Aus dem Amerikanischen von Marc Tannous

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe I Am Still Alive

erschien 2018 im Verlag Viking Books.

Copyright © 2018 by Kathleen Marshall

Copyright © dieser Ausgabe 2020 by Festa Verlag, Leipzig

Lektorat: Anja Heidböhmer

Titelbild: AdobeStock/Chad & AdobeStock/Volodymyr

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-808-7

www.Festa-Verlag.de

Für die Truppe auf dem Berg

Ich bin allein. Ich habe nicht viel zu essen. Die Temperatur fällt.

Niemand kommt mich holen.

Bald wird es Winter und hier draußen kann man auf so viele Arten sterben. Wenn mich nicht die Kälte erledigt, dann der Hunger. Wenn mich nicht der Hunger erledigt, dann die Kälte. Oder irgendein wildes Tier. Oder diese Männer kommen zurück …

Aber noch bin ich nicht tot und das sollte jemand erfahren. Irgendjemand sollte erfahren, was passiert ist. Deshalb schreibe ich es auf, so gut ich kann. In Bruchstücken, denn auch in meinem Kopf ist alles völlig verworren.

Diese Geschichte hat zwei Anfänge. Einer spielt auf einem Rollfeld in Alaska. Bei dem anderen stehe ich an einem Seeufer, wo der Regen wie Nebel auf mich fällt und das Gebälk der Hütte düster und rot vor sich hin schwelt. Ich erzähle euch beide Geschichten. Was passiert ist, bevor mein Vater starb, und was danach. Und wenn ich fertig bin oder zu müde, um weiterzuschreiben, lasse ich das Notizbuch da zurück, wo die Hütte gestanden hat. Wenn jemand kommt, um nach uns zu sehen, findet er es vielleicht.

Wenn ihr das lest, bin ich wahrscheinlich schon tot. Aber eine Weile habe ich überlebt.

Ich heiße Jess Cooper und noch bin ich am Leben.

Sommer

Davor

Es gab keinen Direktflug in die Stadt in Alaska, wo Dad lebte – von der ich annahm, dass er dort lebte. Den zweiten Flug verbrachte ich damit, ein Bild von ihm zu betrachten. Mom hatte die Fotos weggeworfen, die sie beide gemeinsam zeigten, doch eins von ihm allein hatte sie behalten, nur für mich, und ich hielt es fest in der Hand. Ich hatte Angst, dass ich ihn vielleicht nicht wiedererkennen würde. Oder er mich nicht. Wir hätten direkt aneinander vorbeigehen können, ohne es zu merken.

Auf dem Foto stand er in einem blauen Regenumhang im Wald. Nebel hing in der Luft und sein Atem erzeugte eine dicke Wolke vor den kratzigen Lippen. Er hatte einen Bart, der gestutzt werden musste, und strahlende Augen mit Fältchen an den Rändern, als hätte er kurz vor der Aufnahme gelacht. Bis ich auf das Rollfeld trat und die spärliche Menge der wartenden Menschen begutachtete, hatte ich mir alle Details seines Gesichts eingeprägt.

Er war nicht da. Im Geiste färbte ich seinen Bart grau, entfernte den Bart, verlängerte ihn. Ich glättete die Lachfältchen und fügte die Art von Falten hinzu, die man vom Stirnrunzeln bekommt, weil ich annahm, dass er nicht besonders glücklich sein konnte, nachdem er Frau und Kind verlassen hatte. Was ich auch mit dem Bild in meinem Kopf anstellte, es passte zu keinem der Anwesenden, und bald war jeder, der auf das Flugzeug wartete, von einem meiner Mitreisenden in Beschlag genommen worden.

Die einzige übrig gebliebene Person war ein riesiger Mann in einer bauschigen gelben Jacke, der mich mit zusammengekniffenen Augen direkt anstarrte, sich aber weder bewegte noch winkte oder sonst irgendwas tat. Seine buschigen rotbraunen Haare ragten unter einer Baseballkappe hervor, die früher vielleicht einmal gelb gewesen, mittlerweile aber – abgesehen vom Rand – zu einem grauen Braun verblasst war.

Ich hängte mir die Tasche über die Schulter. Dad musste jemanden geschickt haben, um mich abzuholen, das war alles. Ich ging hinüber und zog dabei den rechten Fuß ein wenig nach. Ich konnte ihn immer noch nicht richtig heben, sodass mein Fußballen über den Boden schleifte. Der Mann beobachtete mein langsames Vorankommen, ohne sich zu rühren.

»Hallo«, grüßte ich beim Näherkommen. Es klang schrill und verkrampft wie ein zwitschernder Vogel. »Ich bin Jess. Hat mein Vater Sie geschickt?«

»Jess?«, wiederholte der Typ. Er kratzte sich am Bart. »Eigentlich sollte ich Sequoia treffen. Vielleicht bin ich aber auch am falschen Ort.« Er sah hinter mich, als könnte sich dort ein anderes Mädchen verstecken.

»Nein, das bin ich«, erklärte ich. »Jess ist mein zweiter Vorname. Niemand nennt mich Sequoia.«

»Ach so, toll.« Er grinste. Wenn er lächelte, sah er sehr viel weniger einschüchternd aus, trotzdem hätte er meinen ganzen Kopf mit einer Hand umfassen können. »Carl wartet.«

Er drehte sich um und ging los, noch bevor ich mich wirklich daran erinnerte, dass dies der Name meines Vaters war. Carl Green. Nicht Cooper. Mom hatte ihren Namen nicht geändert.

»Also hat er Sie geschickt?«, fragte ich den Rücken des Mannes, während ich mich anstrengte mitzuhalten. Bei einem seiner Schritte brauchte ich drei, und daher konnte ich keine langsamen, behutsamen Schritte mit meinem kaputten Fuß machen, sondern musste mich mit taumelndem Hinken vorwärtswerfen. Was ich eigentlich nicht tun sollte. Will, mein Physiotherapeut, war da sehr deutlich gewesen. Langsam und gleichmäßig, dann würde ich irgendwann fast wieder normal laufen.

