Louise Bourgeois

Ulf Küster

Verlagslektorat: Regina Dorneich | Verlagsherstellung: Christine Emter | E-Book-Produktion: LVD GmbH, Berlin | © 2012 Hatje Cantz Verlag, Ostfildern, und Ulf Küster; für die abgebildeten Werke von Francis Bacon: The Estate of Francis Bacon / VG Bild-Kunst, Bonn; von Louise Bourgeois: Louise Bourgeois Trust, New York / VG Bild-Kunst, Bonn; von Alberto Giacometti: Fondation Giacometti / VG Bild-Kunst, Bonn; von Fernand Léger: VG Bild-Kunst, Bonn; von Barnett Newman: VG Bild-Kunst, Bonn; von Pablo Picasso: Succession Picasso / VG Bild-Kunst, Bonn; sowie bei den Künstlern oder ihren Rechtsnachfolgern | Erschienen im Hatje Cantz Verlag, Zeppelinstraße 32, 73760 Ostfildern, Deutschland / Germany, Tel. +49 711 4405-200, Fax +49 711 4405-220, www.hatjecantz.de | ISBN 978-3-7757-3311-3 (E-Book, deutsch) | ISBN 978-3-7757-3151-5 (Print, deutsch) | ISBN 978-3-7757-3312-0 (E-Book, englisch) | ISBN 978-3-7757-3227-7 (Print, englisch) | Made in Germany | Umschlagabbildung: Louise Bourgeois 1967 in Carrara, ihr Werk Germinal, 1967, betrachtend | Frontispiz: Alex Van Gerlder, Louise Bourgeois, 2009 | Für externe Links können wir keine Haftung übernehmen. Die Inhalte der verlinkten Seiten sind ausschließlich von deren Betreiber zu verantworten.

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1Louise Bourgeois, 2009 (Foto: Alex Van Gelder)

Louise Bourgeois

Von Ulf Küster

Für A.
Dieses Buch ist der Erinnerung an meine Großmütter Gertrud und Maria gewidmet.

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3Ausstellungsansicht Fondation Beyeler, September 2011

Louise Bourgeois, Maman, 1999, Bronze mit Silbernitratpatina, rostfreier Stahl, Marmor, 927,1 × 891,5 × 1023,6 cm, Collection The Easton Foundation, Courtesy Hauser & Wirth und Cheim & Read

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6Ausstellungsansicht Fondation Beyeler, September 2011

Paul Cézanne, Sous bois (Chemin du Mas Jolie au Château Noir), 1900–1902, Öl auf Leinwand, 79,8 × 64,6 cm, Fondation Beyeler, Riehen / Basel

Louise Bourgeois, Memling Dawn, 1951, bemaltes Holz und rostfreier Stahl, 170,8 × 38,1 × 38,1 cm, Privatsammlung, Courtesy Cheim & Read

Eine Fotografie, die Louise im Keller ihres Hauses in New York zeigt, gibt einen Hinweis auf eine andere Bedeutung von The Blind Leading the Blind: Sie steht hinter oder sogar unter einer heute in abgewandelter Form im Institute of Arts in Detroit befindlichen Version des Werks und blickt den Betrachter an. Dabei wird klar, dass die Holzkeile etwa dieselbe Größe haben wie Louise Bourgeois. Ist das Objekt eine Art Selbstporträt?

Paulo Herkenhoff hat The Blind Leading the Blind mit Louise Bourgeois’ Freundschaft zum Architekten Le Corbusier in Verbindung gebracht, die in den 1940er- und 1950er-Jahren recht intensiv war. Le Corbusier hatte ihr eine Zeichnung seines Modulors geschickt, das Idealmaß eines Menschen, nach dem er seine architektonischen Entwürfe erarbeitete. Allerdings sah Bourgeois ihre Körpergröße nicht als Idealmaß; es ging ihr wohl eher um die Perspektive, aus der sie ihre Erfahrungen darstellen konnte. Ebenfalls angeregt durch Le Corbusier scheint die Idee der Holzkeile zu sein, die zwar selbst eine Struktur bilden, aber auch etwas wie Pfähle tragen; Pfähle, die wie ein Baufundament sind.45

Welche Erfahrung sie darstellen wollte, hat sie im Gespräch mit Donald Kuspit so erklärt: Sie habe das sehr verstörende Gefühl zeigen wollen, das sie hatte, wenn sie sich als Kind mit ihrem Schützling, ihrem Bruder, unter dem Esstisch verbarg und die Beine ihrer Eltern beobachtete, die den Tisch deckten:

»Was machen sie? Was ist ihr Spiel? Was ihre Absicht? Was habe ich mit ihnen zu tun? Schließlich dachte ich, dass sie nicht freundlich waren. Ich entschied, dass die Außenwelt nicht freundlich war. Und ich hatte Angst, einfach Angst [...]. Ich kurierte diese Verwirrung, indem ich versuchte zu verstehen, wie man Menschen manipuliert – schließlich, wie man Leute manipuliert, damit sie einen mögen. Ich musste daraus ein Objekt machen, um dieses Problem physisch erfahrbar zu machen.«46

