahnte, der einst eine Schnellstraße gewesen war.

Sein Weg waren die Straßen. Sie verbanden die Städte der alten Welt miteinander, in denen einst das blühende Leben der Menschen geherrscht hatte. In der Ferne streckten sich die skelettartigen Hüllen von Wolkenkratzern den Sturmwolken entgegen. Ein Kind, das nie eine Stadt gesehen hatte, würde im Leben nicht darauf kommen, dass die Gebilde von Menschen gebaut worden waren. Jemand, der noch nie einen Fuß auf die Erdoberfläche gesetzt hatte, würde sie für einen Bestandteil der Landschaft halten.

Und in gewisser Weise waren sie dazu geworden, genau wie die Gebeine der Menschen und Tiere, die früher hier gelebt hatten. X hingegen wusste nur allzu gut, wie es um die uralten Städte bestellt war – und was in den Labyrinthen der einander kreuzenden Straßen hauste. In dieser Stadt würde es nicht anders sein. Früher einmal hatten hier Millionen Menschen ihr Zuhause gehabt, mittlerweile jedoch beherbergte der Ort nur noch mutierte Bestien wie die Sirenen – genmanipulierte Menschen, die sich zu Monstern weiterentwickelt hatten.

Er selbst besaß keine dauerhafte Heimat mehr. Sein Zuhause war überall dort, wo er entschied, anzuhalten und sich auszuruhen. Er schlief immer dann, wenn sein Körper es brauchte. Da er niemanden zum Reden und nichts anderes zu tun hatte, als quer durch das verwüstete Land zu marschieren, war er in eine Routine verfallen, durch die er sich mehr wie eine Maschine als wie ein Mensch fühlte.

X wanderte.

Er hatte keine Ahnung, wie lange er schon gewandert war. Den Überblick über die Zeit hatte er längst verloren. In der Ödnis war die Zeit alles, und die Zeit war nichts. Das hatte er vor langer Zeit gelernt – wann genau, das vermochte er nicht mehr zu sagen. Eigentlich wollte er es gar nicht wissen. Wie der Kies und der Staub, die um ihn herum durch die Luft wirbelten, tauchten Erinnerungen an sein altes Leben auf und wurden dann verweht. Mittlerweile fand er es fast unmöglich, sich Bilder und Geräusche ins Gedächtnis zu rufen. Dennoch ließ ihn etwas aus seiner Vergangenheit weiterwandern.

Sein Ziel war der Ort, an dem sich Wasser bis zum Horizont erstreckte. Die Erinnerung an jenen Anblick suchte ihn heim, rief nach ihm. Er hatte vergessen, wie die Menschen es früher genannt hatten, aber von seinen Sprüngen erinnerte er sich daran, wie kalt und dunkel es aussah. Das schien vor einer Ewigkeit gewesen zu sein. Andererseits galt das Gleiche für seine Wanderung durch die Ödnis. Wie lange reiste er schon, seit er den Hades verlassen hatte? Vier Jahre? Oder waren es bereits fünf? Konnte es noch länger sein?

Blitze bohrten sich in der Ferne in den Boden, versengten die vernarbte Erde. Der dazugehörige Donnerschlag brachte sein Visier zum Vibrieren. Das darauffolgende Geheul ließ ihn mitten im Schritt erstarren. Miles blieb ebenfalls stehen und stellte im Helm die Ohren auf.

Das Kreischen des Windes klang genau wie die Monster – eine schrille Sirene, die Gefahr und Tod auf schnellen Flügeln ankündigte. Ein Geräusch, das X nie vergessen würde, ein Geräusch, das ihn immer das abgewetzte Gewehr anheben und auf die verstrahlte Landschaft richten ließ. Er suchte nach den Schemen der Sirenen, entdeckte jedoch nichts.

Die kalten Finger des Windes schlängelten sich durch die Löcher in seinen abgetretenen Stiefeln und in seiner Kleidung. Ein weiterer Windstoß fuhr ihm in die Seite. Der Kies und der Staub sammelten sich in Schichten unter seinem Anzug und seiner Körperpanzerung. Ganz gleich was er versuchte, er schien den Dreck einfach nicht draußen halten zu können.