»Hmm«, bestätigte der Mann. Als wir den Zaun erreichten, der das kleine Rollfeld vom Parkplatz trennte, schnaufte ich und er blieb stehen. Er drehte sich zu mir um und blinzelte hastig. »Tut mir leid. Ich kann dir die Tasche abnehmen, wenn du willst.«

Ich schüttelte den Kopf, schob die Reisetasche nach vorne und verschränkte meine Arme über ihr. »Ist schon in Ordnung«, erwiderte ich mit zusammengebissenen Zähnen.

Er rieb sich den Nacken mit der Handfläche. »Ich habe vergessen, dass du behindert bist. Ist das das richtige Wort? Behindert? Oder nennt man das anders? Wahrscheinlich anders. Ich glaube, behindert ist falsch. Tut mir leid.«

»Ist schon in Ordnung«, wiederholte ich. Ich wollte diese Unterhaltung nicht führen und war dankbar, als er nickte. Aber als er den Weg fortsetzte, ging er langsam und beobachtete mich aus dem Augenwinkel, sodass ich ziemlich gut mithalten konnte. Ich konzentrierte mich darauf, den Fuß ganz vom Boden zu heben. Wenn ich ihn schleifen ließ, würde ich irgendwann stolpern, und ein Sturz war das Schlimmste, was ich meinen heilenden Muskeln, Sehnen und Knochen antun konnte.

Vor dem Autounfall war mir nicht klar gewesen, wie stark ein Körper zerstört werden kann, und erst in den Monaten danach hatte ich bemerkt, wie unvollkommen er wieder zusammengesetzt worden war. Teile von mir waren für immer geschädigt.

»Ich bin Griff«, bemerkte der Mann unvermittelt auf unserem Weg und mir fiel nichts anderes ein als zu nicken.

Folgendes muss man über Griff wissen:

Er ist wahrscheinlich der netteste Typ, den ich je getroffen habe, auch wenn er etwas seltsam ist. Er sieht aus wie ein Bergschrat, behauptet aber, das wäre nur Tarnung: Bergschrate fressen dich nicht, wenn sie dich für einen der ihren halten, beteuert er. Er erzählt eine Menge solcher Witze, trägt sie aber völlig ausdruckslos vor, sodass man nie weiß, ob es sich dabei um einen Witz handelt oder um eines der seltsamen Dinge, an die er glaubt. Wenn du über das Falsche lachst, sieht er dich mit diesem traurigen Blick an. Er liebt die Farbe Gelb. Jesus ist sein persönlicher Erlöser. Und wenn mich überhaupt jemand holen kommt, dann er.

Aber falls er kommt, dann erst in ein paar Monaten. Und vielleicht auch gar nicht.

Zurzeit denke ich viel an ihn. Er steht auf einer Liste, die mir den ganzen Tag durch den Kopf geht. Mom, Scott, Will, Dad, Griff. Lily. George weniger, denn George ist ein Arschloch. Michelle, Ronnie und dann gehen mir die Leute aus, die ich wirklich gekannt habe, und ich fange an, mir alle möglichen Gesichter ins Gedächtnis zu rufen. Der Kerl, der mir am Tag vor dem Unfall ein Eis brachte. Die Frau an der Tankstelle mit den drei blonden Kindern, die vor ihrem Minivan stand und sich eine Hand auf die Stirn legte, als wäre sie nicht sicher, ob sie wieder einsteigen sollte. Der Pilot auf der ersten Etappe nach Alaska, der Mom kannte und mich ins Cockpit einlud. Da keiner von uns etwas sagte, saßen wir einfach nur da und waren ruhig und traurig, bis ich meinen Platz einnehmen musste.

Ich habe geglaubt, meine Fantasievorstellungen würden sich um Essen drehen, aber bisher sind es Menschen.

Damals hatte ich mehr als nur ein wenig Angst vor Griff. Was nur klug war – ein seltsamer Kerl, der mir sagte, ich solle in sein Auto steigen? Na klar, das war bestimmt ungefährlich! Allerdings habe ich keine andere Möglichkeit gesehen. Ich hatte eine Telefonnummer von meinem Dad, die ich aber bereits während meines Zwischenstopps ausprobiert und unter der ich nur eine Bandansage zu hören bekommen hatte mit der Mitteilung, dass kein Anschluss bestehe.

Vielleicht hätte ich da nach Seattle zurückkehren und dem Sozialarbeiter erklären sollen, dass etwas nicht stimmt und ich nun doch nicht bei meinem Vater leben kann. Aber das habe ich nicht getan. Ich bin nicht umgekehrt, als der Anruf nicht durchgestellt wurde, und auch nicht, als Griff auf mich wartete.

Griffs Auto war ein alter Kombi, wahrscheinlich älter als er. Auf der Rückbank lagen leere Fast-Food-Tüten und Getränkeflaschen, ein Schlafsack, drei Archivboxen, ein kompletter Satz Koffer und zwei Paar Schuhe. Auf dem Beifahrersitz stapelten sich Quittungen, die Griff beim Einsteigen auf den Boden wischte. Ich klemmte mir meine Tasche zwischen die Füße, brachte damit die Quittungen zum Rascheln und schloss die Tür.

»Viel hast du nicht dabei«, stellte Griff fest.

»Ich brauche nicht viel«, entgegnete ich. Der Anwalt, der sich um den Verkauf des Hauses und der Möbel kümmerte, hatte einen Lagerraum für die restlichen Sachen angemietet, über die ich zu jeder Zeit verfügen konnte. Meine Erinnerungen sind sicher verstaut, hatte er betont.

Es klang so, als würde er mir die Erlaubnis erteilen, mich nicht zu erinnern. Ich wollte nicht über mein früheres Leben nachdenken, weil ich es zu sehr geliebt habe. Weil ich Mom zu sehr geliebt habe. So konnte ich alles wegsperren und vergessen, bis alles verheilt war, wie lange das auch dauern mochte. So lange, wie es dauerte, meinem Körper wieder das richtige Gehen beizubringen, dachte ich. Wenn ich einen Schritt machen konnte, ohne darüber nachzudenken, wie ich meinen Fuß heben sollte, würde ich vielleicht nach Seattle zurückkehren und mich erinnern.

Griff redete danach nicht mehr viel. Schweigend fuhren wir eine geraume Zeit, bis mir bewusst wurde, dass wir in der falschen Richtung unterwegs waren.

»Ich dachte, mein Vater wohnt in der Stadt«, bemerkte ich.