Nun ist auch zu verstehen, warum sie sich auf der Fotografie eigentlich unter ihrer Skulptur zeigt, die also eine Art Wiedererschaffung des Tisches sein soll, mit den Tischbeinen und den Beinen der Eltern, deren Absichten und Richtung sie zwar nicht kennt, die aber sie, Louise, für sich in eine Ordnung gebracht hat, womit die geschilderte Angst vielleicht nicht gelöst, aber doch im Zaum gehalten ist. Dass ihre Arbeiten diesen spielerischen Aspekt haben und etwas bannen können oder, wie sie wiederholt betont hat, Exorzismen sind, sollte man bei der Betrachtung von ihnen immer bedenken.

Der Titel, übersetzt »Die Blinden führen die Blinden«, ist eine Anspielung auf ein Gleichnis Jesu, das im Matthäus-Evangelium, Kapitel 15, Vers 14, wiedergegeben wird: Jesus bezeichnet darin die ihn kritisierenden Pharisäer als »blinde Blindenleiter«. Wenn ein Blinder einen anderen leitete, würden beide in die Grube fallen. Die berühmteste Darstellung dieses Gleichnisses in der Kunstgeschichte ist Pieter Breughels d. Ä. Gemälde von 1568 im Museum Capodimonte in Neapel. Louise Bourgeois kannte es gut; 2008 wurde ihre »Blindenleiterskulptur« an Ort und Stelle mit Breughels Bild konfrontiert.

Blinde scheinen orientierungslos, weil sie sich in der Außenwelt nicht zurechtfinden; oft sind selbst Sehende blind, weil sie etwas nicht verstehen, und Blinde sehen nicht nur nichts: Sehen sie vielleicht das Nichts? Und scheinen abstrakte Bilder nicht eigentlich Bilder vom Nichts zu sein? Pictures of Nothing ist der provozierende Titel eines Buches von Kirk Varnedoe über die abstrakte Kunst seit Pollock, wobei er sich auf die von William Hazlitt überlieferte Anekdote bezog, in der ein Betrachter im Anblick eines Bildes von Turner ausgerufen haben soll, das sei ja ein »Bild von Nichts«.47 Hat der Titel von Louise Bourgeois’ berühmter Skulptur etwas mit der Rezeption ihrer Kunst oder der abstrakten Kunst allgemein zu tun?

Es gibt keine endgültige Deutung: In solch einem Werk scheinen die unterschiedlichsten Erinnerungssplitter und tiefliegendsten Erfahrungen verdichtet zu sein. Übrigens: Fast beiläufig wird im Film The Spider, the Mistress and the Tangerine von 2008 über Bourgeois ein kurzer Ausschnitt mit Aufnahmen durch Giftgas erblindeter Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg gezeigt, die wie die Blinden auf Breughels Gemälde sich einander an Stöcken halten und langsam fortbewegen. Ein Hinweis auf das Trauma dieses Krieges, der mit den täglich sichtbaren Folgen, den vielen körperlich und seelisch Verletzten, Louises Kinderjahre prägte.

Louise Bourgeois hat ihr Objekt The Blind Leading the Blind zwar immer weiterentwickelt und verschiedene Versionen davon hergestellt; trotzdem scheint dieses Werk das einzige seiner Art in ihrem Œuvre zu sein.

Überhaupt fallen die enorme Vielgestaltigkeit, die vielen unterschiedlichen Materialien und Ausdrucksformen auf, wenn man ihre künstlerische Produktion in ihrer Gesamtheit betrachtet. Woran liegt das? Sicherlich zum einen daran, dass sie das Gefühl hatte, immer dann etwas Neues ausprobieren zu müssen, wenn sie eine für sich schlüssige Lösung für ein künstlerisches Problem gefunden hatte oder wenn sie der Meinung war, dass der von ihr angestrebte »Exorzismus« durch das vollendete Kunstwerk funktioniert hatte. Zum anderen hatte sie, da sie lange Jahre überhaupt nicht oder nur wenig von der Kunstwelt beachtet wurde, keine besonderen Erwartungen des Publikums, der Sammler oder der Galerien zu erfüllen. Wahrscheinlich hat sich das Arbeiten in der Vergessenheit, trotz der damit verbundenen Selbstzweifel und der fehlenden Anerkennung, auf lange Sicht auf ihr Œuvre positiv ausgewirkt. Der Gefahr, sich zu oft zu wiederholen, der viele ihrer Zeitgenossen und Teilnehmer der Artists Session von 1950 erlagen, hat sie erfolgreich widerstanden.