Er schlang sich den Riemen seines Gewehrs über den Rücken und drückte das lose Klebeband nieder, das um sein Handgelenk flatterte. Es hatte sich gelöst und seine dunkle Haut ungeschützt der Luft entblößt. X betrachtete sein Fleisch, als sähe er es zum ersten Mal. Der Dreck verkrustete seinen gesamten Körper wie eine zusätzliche Hautschicht. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er sich zuletzt sauber gefühlt hatte, doch er hatte längst aufgehört, sich daran zu stören. Es zählte nur, sich die Strahlung vom Leib zu halten.

X füllte sich die Lunge mit einem tiefen Atemzug gefilterter Luft. Manchmal vergaß er, wie erschöpft er davon war, ständig von Stadt zu Stadt zu wandern und in alten Gebäuden alles zu plündern, was er zum Überleben brauchen konnte, während er nach dem Ozean suchte.

So haben es die Menschen genannt, ging es ihm durch den Kopf. Ozean.

Er band eine Schnur um sein Handgelenk, um das Klebeband zu fixieren, dann griff er nach dem Gewehr. Es verfing sich an seinem riesigen Rucksack, der alles enthielt, was er besaß, von der Wasserreinigungsvorrichtung, in die er jeden Abend pinkelte, bis hin zu den Blöcken kalorienreicher, synthetischer Nahrung, die ihm und dem Hund die nötige Energie lieferte, um weiterzumachen.

Das Gewicht des Rucksacks lastete schwer auf seinen Schultern, allerdings nicht annähernd so schwer wie das Wissen, dass er den letzten Menschen auf der Erde verkörperte.

Er kämpfte sich vorwärts, zwang seine Beine, ihn einige weitere Schritte zu tragen. Bleib in Bewegung. Sein Blick schnellte zurück zu den Sturmwolken, die elektrische Entladungen ausspien. Die grellsten Ranken schossen zur Erde herab und schlugen im Westen in den Boden ein. Ein weiterer Blitz fuhr weiter im Osten in die Erde. In den Abständen dazwischen erschien ein seltsam geformtes Licht über der Kuppel der Wolken, wie eine Glühbirne, die von einer versiegenden Energiequelle gespeist wird.

Das waren keine Blitze.

Ein Gefühl von Ehrfurcht überkam ihn, als er die Strahlen betrachtete. Wo er das blaue Restlicht von Blitzen erwartete, sah er einen warmen, orangefarbenen Schimmer.

»Das kann nicht sein«, murmelte er.

Miles legte bei dem neuen, ungewöhnlichen Anblick den behelmten Kopf schief.

Bis X verarbeitete, dass es sich tatsächlich um die Sonne handelte, hatten Wolken den warmen Schein wieder verschluckt. Er hatte die Sonne so lange nicht mehr gesehen, dass er völlig vergessen hatte, wie wunderschön sie war.

X blies die Luft aus, als er bemerkte, dass er unterbewusst den Atem angehalten hatte. Etwas aus der Vergangenheit zu sehen, half ihm manchmal, sich an andere Dinge zu erinnern. Er schloss die Augen und versuchte, sich die schnittigen, käferähnlichen Konturen des Luftschiffes vorzustellen, das er einst als Zuhause betrachtet hatte. Als Nächstes rief er sich dessen Inneres ins Gedächtnis. Vor seinem geistigen Auge sah er die Umrisse von Bewohnern, die durch die schmalen Gänge liefen. Wie jedes andere Mal, wenn er sich zu erinnern versuchte, besaßen diese Menschen keine Gesichter.

Er kramte sein Tagebuch und einen Stift heraus, bereitete sich vor, um alles aufzuschreiben, was ihm einfiel. Aber das gedankliche Bild hatte sich bereits wieder verflüchtigt.