»Er hat ein Haus in der Stadt«, bestätigte Griff. »Aber da wohnt er nicht. Du wirst schon sehen.«

»Sollte ich nicht wissen, wohin du mich bringst?«, fragte ich.

»Würde dir nichts sagen«, entgegnete er. »Ich bringe dich zu deinem Vater, nur darauf kommt es an.«

»Na gut.« Ich sah aus dem Fenster. Wir hatten die Ausläufer der Stadt erreicht. Nun standen da nur noch ein paar graue Häuser, denen es unangenehm zu sein schien, die Wildnis zu stören. Die Straße war durchlöchert und rissig und meine Hand wanderte zu meinem Bein. Genau so sah die Haut an meinem rechten Bein aus, nur rot statt grau.

Es hatte Stunden gedauert, alle Glassplitter aus meiner Haut zu entfernen. Weitere Narben hatte ich an der Schulter, am Hals und im Gesicht. Die im Gesicht waren tief und rot, wie Kratzer. Sie brachten die Leute dazu, mich anzustarren.

Mir gefielen sie. Bei Leuten, die mir ins Gesicht starrten, konnte ich zurückstarren. Wenn Leute auf mein Hinkebein starrten, konnte ich nichts dagegen tun.

Irgendwann fing Griff an zu singen. Er klang so schief und nuschelte dabei so stark, dass ich nicht heraushören konnte, was er da sang, aber zu irgendwas wippte er mit dem Kopf und trommelte aufs Lenkrad. Er drückte einen Knopf und die Heizung sprang rasselnd und hustend an, die Reifen knirschten und rumpelten auf der unebenen Straße und auf dem Rücksitz klapperte etwas und hüpfte herum. Und hinter einer Kurve war ein Bär auf der Straße.

Griff ging beiläufig auf die Bremse, fuhr nur ohne anzuhalten langsamer und der Bär verschwand im Wald. Wir schlitterten einfach weiter die Straße entlang.

»Schau, wie er sich verdrüüückt«, freute sich Griff und zog die Silbe dabei mit einem näselnden Akzent so in die Länge, dass ich lachen musste. Er grinste mich an und lachte mit, und dann lachten wir beide, während der graublaue Himmel über unseren Köpfen vorbeiglitt und der Wald um uns dichter, tiefer und wilder wurde. Es war mein erstes Lachen seit dem Unfall und Mamas Tod und es hat sich so angefühlt, als würde ich Kletten aushusten. Es war auch ein gutes Gefühl, obwohl ich das erst später erkannt habe.

»Verdrüüückt«, wiederholte er, und als wir die nächsten 100 Kilometer in Angriff nahmen, waren wir Freunde.

Danach

Ich kann nicht wirklich begreifen, was hier passiert ist. Ich weiß es zwar, aber ich fühle es nicht. Fühle es, aber verstehe nicht, was ich da fühle. Vielleicht hilft es, das genau so aufzuschreiben. Es fühlt sich nicht an wie eine Geschichte, nicht so wie bei dem Davor. Es fühlt sich an, als würde es noch immer passieren. Sodass ich auch jetzt noch am Ufer erwache und sich Rauch und Nebel vermischen, bis ich das eine nicht mehr vom anderen unterscheiden kann.

Es ist Morgen, aber das Sonnenlicht scheint schwach und dünn durch die dicke, graue Wolkenmasse, die so tief hängt, dass sie die gezackten Baumwipfel umhüllt. Nie zuvor sah der Wald so sehr nach Zähnen aus. Nie zuvor schien er sich so weit auszudehnen.

Während die Hütte gebrannt hat, habe ich die ganze Nacht am Ufer geschlafen. Das Feuer ist jetzt aus, aber das Holz glüht noch und verströmt Rauch und Dampf. Ich setze mich auf und mache mich gleichzeitig so klein wie möglich im Regen. Er wird immer stärker, prasselt auf meine Schultern und fällt hinter mir zischend auf den See. Der Lärm ist wie ein Rauschen und übertönt jedes andere Geräusch – eine Art überfüllte Stille, die keinen Raum für Gedanken lässt. Jedes halbwegs vernünftige Lebewesen würde sich im Schutz der dunklen, endlosen Bäume auf den Boden kauern. Den Regen abwarten. Die Kälte abwarten. Noch immer kann ich mich nicht bewegen und nicht klar denken.

Mein Verstand weigert sich, meinen Weg zurückzuverfolgen und weiter in die Vergangenheit zu gehen als bis zu dieser Nacht, bis zum Feuer. Ich weiß nur, dass ich allein bin, dass ich Hunger habe, dass sich die Zunge in meinem Mund wie Sandpapier anfühlt.

Ich richte das Gesicht nach oben und schließe die Augen. Der Regen spritzt auf meine Wangen, meine Augenlider. Du bist am Leben, sage ich mir. Ich werde und kann nicht über die Geschehnisse nachdenken, aber ich weiß, dass es schon ein Wunder an sich ist, noch am Leben zu sein. Bleib es auch!

Aber wie?

Meine Gedanken bewegen sich widerstrebend. Es gibt zu viele Orte, die sie nicht aufsuchen können. Wie Nischen mit brennender Glut, die zu heiß sind, um sich ihnen zu nähern. Der Gedanke an Dad schmerzt mehr als alles andere, aber ich zwinge mich dazu, mich an die Vorstellung von ihm zu klammern, halte ihn in meinem Kopf fest, bis ich das Gefühl habe, dass meine Haut Blasen und Risse von den Qualen bekommt.

Dad würde wissen, was zu tun ist. Irgendwo in meiner vom Rauch vernebelten, zu schmerzhaften Erinnerung muss vergraben sein, was er mir beigebracht hat.

Er hat mir erklärt, die Kälte bringe einen am schnellsten um – also müsse man einen Unterstand bauen. Der Durst bringe einen binnen einem oder zwei Tagen um – also Wasser suchen. Der Hunger brauche einige Zeit, um einen umzubringen, schwäche einen aber – also Nahrung suchen. Um das Feuer solle man sich zuletzt kümmern. Feuer bedeute Wärme, Nahrung und sauberes Wasser, sei aber schwierig und zeitaufwendig, und Menschen würden sterben, weil sie ihre ganze Zeit mit dem Feuermachen verplemperten und dann keine Zeit hätten, Wasser zu suchen oder einen Unterstand zu bauen.