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15Ausstellungsansicht Fondation Beyeler, September 2011

Louise Bourgeois, Janus fleuri, 1968, Bronze mit Goldpatina, 25,7 × 31,8 × 21,3 cm, Privatsammlung

Louise Bourgeois, Femme Couteau, 1982, rosafarbener Marmor, 6,9 × 38,7 × 10,1 cm, Collection Ellen Kern, New York

Pablo Picasso, Nu couché jouant avec un chat, 1964, Öl auf Leinwand, 114 × 194,5 cm, Fondation Beyeler, Riehen / Basel

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31Ausstellungsansicht Fondation Beyeler, September 2011

Louise Bourgeois, A l’infini, 2008, 14 Teile, Radierungen, Zeichnungen, Gouache, jedes Blatt ca. 101,6 × 152,4 cm, The Museum of Modern Art, New York; erworben mit Mitteln von Agnes Gund, Marie-Josée und Henry R. Kravis, Marlene Hess und Jim Zirin, Maja Oeri und Hans Bodenmann, Jerry I. Speyer und Katherine G. Farley, 2010

Alberto Giacometti, L’Homme qui marche II, 1960, Bronze, 189 × 26 × 110 cm, Fondation Beyeler, Riehen / Basel

Alberto Giacometti, Grande femme III, 1960, Bronze, 237 × 31 × 54 cm, Fondation Beyeler, Riehen / Basel

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35Louise Bourgois mit Spider IV in ihrem Atelier in Brooklyn, 1996 (Foto: Peter Bellamy)

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12Ausstellungsansicht Fondation Beyeler, September 2011

Barnett Newman, Uriel, 1955, Öl auf Leinwand, 243,8 × 548,6 cm, Privatsammlung, Leihgabe an die Fondation Beyeler Riehen / Basel

Louise Bourgeois, The Blind Leading the Blind, 1947–1949, rot und schwarz bemaltes Holz, 170,4 × 163,5 × 41,2 cm, Privatsammlung

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50Louise Bourgeois mit ihrem Mann Robert Goldwater, den Söhnen Jean-Louis und Alain und den Katzen Champfleurette und Tyger in ihrer Wohnung in der 18. Straße in New York, 1958

Biografie

25. Dezember 1911

Louise wird in Paris geboren. Ihre Eltern Joséphine und Louis Bourgeois betreiben eine Galerie und Restaurierungswerkstatt für historische Tapisserien.

1921–1932

Louise besucht das Lycée Fénelon in Paris. Ihre Schulaus­bildung wird unterbrochen, damit sie ihre kranke Mutter nach Le Cannet in Südfrankreich begleiten kann. An der Sorbonne legt sie das Baccalaureat in Philosophie ab.

1932

Tod der Mutter.

1932–1938

Künstlerische Ausbildung in verschiedenen Akademien in Paris und bei Fernand Léger und anderen.

1938

Louise gründet in einem Teil der Tapisseriengalerie ihres Vaters eine Galerie, um Bücher, Druckgrafik und Gemälde zu verkaufen. Dort trifft sie Robert Goldwater. Sie heiraten in Paris und übersiedeln nach New York.

1939

Adoption des Waisenkindes Michel.

1940

Geburt des Sohnes Jean-Louis.

1941

Geburt des Sohnes Alain.

1945–1953

Bourgeois hat in New York zwei Gemäldeausstellungen, bevor sie sich ganz der Skulptur zuwendet. Sie arbeitet an einer Serie von Holzfiguren, den Personages.

1951

Tod des Vaters. Louise stürzt in eine tiefe Depression.

Ab 1964

Nach einer Pause von über zehn Jahren, stellt Bourgeois wieder häufiger aus.

1973

Tod von Robert Goldwater.

1982

Die Retrospektive im Museum of Modern Art, New York, macht ihr Werk einem größeren Publikum bekannt.

2007–2009

Retrospektive, die in London (Tate Modern), Paris (Centre Pompidou), New York (Guggenheim Museum), Los Angeles (The Museum of Contemporary Art) und Washington (Hirshhorn Museum) gezeigt wird.

31. Mai 2010

Louise Bourgeois stirbt im Alter von 98 Jahren in New York.

Abgekürzt zitierte Literatur

Bourgeois 1998/2000/2001 Louise Bourgeois, Destruction of the Father, Reconstruction of the Father: Schriften und Interviews 1923–2000, hrsg., zusammengest. und mit Beitr. von Marie-Laure Bernadac und Hans-Ulrich Obrist, Zürich 2001 (engl. Ausgabe: Cambridge, Mass. / London 1998, frz. Ausgabe: Paris 2000).

Kuspit 1988 Donald Kuspit, Bourgeois, New York 1988; deutsche Übersetzung erscheint im September 2011:
Donald Kuspit, Ein Gespräch mit Louise Bourgeois, aus dem Englischen von Volker Ellerbeck, Bern 2011.

London 2007 Louise Bourgeois, hrsg. von Frances Morris, Ausst.-Kat. Tate Modern, London, u. a.; London 2007.

Meyer-Thoss 1992 Christiane Meyer-Thoss, Louise Bourgeois. Konstruktionen für den freien Fall, Zürich 1992.