Ein neuer Blitz fuhr nicht weit vor ihm in die Erde und sträubte ihm die Nackenhaare, dann setzte Regen ein und prasselte auf seinen Körper. Rasch verstaute er das kostbare Buch und den Stift wieder in ihrer wasserdichten Hülle und steckte sie zurück in seine Weste. Anschließend hob er sich das Zielfernrohr seines Gewehrs ans Visier und schwenkte die Mündung langsam über die Landschaft, hielt Ausschau nach einem Unterstand.

Viel gab es hier draußen nicht, nur vereinzelte Stämme abgestorbener Bäume oder Mauerreste einiger, vor langer Zeit zerstörter Gebäude. Im Osten bemerkte er Ansammlungen von rotem giftigem Unkraut. Hinter dem Feld jener Pflanzen, die in dem radioaktiven Umfeld gediehen, schützte ein felsiger Hügel die Ziegelsteingrundmauern einer alten Gemeinde.

Würde reichen müssen.

X ließ das Zielfernrohr in dem Moment sinken, als eine Bewegung aufblitzte und etwas zwischen den Grundmauern hervorhuschte und in einem Loch im Boden verschwand.

Über ihm rankte sich ein Blitz über den Himmel, aber X zuckte mit keiner Wimper. Sein Blick blieb auf einen einzigen Punkt fixiert. Hier draußen konnte eine Bewegung von einem Staubsturm bis hin zu einem mutierten Monster alles Mögliche sein. Die meisten Bestien ernährten sich von Pflanzen, aber auch sie würden sich mit Freuden seinen Hund oder ihn zu Gemüte führen, wenn sie ihnen zu nahe kämen.

Donner grollte am Himmel wie eine weitere Warnung. X hob den linken Arm und überprüfte die Strahlungswerte auf der Messanzeige, die wie eine überdimensionierte Uhr aussah. Die Strahlung in diesem Gebiet erwies sich als minimal.

Dann suchte X erneut den Himmel auf Anzeichen der Sirenen ab. Er hatte schon länger keine der geflügelten Monster mehr gesehen, dennoch wurde er nie unachtsam, blieb sich der Bedrohung durch sie stets bewusst und lauschte auf ihr widernatürliches Geheul.

»Komm mit, Junge«, sagte X schließlich.

Er ließ die Nachtsichtoptik ausgeschaltet, um die Batterie zu schonen, und knipste stattdessen die Taschenlampe an, richtete den hellen Strahl auf das Erdreich rechts der Straße. Er orientierte sich an dem Licht und verfiel an der Seite seines einzigen Freundes auf der Welt in Laufschritt. Wohin er auch blickte, verunstalteten Risse und Löcher die Landschaft wie einen verstümmelten Körper.

X entfernte sich nicht gern von der Fernstraße. Es war sicherer, ihr zu folgen. Die Fernstraße bewegte sich nicht. Zumindest das schien auf der verfluchten Erde konstant zu bleiben.

Ein Käfer der halben Größe von Miles streckte zwei faserige Fühler aus einer Höhle im Erdreich. X verlangsamte die Schritte und beobachtete, wie der schwarz gepanzerte Rumpf zum Vorschein kam. Als der Käfer loskrabbelte, waberten die Fühler hin und her. Wie so viele Kreaturen auf der Erdoberfläche besaß auch dieses Geschöpf keine Augen.

Wieder wurde X an das Luftschiff am Himmel erinnert. Aber auch an all die Kreaturen, die unter der Erde lebten, vom Ödland bis hin zu der Wüste, die er einst durchquert hatte. Schlangen, groß genug, um einen Menschen zu verschlingen, jagten zwischen den Dünen, gruben mit ihren schuppigen, gepanzerten Körpern Tunnel durch den Sand. Seine erste Begegnung mit ihnen hätte ihn um ein Haar das Leben gekostet.

Die Insekten erwiesen sich in der Regel als harmlos, trotzdem wollte er kein Risiko eingehen. Er trat die Kreatur mit dem Stiefel beiseite. Hastig wieselte sie davon und suchte sich ein Versteck.