Also zuerst einen Unterstand. Aber die Hütte ist weg. Alles ist weg. Ich habe nichts, ich …

Nein. Moment. Ich habe nicht nichts. Ich habe den Regen. Den Regen, der das Feuer davon abgehalten hat, auf die Bäume überzugreifen, den ich auffangen und trinken kann, ohne ihn abzukochen. (Das Seewasser abkochen geht nicht. Noch nicht, nicht ohne Feuer.)

Ich habe das, was ich anhabe: feste Stiefel, warme Kleidung, einen Regenumhang.

Ich habe all das, was ich vor dem Feuer aus der Hütte geholt habe. Nicht viel – meine Reisetasche und den Rucksack, das Beil, eine Dose Pfirsiche, ein Glas Lachs.

Ich habe das Gewehr und den Bogen mit allen Pfeilen und eine Kiste mit Munition.

Und ich habe Bo. Er ist unten am See, läuft herum und schnüffelt. Manchmal schaut er wartend und beobachtend auf. Wartet er auf Dad? Ich bin mir nicht sicher. Aber ich bin nicht allein, nicht ganz. Bo ist hier.

Niemand kommt mich holen. Uns holen. Wenn ich überleben will, muss ich mich bewegen.

Leichter gesagt als getan.

Mein Körper ist immer noch ein Sammelsurium aus Schmerzen, von den Fußsohlen bis zu meinem pochenden Kopf. Aber besser, als hier mit nichts als verbrannter Vergangenheit zu sitzen und auf den Tod zu warten.

Eins nach dem anderen.

Ich schnappe mir die Reisetasche und krame darin herum, bis ich finde, was ich suche: ein Pillenfläschchen. Ich schüttle es. Fünf Pillen. Ein starkes Schmerzmittel, das von meinem Rezept übrig ist. Ich habe es seit Wochen nicht mehr genommen, aber jetzt schüttle ich eine Tablette heraus und schlucke sie ohne Wasser. Nur eine, obwohl ich mich nach zweien sehne, nach der alles überdeckenden Taubheit, die dafür sorgt, dass mir der Schmerz egal ist, selbst wenn sie den Schmerz nicht dämpft.

Aber es sind nur noch vier übrig und ich muss einen klaren Kopf behalten, deshalb verschließe ich die Flasche und verstaue sie wieder sicher in der Tasche.

Eins nach dem anderen. Und das Nächste ist die Ernährung. Ich schraube den Deckel vom Lachsglas und stecke mir ein fettiges Stück in den Mund. Bo muss es wohl riechen, denn Sekunden später kommt er angesprungen. Die rosa Zunge hängt zwischen seinen Zähnen und sein Atem vernebelt die Luft. Einen halben Meter entfernt bleibt er stehen und leckt sich die Schnauze. Wartet auf die Erlaubnis.

»Mm-mm«, lehne ich ab. »Das brauche ich selbst.« Der Lachs und die Pfirsiche werden nicht lange reichen. Ein paar Tage, wenn ich sparsam bin. Kürzer, wenn ich sie mit einem 45 Kilo schweren Hund teile.

Bo winselt und neigt den Kopf. Und dann erinnere ich mich an die Dörrfleischhappen. Als wir heute Morgen losgefahren sind, habe ich sie mitgenommen und sie stecken immer noch in meiner Tasche. Ich wühle darin, nehme eine Handvoll Happen heraus und werfe sie Bo zu. Er fängt einen aus der Luft, dann schnüffelt er auf dem Boden herum und sammelt den Rest ein.

Ich weiß nicht, zu welcher Hunderasse Bo gehört. Dad weiß es auch nicht. Dad wusste es auch nicht. Bo ist größtenteils schwarz, übersät mit grauen Flecken und heller um die Schnauze. Er sieht aus, als hätte er etwas von einem Husky, einem Malamute und mit ziemlicher Sicherheit auch etwas von einem Wolf. Er hat diese Wildheit an sich. Dad hat gesagt, man kann einen Wolf nicht zähmen, man kann ihn nur zu einem Verbündeten machen. Bo war in seinem ganzen Leben noch nie an der Leine.

Ich kaue langsam. Obwohl ich am Verhungern bin, fühle ich mich unwohl und spüre ein seltsames Rumoren in meinem Magen. Es dauert eine Minute, bis ich es wiedererkenne. Das gleiche Gefühl hatte ich nach dem Unfall, als man mir sagte, dass Mom tot sei. Zwei, drei Tage lang schwankte alles zwischen einer entsetzlichen, stechenden Trauer, die schmerzlicher war als meine Verletzungen, und einer beklemmenden Taubheit. Die Beklemmung war schrecklich, bedeutete aber, dass ich nicht an Mom dachte. Ihr Tod fühlte sich für mich nicht real an, und das für eine lange Zeit.

So fühle ich mich jetzt. Taub. Taub ist gut. Taub bedeutet, dass ich denken kann, mir über alles klar werden kann, bevor die Trauer kommt.

Unterstand, denke ich und würge einen weiteren Bissen Lachs hinunter.

In der fünften oder sechsten Nacht, die ich hier verbracht habe, rief mich mein Vater zum Feuer. Wenn du jemals nachts fernab der Hütte festsitzt, musst du über ein paar Dinge Bescheid wissen, erklärte er. Dann erzählte er mir von der Kälte, dem Wasser, der Nahrung, dem Feuer. Ich habe nur halb zugehört. Ich glaubte nicht, dass ich etwas davon wissen müsste. Ich wollte nichts davon wissen.

Hat er mir etwas über den Bau eines Unterschlupfes beigebracht? Ich kann mich nicht erinnern, beziehungsweise es schmerzt zu sehr, mich zu erinnern. Ich gehe weiter zurück und finde eine ungefährliche Erinnerung. Eine, die nicht brennt. Eine ›Exkursion‹ in der vierten Klasse. Ein Ausflug bis zu den Bäumen hinter unserer Schule. ›Tag der Wildnis‹. Sie haben uns beigebracht, an der Stelle zu bleiben, wo man gerade ist, wenn man sich verirrt hat, und weiße Kleidung als Signal zu benutzen, weil sie leicht zu erkennen ist, und dergleichen mehr.

Sie haben uns das Bauen von Unterständen beigebracht, das war der spaßige Teil. Ein großer Ast wurde wie ein Rückgrat gegen einen Baumstamm oder einen Felsen gestützt, dann legten wir kleinere Äste und immergrüne Zweige wie Rippen darüber. Die Äste und Nadeln wurden übereinandergeschichtet, um den Regen abzuhalten, und dann füllten wir die Unterkünfte mit abgestorbenen Blättern und Dingen vom Waldboden, von denen es hieß, sie würden uns warm halten.

Ich gebe ein ersticktes Lachen von mir, zur Hälfte ein Schluchzen. Wochenlang habe ich mich bei meinem Dad aufgehalten, dem König der Wildnis, und war so damit beschäftigt, wütend zu sein, dass ich ihm nie zugehört habe. Stattdessen erinnere ich mich an einen dämlichen Ausflugstag mit einem Haufen Vorstadtkinder, die in ihrem Leben noch nie eine Nacht im Freien verbracht hatten.

Fast findet mich die Trauer und legt ihre Zähne und Krallen an meine Kehle.

Ich stoße ein ersticktes Geräusch aus, als ich mich daran erinnere – an das Entsetzliche, an seinen Klang, die Art und Weise, wie sich diese eine Sekunde immer weiter ausgedehnt hat und dann in einem Moment zurückgeschnellt ist, zu kurz und zu schnell, um etwas dagegen zu unternehmen.

Mein Dad ist tot.

Dieser Erkenntnis kann ich nicht entkommen, sosehr sie auch schmerzt.

Ich habe ihn nicht gekannt. Ich habe ihn nicht gemocht. Aber er war mein Dad, und ich habe ihn geliebt.

Ich weiß nicht, wie ich ohne ihn überleben soll. Buchstäblich nicht. Als Mom starb, schien es, als hätte die Trauer alles aus mir herausgequetscht, Atem, Blut und Gefühl. Ich hatte damals keine Ahnung, wie ich weiterleben sollte, aber ich wusste, dass ich am Leben bleiben würde.

Die Trauer ist jetzt anders. Vielleicht nicht so schlimm. Aber die Frage des Weiterlebens stellt sich umso drängender. Ich weiß nicht, wie ich hier draußen überleben soll. Ich weiß nicht, ob ich es kann.

»Es reicht«, blaffe ich. »Es reicht. Damit fangen wir nicht noch einmal an.«

Nach dem Unfall habe ich mich zwei Wochen lang geweigert, eine Physiotherapie zu machen. Mit jemandem zu reden. Das Bett zu verlassen, außer um mich weinend und fluchend ins Badezimmer zu schleppen.

Wenn ich das jetzt tue, werde ich sterben. Ich habe zu lange dort gelebt, wo es schwer ist zu sterben. Noch weiß ich nicht, wie man richtig Angst hat. Ich weiß nicht, wie man eine Art von Angst von einer anderen unterscheidet. Die Angst, die einen schnell macht. Die Angst, die einen wachsam macht, die dich einen knackenden Zweig wie einen Schuss wahrnehmen lässt. Die Angst, die einen erstarren lässt. Die Angst, die einen lähmt, und die Angst, die einen am Leben hält.

Ich werde sterben, zwinge ich mich zu denken, und dann spreche ich es aus, schreie es hinaus, weil ich es tief im Innern glauben muss, sonst werde ich nie wieder in der Lage sein, mich zu bewegen.

»ICH WERDE STERBEN!«, schreie ich über den See. Die Worte reißen sich von mir los und lassen meine Kehle rau zurück.

Bo bellt, entzieht sich mir und dreht sich dann, um sich der Bedrohung zu stellen, die ich gerade anbrülle. Meine Hände zittern. Ich drücke die Handflächen auf meine Augen und zittere dabei.

Bo beruhigt sich und kommt mit geneigtem Kopf und zaghaft wedelndem Schwanz zu mir gekrochen. Ich umfasse seinen Hals und ziehe ihn zu mir heran. Sein Fell ist nass und er riecht intensiv und moschusartig, aber das ist mir egal. Ich vergrabe mein Gesicht in seiner Fellkrause. Er schnaubt gegen meine Schulter. Der Regen wird stärker und trommelt auf die Kapuze meines Regenumhangs, bis ich ihn von mir reißen und nass werden will, nur um etwas Ruhe zu bekommen. Ich schließe die Augen.

»Ich werde sterben«, flüstere ich. »Ich werde sterben.« Daran bleibe ich hängen. Es sei denn, zwinge ich mich hinzuzufügen. Es gibt hundert, tausend Dinge, die auf diese Worte folgen, aber ich konzentriere mich auf eines davon.

»Ich werde sterben, es sei denn, ich finde einen Unterschlupf«, erkläre ich Bo. »Zuerst der Unterschlupf.« Etwas, um den Regen und die Kälte abzuhalten. Etwas, wo Bo und ich hineinpassen, und dazu noch ein Feuer, was bedeutet, dass es größer sein muss als die kleinen Hütten, die wir in der Schule gebaut haben. Ich kann einen Anbau machen, glaube ich, wenn ich nur etwas habe, woran ich anbauen kann.

Ich habe Wochen damit verbracht, mit meinem Dad durch den Wald zu streifen. Jetzt verschwimmt alles in einer Mischung aus Braun und Grün. Im Dickicht konnte ich nicht einmal mehr die Übersicht behalten, in welcher Richtung der See lag. Aber ich erinnere mich an einen Felsbrocken. Von einem längst verschwundenen Gletscher zurückgelassen steht er etwas schief, als wäre er betrunken. Der Boden darunter war trocken. Vor dem Regen geschützt.

Wenn ich mich nur daran erinnern könnte, wo er steht.

Wir haben die Fallen überprüft, die mein Dad in der Nähe aufgestellt hatte. Er behauptete, es wäre ein schlechter Platz, und hob sie auf, um sie später woanders aufzustellen. Er sah zu mir auf und grinste.