X setzte den Weg fort, ließ weiter den Blick über die Risse und Löcher im Boden wandern. Ihm bereitete weniger Sorgen, dass etwas aus der Erde gekrochen kommen könnte, sondern vielmehr die Gefahr, in eine Ritze zu stolpern und sich das Fußgelenk zu brechen. Das wäre schlimm. Und manchmal beherbergten die Löcher größere Kreaturen als Insekten. Das wäre noch schlimmer.

Wenigstens erwies sich der Boden hier als solide. Über Sand zu marschieren, war eine Erfahrung, die X niemals wiederholen wollte.

»Bleib dicht bei mir, Junge«, sagte er zu Miles.

Der felsige Hügel wurde größer, als sie sich ihm näherten. Es handelte sich um eine natürliche Formation, nicht um einen Haufen Schutt oder Geröll von einem zerstörten Gebäude. Besser noch, X erkannte einen Überhang, der Miles und ihn vor dem Wind und dem Regen schützen würde.

Er lief schneller, konnte es kaum erwarten, seine Ausrüstung auszupacken und ein Feuer anzuzünden. Im Westen durchzuckten knisternde Blitze den Himmel, auf die ein Blinzeln danach Donnerschläge folgten. Das Feld der giftigen Pflanzen zog sich in dem plötzlichen Regenguss zurück, schlängelte sich in Löcher in der Erde.

Die Tropfen prasselten auf X’ Visier und liefen über die dicke Scheibe hinab. Er schaltete die Taschenlampe aus und die Nachtsichtoptik wieder ein, als er sich dem Hügel näherte. Miles blieb stehen, allerdings nicht, weil das Licht erloschen war. Im Gegensatz zu X war der Hund gentechnisch so modifiziert worden, dass er in beinahe völliger Finsternis sehen konnte.

»Was ist?«, fragte X und hob das Gewehr an.

Einige Augenblicke lang standen sie schweigend da, während der verseuchte Regen auf ihre Strahlenschutzanzüge einprasselte. Schließlich trottete der Hund weiter, und X ließ das Gewehr sinken, bevor er ihm vorsichtig folgte.

Reste von Grundmauern aus Ziegelstein verliefen 60 Meter weit vor ihm. Die Felserhebung ragte dahinter drei oder vier Stockwerke hoch in den Himmel. X schabte mit der Seite des Stiefels Schlamm vom Boden einer alten Straße, die durch das Gelände verlief. Straßen waren generell gut. Nicht alle ganz so gut wie die Fernstraße, aber allgemein spielten Straßen den Augen keine Streiche, wie es der Erdboden manchmal tat.

Derselbe Erdboden, aus dem in verschiedenen Winkeln schief stehende Masten ragten wie achtlos fallen gelassene Pfeile. Vor Hunderten von Jahren hatten sie der Stromversorgung dieser kleinen Gemeinde gedient, wenngleich die Kabel längst verschwunden waren.

X bahnte sich den Weg durch die nasse, verwüstete Siedlung und fragte sich, ob dieser Ort die ursprünglichen Bomben überlebt hatte, von denen der Großteil der alten Welt zerstört worden war. Er blieb stehen und bückte sich, um etwas zu betrachten, das aus dem Boden lugte. Er wischte die Erde von den skelettierten Überresten einer menschlichen Hand ab. X zog einen Ring von einem der Finger und untersuchte ihn kurz mit der Taschenlampe, bevor er ihn sich für später in die Tasche steckte. Anschließend bedeckte er das flache Grab mit frischer Erde, die sich rasch in Schlamm verwandelte.

Nachdem er sich aufgerichtet hatte, ließ er den Blick erneut über die Umgebung wandern und hielt Ausschau nach dem Loch, in das er etwas huschen gesehen hatte. Jene Kreatur war größer als ein Käfer gewesen, und X hatte nicht viel für Überraschungen übrig. Er brauchte ein paar Sekunden, um das Loch zu sichten. X gab Miles ein Zeichen, dann richtete er das Gewehr auf die Öffnung, als er sich ihr näherte. Dabei lauschte er auf das elektronisch klingende Geheul der Sirenen, hörte aber nur das Grollen des Donners. Etwa 30 Meter entfernt blieb er stehen und hob die Hand.