»Du hast Dreck auf deiner Wange«, lachte er. Ich wollte sie sauber wischen. Er schüttelte den Kopf. »Lässt dich wie ein richtig wildes Mädchen aussehen.«

Ich verdrehte die Augen. »Dafür braucht es mehr als nur etwas Dreck.« Ich rubbelte mit dem Ärmel über die Wange, bis die Haut schmerzte. Er langte zu mir herüber, die Hände von der Arbeit im Schmutz völlig verdreckt, und tippte mir auf die Nase.

»Es ist ein Anfang«, stellte er fest. Ich griff abwehrend nach meiner Nase. Er lachte nur und ich lachte beinahe auch. Beinahe. Schaffte es, ihn weiter anzufunkeln, aber nur so eben. Ich musste davonstapfen, damit man mir nicht ansah, dass ich es lustig fand. Und da entdeckte ich den Felsbrocken und die Sonne stand tief zwischen den Bäumen.

Welche Richtung? Wohin sind wir von dort aus gegangen?

Ich halte die Augen geschlossen, bis ich glaube, dass ich es weiß, und ziehe gedanklich eine Linie vom See bis zum Felsen.

Die Tablette fängt an zu wirken, deshalb muss ich vorsichtig sein. Die Tabletten bewirken, dass es nicht wehtut, wenn es das eigentlich sollte, und dann verletzt man sich schnell. Ich weiß, dass meine Verletzungen mein größtes Problem sein werden. Schon für einen unversehrten, gesunden Menschen wäre es schwer genug zu überleben. Ich bin verletzt. Ich muss überleben und zulassen, dass mein Körper sich regeneriert.

Das bedeutet, heute so wenig wie möglich zu gehen. Das bedeutet, dass ich es beim ersten Versuch hinkriegen muss, sonst kommt jede Menge zusätzliches Herumlaufen dazu, was ich mir nicht leisten kann.

»Ich hab’s«, erkläre ich Bo. Es klingt nicht überzeugend. Langsam lasse ich ihn los. Er setzt sich hin und beobachtet mich. Wartet auf Anweisungen.

Ich sehe mir an, was ich alles dabeihabe. Rucksack, Reisetasche, Gewehr, Bogen, Axt, Pfeile.

Ich greife nach der Reisetasche und halte inne. Ich sollte nicht alles auf einmal tragen, nicht mit meinen Verletzungen. Ich muss Prioritäten setzen. Ich nehme eine Handvoll Kleidung zusammen mit dem Tablettenfläschchen aus der Tasche und stecke sie in den Rucksack. Ich nehme das Beil und das Gewehr und lasse Bogen und Pfeile in der Tasche. Es ist ja nicht so, als gäbe es hier draußen jemanden, der sie klauen könnte.

Ich stehe auf, halte aber inne. Meine erste Aufgabe sollte die einfachste Sache der Welt sein. Zum Felsbrocken gehen. Und wäre ich unverletzt, wäre ich gesund, würde es sich vielleicht auch einfach darstellen.

Aber das bin ich nicht. Schon lange nicht mehr. Nach dem Unfall konnte ich wochenlang nicht laufen. Und jetzt – ziehe ich den Fuß hinterher. Mein Bein krampft sich zusammen. Jetzt sollte ich nicht auf unebenem Boden laufen. Ich darf nicht rennen oder mich anstrengen.

Ich sehe mich um, als würde ein Bürgersteig in der Wildnis auftauchen. Ich schnaube. Will meinte, es dauert mindestens noch ein weiteres Jahr, bis sich alles normal anfühlt und ich nicht bei jedem Schritt aufpassen muss. Ich hätte gestern nicht rennen, nicht sorglos zwischen den Bäumen hindurchstürmen oder über Wurzeln stolpern sollen. Ich sollte jetzt nicht laufen. Aber ich habe keine Wahl.

»Na komm, Bo«, fordere ich ihn auf. »Gehen wir.«

Davor

Eingelullt von Griffs unmelodischem Gesang schlief ich im Auto ein und als ich aufwachte, rüttelte er mich an der Schulter.

Mir wurde klar, dass er »Pass« sagte.

»Was?«, entgegnete ich.

»Dein Vater hat gesagt, dass du einen Pass hast. Du musst ihn rausholen«, meinte er.

Ich setzte mich auf und rieb mir die Augen. Mein schlimmes Bein hatte sich durch das lange Sitzen in dem beengten Auto versteift. Ich knetete es und sah mich um. Wir standen hinter ein paar anderen Autos in einer Warteschlange. Ein Grenzkontrollpunkt. »Wo sind wir?«, fragte ich.

»Auf dem Weg nach Kanada«, antwortete Griff. »Du brauchst deinen Pass.«

Verwirrt wühlte ich in meiner Tasche herum, bis ich ihn fand. Er war voller Stempel. Meine Mom ist früher mit mir durch die ganze Welt gereist. Paris und London und Bangkok und Hongkong. Wir haben uns fast nie weit vom Flughafen entfernt, aber ich konnte überall flüchtige Eindrücke sammeln.

Wir kamen an der Spitze der Schlange an. Griff rollte das Fenster herunter und ein Mann mit Baseballkappe und Windjacke beugte sich vor, um in den Wagen zu spähen.

»Guten Tag«, begrüßte er uns. »Wie geht’s Ihnen beiden?«

»Gut«, entgegnete Griff, mehr ein Grunzen als ein Wort. Ich lächelte ihn nur schief an, was alles hätte bedeuten können. Ich wusste, dass dies die Narben auf meiner Wange hervorhob. Das hatte meist zur Folge, dass die Fragerei abrupt aufhörte.

Griff übergab die Pässe. »Ich habe auch einen dieser Briefe«, fügte er hinzu. Er fasste an mir vorbei und öffnete das Handschuhfach. Es war mit Papierservietten und Feuchttüchern gefüllt, außerdem mit weiteren Belegen und einem gefalteten, zerknitterten Dokument, das er dem Grenzbeamten entgegenhielt. »Wegen dem Kind.«

Er sah sich unsere Pässe an, dann den Brief und runzelte die Stirn. Ich konnte nicht sagen, ob es sich um ein Etwas-stimmt-nicht-Stirnrunzeln handelte oder lediglich um ein achtsames. »Aus welchem Grund besuchen Sie heute Kanada?«, erkundigte er sich.

»Nur ein Besuch«, lautete Griffs Antwort. »Bei Freunden, meine ich. Wir besuchen Freunde.« Ich konnte nicht sagen, ob er nervös war oder dies nur zu seinem sonderbaren Wesen gehörte. Ich tat mein Bestes, um normal zu wirken. Ich wusste auch nicht, warum wir nach Kanada fuhren, wollte aber Griff nicht in Schwierigkeiten bringen.

»In diesem Brief steht, dass dein Vater dir die Erlaubnis erteilt hat, mit Mr. Dawson zu reisen«, eröffnete mir der Grenzbeamte und sah mir dabei in die Augen. »Stimmt das?«

Ich blinzelte, dann wurde mir klar, dass Mr. Dawson Griff sein musste. »Ja«, entgegnete ich. Es klang nicht ganz überzeugend. Ich meine, ich hatte den Brief nicht gelesen und in den letzten zehn Jahren nicht länger als zwei Minuten mit meinem Vater telefoniert. »Ja, das hat er. Wir besuchen Freunde.«

Er sah mich einen weiteren langen Moment an. Es machte mir Angst, obwohl ich wusste, dass er mich wahrscheinlich nur schützen wollte. Er war wie der Anwalt, der sich um das Testament meiner Mutter gekümmert, und wie der Pilot, der mich nach Alaska geflogen hatte. Männer, die meine Narben gesehen hatten und dann antraten, um mich zu beschützen, auch wenn sie nicht so recht wussten, wovor sie mich bewahren sollten.

»In Ordnung«, bestätigte er dann. Er gab uns nach einer weiteren Begutachtung unsere Pässe zurück und wir fuhren langsam über die Grenze. Nach fünf Minuten waren wir auf der anderen Seite und in Kanada. Griff entspannte sich und ich sah ihn verwirrt an.

»Warum sind wir in Kanada?«, wollte ich wissen.

»Weil dein Dad dort ist«, gab er zurück. Für mehrere Stunden war das die einzige Erklärung, die ich bekam.

Griff fuhr zu einem anderen Flugplatz, noch kleiner als der vorherige. Er war privat und lag versteckt neben einem See, wo Griffs leuchtend gelbes Flugzeug wartete, dessen knollenartige Schwimmer es wie einen Käfer auf dem Wasser hielten.

In einem Gebäude – nicht einmal eine Hütte – neben der Rollbahn servierte er uns ein Abendessen aus fetten, brutzelnden Würsten auf Brötchen mit gelbem Senf und ohne Ketchup. Ich dachte, das läge vielleicht einmal mehr an seiner merkwürdigen Gelb-Manie. Aber dann stellte sich heraus, dass er ihm nur ausgegangen war.

»Die legendäre Sequoia Green«, begann er. Ich korrigierte ihn nicht. »Dein Daddy ist einer meiner besten Freunde. Einmal hat er mir das Leben gerettet. Wir waren beim Rafting, weißt du, und sind gegen einen großen Felsen geprallt. Ich bin ins Wasser gefallen, und er hat mich rausgefischt. Also hat er mir das Leben gerettet.«

Griff war kein besonders guter Geschichtenerzähler. Später hat mein Dad die Geschichte erzählt und da haben Griff und ich so heftig gelacht, dass wir uns die Seite hielten, weil uns die Rippen wehtaten, und Griff hat Bier aus der Nase in seinen Bart geschnaubt und dann mussten wir alle darüber lachen. Nur kann ich mich jetzt nicht mehr daran erinnern, wie er sie erzählt hat, und selbst wenn ich es könnte und es aufschreiben würde, wäre es nicht so lustig, weil es einfach an Dad liegt. Dad bringt die Leute zum Lachen. Deshalb hat Mom ihn geheiratet, obwohl sie es nicht hätte tun sollen und es für alle offensichtlich war.

Dad brachte die Leute zum Lachen. Vergangenheitsform. Er ist gestorben, und ich bin allein und niemand kommt mich holen. So zu tun, als ob, bringt ihn nicht zurück. Aber in diesem Moment mit Griff am Flugplatz war Dad auf eine völlig andere Art nicht da. Er schwirrte in der Zukunft herum und war nicht in der Vergangenheit verloren. Irgendwie kam es fast auf dasselbe heraus.

Doch in der Zwischenzeit aßen Griff und ich unsere Würstchen und er erzählte schreckliche Geschichten und sagte seltsame Dinge. So etwas wie: »Gott liebt alle. Und wenn man stirbt, kann er es einem endlich persönlich sagen. Deshalb ist es im Himmel so schön.«

Und: »Ich finde nicht, dass jemand heiraten sollte, bevor er jemanden geschlagen hat und mindestens einmal geschlagen wurde.«

Und: »Hast du schon mal einen Elch seitwärts laufen sehen?«

Wenn Griff Fragen stellte, musste man nicht darauf antworten. Bevor man überhaupt darüber nachdenken konnte, redete er einfach weiter. Er redete für uns beide, was mir sehr entgegenkam. Ich versuchte immer noch herauszufinden, was ich von all dem halten und was ich tun sollte. Wie – sagen wir mal – Hilfe holen? Aber sobald man mit Griff redet, wirft man die Vorstellung, er könne einem etwas antun, gleich über Bord. Und es war ja nicht so, als hätte ich irgendwo anders hingehen können.

»Morgen früh brechen wir auf«, erklärte mir Griff und schlürfte seinen Kaffee. »Heute reicht das Tageslicht nicht mehr.«

»Wohin fliegen wir?«, fragte ich.

»Du nach Hause. Ich ans Ende der Welt«, erwiderte Griff. Ich lachte, weil ich es für einen Witz hielt, und er wirkte zufrieden, deshalb nehme ich an, dass es auch einer war. Aber nur in dem Sinne, dass es lustig sein sollte, nicht dass es nicht stimmte. Wir waren wirklich auf dem Weg ans Ende der Welt. Und es würde mein Zuhause werden.

Griff schlief auf dem Boden seiner kleinen Baracke auf dem Flugplatz und ich in seinem Bett. Es roch nach ihm, nach Schweiß und diesem moschusartigen Geruch, den Männer annehmen. Nicht schlecht, nur intensiv. Es gab keine Heizung und sogar in Decken gewickelt und mit zwei Socken übereinander schlief ich in der Nacht so gut wie nicht.