Der Hund setzte sich auf die Hinterbeine und wartete auf Befehle.

X fasste in die hintere Tasche und holte eine alte Blechbüchse mit Münzen heraus, die er im Verlauf seiner Reise durch das Ödland gesammelt hatte. Er warf den Ring zu den Münzen in die Büchse und schraubte den Deckel zu. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass die dünne, oben befestigte Schnur fest genug hielt, warf er die Büchse. Sie verschwand in dem Loch und klapperte auf dem Weg nach unten.

Als sich die Schnur in seiner Hand straffte, begann er, die Büchse nach oben zurückzuziehen. Ein anderes Geräusch antwortete auf das klappernde Metall. Es begann als Krächzen, schwoll jedoch zu einem hohen Quietschen an.

X zog an der Schnur, bis die Büchse wieder auftauchte. Sie schepperte über den Boden, als er sie einige weitere Meter einholte. X hob das Gewehr an und zielte auf den Rand des Lochs, wartete darauf, dass sein Köder herauslockte, was immer sich unter der Erde versteckte.

Er konnte hören, wie die Klauen der Kreatur auf dem Weg zur Erdoberfläche über Felsgestein kratzten. Das war kein Käfer. Miles zog den Schwanz zwischen die Beine, X jedoch verharrte unerschütterlich und ließ den Lauf des Gewehrs auf die Öffnung gerichtet.

Ein unförmiger Schädel mit einem Irokesen aus dornigen Hauterhebungen tauchte aus dem Loch auf und richtete den Blick eines Paars blutunterlaufener Augen auf die Büchse. Das Wesen schnüffelte mit kaum mehr als zwei Löchern mitten im Gesicht, die als Nase dienten. Dann sah es X finster an. Der Regen, der auf die wahnsinnig wirkenden Augäpfel prasselte, schien die Kreatur ebenso wenig zu beeindrucken wie der Anblick eines Menschen.

Das Geschöpf hievte sich mit zwei langen Armen aus dem Erdloch, bedeckt von gehärteten Schuppen, die wie eine Art organischer Panzer anmuteten. Die erhöhten Platten erstreckten sich über den ganzen Körper, über breite Schultern, einen drahtigen Rumpf und mächtige Hinterbeine.

X hatte noch nie eines dieser Wesen gesehen. Da er keine kostbaren Patronen vergeuden wollte, musterte er die Kreatur, suchte sie nach Schwachstellen ab. Auf allen vieren wölbte sie einen von Erhebungen und mehreren Finnen gesäumten Rücken durch. Am Hals öffnete und schloss sich beim Atmen ein Kragen aus dickerer Panzerung wie eine Lüftungsöffnung.

Miles knurrte warnend, und X zielte auf die kiemenartigen Teile. Die Kreatur sah ihn mit schief gelegtem Kopf an, als er den Abzug drückte. Das Projektil schnellte in das weiche Fleisch an der Öffnung des Kragens und trat mit einem Aufspritzen von Körperflüssigkeiten aus, die den regennassen Boden verfärbten. Das Blut sah grün aus, andererseits galt das in der Ansicht durch die Nachtsichtoptik für so ziemlich alles.

Die Kreatur brachte keinen Aufschrei zustande, klatschte nur geräuschlos auf den Boden, als sie an ihrem eigenen Blut erstickte. X ließ das Gewehr sinken und zog sein Messer. Als er das abscheulich anzusehende Geschöpf erreichte, war es bereits tot.

Er schaute zu seinem Hund. »Meinst du, es schmeckt gut?«

Miles trabte herbei, schnupperte durch den Luftfilter um seine Schnauze daran und trottete desinteressiert wieder davon.

»Ja, ich auch nicht«, murmelte X. Er stieß den Kadaver zurück in das Loch und richtete das Gewehr in die grünstichige Dunkelheit. Wenige Sekunden später schlug das echsenartige Monster unten auf. Ein dumpfes Klatschen und ein Knirschen drangen aus der Tiefe. Als das Geräusch verhallt war, befanden sich der Mann und der Hund wieder allein im Regenguss.

X senkte die Waffe und ging in den Schutz des Felsüberhangs, wo er den Rucksack abnahm und auf den Boden stellte. Er überprüfte erneut die Strahlenmessung. Als er sah, dass die Werte nach wie vor im grünen Bereich lagen, zog er sich den Helm vom Kopf. Dann bückte er sich und entfernte auch Miles’ Helm. Als Nächstes griff er sich die drei 30 Zentimeter langen Pflöcke, die er seitlich an seinem Rucksack befestigt hatte, und reichte einen davon dem Hund.

Miles klemmte sich den Pflock ins Maul und trabte hinaus in den strömenden Regen. X folgte ihm mit den anderen zwei Pflöcken. Sie arbeiteten dabei zusammen, die Pflöcke an drei verschiedenen Stellen in die Erde zu rammen und so ein Dreieck um ihr Lager zu bilden. Als sie fertig waren, hob X den Handgelenkscomputer und aktivierte das Netzwerk. Falls sich irgendetwas in den Bereich zu schleichen versuchte, würde ein Alarmsignal in seinem HUD angezeigt und ein Piepton in seinem Helm ausgegeben werden.

Er überprüfte die Daten auf dem Display an seinem Handgelenk. Als alles gut aussah, kehrte er zu seinem Rucksack zurück und holte einen Topf aus Metall hervor. Als Nächstes stellte er den Minikocher auf dem Boden auf und entzündete die von einer langlebigen Brennstoffzelle befeuerte Flamme.

X trat unter dem Überhang hervor, stellte den Topf auf den Boden, schüttelte den einklappbaren Auffangtrichter aus und brachte ihn auf dem Topf an. Regenwasser sickerte in das breite, kegelförmige Gebilde. Innerhalb von Minuten war der Topf gefüllt. X trug ihn zurück zum Kocher und stellte ihn über die Flamme. Er ließ eine Tablette in den Topf fallen, die das Wasser von Strahlung befreien und etwaige Schadstoffe abtöten würde, die das Kochen überlebten. Zwar gingen ihm die kostbaren Tabletten allmählich aus, aber Miles und er mussten essen.

Zuletzt kramte er einen Block synthetischer Nahrung aus dem Rucksack hervor. Mit dem Messer schnitt er einen Brocken von dem Riegel ab und warf ihn ins Wasser. Der braune Klumpen weitete sich zu etwas, das wie ein Schlangennest aussah. Wenige Minuten später hatten sie einen Topf voll Nudeln und Brühe.

X ließ die schmerzenden Knochen auf einem glatten Stein nieder. Er wartete, bis der Inhalt des Topfs abkühlte, dann fasste er mit den behandschuhten Fingern hinein.

X holte einen Batzen heraus und gab ihn Miles, der ihn hinunterschlang, ohne zu kauen.

Während der Hund die blauen Augen auf ihn geheftet ließ, hob sich X selbst Nudeln an die Lippen und schlürfte sie hinunter. Eine Erinnerung blitzte aus seinem Gedächtnis auf. Er befand sich in seiner alten Unterkunft an Bord des Luftschiffes, das er früher als Zuhause bezeichnet hatte, und teilte sich eine Mahlzeit mit einem Jungen, der einen Stanniolhut trug. Der Sohn seines besten Freundes. Aaron, erinnerte er sich. Aaron Everhart und sein Sohn Michael Everhart.

In der Erinnerung beobachtete X, wie Michael, der den Spitznamen »Stan« hatte, einen Teller voll Essen verschlang. Aber wie bei den meisten Erinnerungen sah er die Züge des Jungen verschwommen wie über einen kaputten Videobildschirm.

X holte sein Tagebuch heraus und schrieb sie trotzdem auf. Wie all die anderen verblasste sie rasch, doch diesmal gelang es ihm, sie auf Papier festzuhalten.

Eine neue Erinnerung tauchte auf, als er die erste gerade zu Ende niederschrieb. Es handelte sich um den Augenblick, in dem ihm Stan einen Zettel gereicht hatte, kurz vor dem letzten Sprung, bei dem X auf der Erdoberfläche gestrandet war.

Stell dich deiner Zukunft

X zuckte zusammen. Die Narben an seinem Körper erstreckten sich über müde Muskeln.

»Ohne Angst«, hauchte er beim Ausatmen, womit er das Zitat vollendete, während er es in sein Tagebuch schrieb.

Gelegenheiten wie diese, bei denen er sich erinnern konnte, was jemand gesagt hatte oder welche Worte auf einem Stück Papier gestanden hatten, waren selten. So selten, dass X gar nicht mehr wusste, wann er zuletzt eine derart lebhafte Erinnerung gehabt hatte.

Ein Geflecht von Blitzen erstreckte sich in der Ferne über den Himmel, und eine dritte Erinnerung bahnte sich den Weg aus seinem Gedächtnis. Sie fiel ihm ohne Probleme ein, denn sie suchte ihn häufig heim, wenn er in dieser vermaledeiten Ödnis einzuschlafen versuchte. Er spürte förmlich, wie er mit den um sich geschlungenen ledrigen Flügeln einer Sirene durch die Wolken fiel. X sah vor sich blaue Batterieeinheiten – und das schlagende Herz eines Hell Divers. Drei verschwommene Gesichter blickten auf ihn herab – Springerkameraden, darunter die Frau, die er einst geliebt hatte –, als sie zur Hive aufstiegen, während er zurück in die Hölle fiel.

Das war keine Erinnerung, die er in seinem Tagebuch haben wollte.

X knurrte, als die Bilder verblassten wie das Restlicht eines Blitzes. Er steckte das Buch zurück in dessen Hülle und beendete sein Abendessen. Dann breitete er die unten an seinem Rucksack angebrachte Decke aus. Miles rollte sich neben ihm ein.

»Gute Nacht, Junge«, sagte X. Er griff nach seinem Helm und zog ihn herüber zur Decke. Dabei erhaschte er einen flüchtigen Blick auf seine Reflexion im verspiegelten Visier. Das flackernde Feuer erhellte ein Gesicht, das er beinah nicht wiedererkannte.

Einen Fremden, einen Geist.

X hob die behandschuhten Finger zu dem dichten, ergrauenden Bart über der kantigen Kieferpartie. Mit einem Finger fuhr er eine Narbe nach, die eine Schlucht über die rechte Wange nach oben und durch die Augenbraue bildete. Dunkle, von Krähenfüßen umrandete Augen starrten ihn an. Die Regenbogenhäute wurden beinah von den unergründlichen schwarzen Pupillen verdrängt.

Er legte den Helm beiseite, weil er es nicht ertragen konnte, sich noch länger anzusehen. Mit schmerzenden Knochen ächzte er, als er den Kopf auf die Decke bettete. Der Schein des Feuers füllte die Ritzen des Felsüberhangs aus. Draußen vor dem Unterschlupf prasselte weiter der Regen herab. Das Geräusch wirkte beruhigend, und X kämpfte nicht gegen den Anflug von Erschöpfung an, der über ihm zusammenschwappte.

Minuten später schlief er und träumte von Ereignissen und Menschen aus seiner Vergangenheit. Aber nicht einmal in den Träumen konnte er sich an Gesichter oder an Stimmen erinnern. Wie die Wirklichkeit blieben die Träume größtenteils bruchstückhaft.

Ein Piepton drang darin ein. Jäh schlug X in der Dunkelheit die Augen auf, als ihn der Alarm schlagartig weckte. Zu seiner Linken erspähte er eine Silhouette. Miles stand knurrend da und starrte aus ihrem Schutzkreis.

X tastete nach seinem Helm und verfluchte sich für seine Dummheit. Er hatte vergessen, ihn wieder aufzusetzen, bevor er eingeschlafen war. Kaum hatte er ihn sich über den Kopf gestülpt, erblickte er mehrere Kontakte auf der Minikarte rechts oben auf seinem HUD. Sie hatten den Alarm ausgelöst.

Fluchend schnappte er sich sein Gewehr und legte es in Richtung der verlassenen Siedlung an, hielt Ausschau nach Zielen. Sein Blick schwenkte von der Karte auf seinem HUD zur grünstichigen Ansicht des Geländes, aber im Regen rührte sich nichts.

Was zum …

Miles knurrte hinter X, doch der Hund schaute nicht in Richtung der Siedlung. Mit wütender Miene und gefletschten Zähnen starrte er stattdessen an die Felswand hinter ihnen.

Langsam hob X das Gewehr in die Richtung an und rechnete halb damit, dass eine Sirene oder irgendeine andere Bestie über den Fels krabbeln würde.

»Was ist denn, Junge?«, flüsterte er. Wieder blickte er auf das HUD. Die Kontakte näherten sich von rechts. Miles knurrte weiter die Felswand an, und X setzte sich langsam, mit dem Gewehr an der Schulter, in Bewegung. Er näherte sich der steilen Wand, um sie zu untersuchen.

Nach einem mahlenden Geräusch kullerte eine kleine Lawine von Kieseln herab. X sog scharf die Luft ein, als plötzlich riesige Augäpfel in der scheinbar soliden Wand blinzelten. Eine Gliedmaße der Größe eines erwachsenen Mannes löste sich direkt aus dem Gestein. Dann erschien ein Brustkorb, gefolgt vom restlichen Körper.

X schluckte schwer und wich zurück, als sich das Ungetüm von der Felswand schälte und fallen ließ. Die Wucht der Landung des über zwei Meter großen Ungetüms erschütterte den Boden. Staub stieb um die Hufe auf.

»Lauf!«, brüllte X.

Miles drehte sich um und rannte los, als die Bestie auf sein Herrchen zustapfte. X hob das Gewehr an und zielte auf die Brust der Kreatur. Drei Projektile durchschlugen die steinartige Panzerung über der Haut und den lebenswichtigen Organen.

Das Felsmonster stimmte ein tiefes Geheul an und hieb mit einem langen Arm nach X. Die gewaltige Pranke traf die Mündung und schlug X die Waffe aus den Händen. Er taumelte rückwärts und streckte die Hand aus, um seine Schrotpistole wie ein Revolverschütze bei einem Duell aus dem Holster zu ziehen.

Er richtete die Mündung auf die Stirn der Kreatur und drückte den Abzug.

Klick.

Sein Herz hämmerte wie wild gegen die Rippen. Auf seinem HUD piepte weiter die Anzeige von Kontakten. In der Umgebung befanden sich noch mehr Monster, die aus dem Winterschlaf erwachten.

Die Kreatur vor X näherte sich einen weiteren Schritt und hob die dicken, muskelbepackten Arme. Die Haut sah haargenau wie verwitterter Stein aus. X wich weiter aus dem Lager zurück. Er klappte den Lademechanismus seiner Schrotpistole auf, dann jedoch entschied er, stattdessen zu flüchten.

Die Bestie verfolgte ihn, riss die Kiefer weit auf und entfesselte Gebrüll wie ein Donnergrollen. Der felsige Untergrund erzitterte erneut, als sich vier weitere Ungetüme zu Boden fallen ließen.

Miles kläffte sie an, dann schaute er zu X, wartete auf Anweisungen. X spähte zu seinem Gewehr und zum Rucksack, der noch an der Wand lehnte. Sie würden später zurückkehren, um die Ausrüstung zu holen.

»Lauf, Miles!«, brüllte er. Dann bedeutete er dem Hund, ihm hinaus in den verseuchten Regen zu folgen. Kämpfen konnten sie an einem anderen Tag.