Am Morgen schenkte mir Griff Kaffee ein, der so schmeckte, als hätte er das Kaffeepulver mit Kerosin verwechselt, und dann stiegen wir in sein Flugzeug. Ich hörte auf, nach unserem Ziel zu fragen. Es war offensichtlich, dass ich es erst erfahren würde, wenn wir dort ankamen.

»Dein Dad hat mir erzählt, dass deine Mom Pilotin war«, berichtete Griff, als wir es uns bequem machten. »Und dass du selbst eine kleine Pilotin bist.«

»Meine Mom hat es mir beigebracht. Ich hatte angefangen, meinen Flugschein zu machen. Darauf habe ich mich mehr gefreut als auf den Führerschein. Wenn man fliegen kann, ist Autofahren nicht so spannend.«

»Warum gehst du dann nicht die Checkliste für mich durch?«, bot Griff an und gab mir ein Klemmbrett.

Meine Mom hatte mir erklärt, dass Checklisten der Grund für die Sicherheit in ihrem Job sind. Piloten müssen sich nicht auf ihr Gedächtnis verlassen, das früher oder später immer versagen wird. Die Checkliste ist Gott. Sie funktioniert so gut, dass Chirurgen untersuchen, wie Piloten Checklisten verwenden, um Fehler bei ihren Operationen zu vermeiden. Man muss davon ausgehen, dass man nichts weiß und dass man irgendwas vergessen hat, denn in dem Moment, in dem man zu wissen glaubt, dass man daran gedacht hat, und es nicht überprüft, geht etwas schief.

Mom hatte recht – wahrscheinlich sollte ich jetzt eine anfertigen. Allerdings würde sie das ganze Notizbuch füllen. Es gibt immer so viel zu tun.

Wir gingen sie durch und überprüften alles, während das Flugzeug nach und nach zum Leben erwachte. Ansage und Antwort, wie bei einem Ritual. Notfallausrüstung – an Bord. Temperatur und Druck – im grünen Bereich.

Mein Finger folgte der Checkliste nach unten, während Griff eine Position nach der anderen durchging, und fast konnte ich mir vorstellen, dass Moms Stimme die Antworten gab. Dass ich, wenn ich aufblickte, sie sehen würde wie so oft zuvor, mit konzentriertem Mund und einer winzigen Falte zwischen den Augen, während sie stirnrunzelnd die Sicherheitskontrolle durchführte. Mom hat große Flugzeuge geflogen, aber sie war es nie leid, uns in die Höhe zu befördern, nur uns beide, mit nichts als einer dünnen Metallhaut zwischen uns und dem Himmel.

Früher hatte ich Angst, dass meine Mom bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kommen würde und ich mich für den Rest meines Lebens fragen müsste, ob sie Zeit gehabt hatte, sich zu fürchten. Ob sie gesehen hatte, wie der Boden auf sie zurast. Ob sie nach einer Sauerstoffmaske gegriffen hatte. Ob sie versucht hatte, die Passagiere zu trösten, oder sich nur auf die Instrumente konzentriert hatte. Und darauf, das riesige Metallungetüm zurück in den Himmel zu ziehen, wo es gar nicht hingehörte, wie es endlich erkannt hatte.

Und dann war sie unten auf der Erde gestorben. Sie wurde bei einem Autounfall getötet und ich war dabei. Das andere Auto kam von der Seite auf uns zu und seine Scheinwerfer erlaubten keine Rückschlüsse auf seine Größe. Sie hatte noch Zeit, meinen Namen zu sagen und ihren Arm über meinen Körper zu werfen, als könnte sie mich damit beschützen, und dann ging die Welt unter. Nur die Hälfte von ihr kam zurück. Meine Hälfte. Sie war voll nassem, kaltem Regen und nassem, heißem Blut. Voller Sirenen und Schreie. Aber meine Mom war ganz still.

Griff und ich redeten nicht viel auf dem Hinflug. Sogar über die Headsets, die wir trugen, mussten wir schreien, und ich war keine gute Gesprächspartnerin. Wir flogen über einsames Land und kümmerliche Bäume, dann über immer dichtere Wälder und noch mehr Wälder und ich fragte mich, ob wir ewig so fliegen würden, während rings um uns die Zeit stehen blieb. Zwischen den Bäumen blinzelten uns Seen zu und ich erinnerte mich an ein Buch, das ich gelesen hatte und in dem es ganz genauso war. Ein Jugendlicher auf dem Weg zu seinem Vater, in einem winzigen Flugzeug, mit einem Piloten, den er nicht kannte. Der Pilot starb, hatte einen Herzinfarkt, und der Jugendliche hatte keine andere Wahl, als in einen der Seen zu stürzen und zwei Monate lang allein am Ufer zu leben, bevor er gerettet wurde.

Das würde mir nicht passieren. Hätte Griff einen Herzinfarkt, würde ich mit dem Flugzeug umkehren oder auf einem der Seen landen und über Funk Hilfe anfordern. Ich hatte auf unseren Kurs geachtet und wir hatten viel Treibstoff. Griff flog schließlich von unserem Ziel aus wieder zurück. Natürlich war genug Treibstoff da, um zum Flugplatz zurückzukehren.

Ich hatte noch nie ein Wasserflugzeug auf dem Wasser gelandet, aber ich hielt es für möglich, es hinzubekommen. All das ging mir durch den Kopf und ich glaube, es wurde schon fast zu einer Art Wunschfantasie. Ich wollte nicht, dass Griff starb, aber ich fand Gefallen daran, es durchzuspielen. Wie ich das Flugzeug umkehren lassen und die Kontrolle übernehmen würde. Wie ich landen und gelassen nach Hilfe rufen würde und bei ihrem Eintreffen alle verblüfft wären.

Seht sie euch an, würden sie sagen. Sie hat das Flugzeug ganz allein geflogen. Und wusstet ihr, dass ihre Mutter gerade gestorben ist? Und sie würden mich überhaupt nicht bemitleiden, sie wären nur beeindruckt. Allerdings konnte ich es mir nicht verkneifen, mir meine Mutter inmitten dieser Menschenmenge vorzustellen. Die mir sagte, dass sie stolz sei und gewusst habe, dass ich es schaffen würde.

Dämlich.

Griff hatte keinen Herzinfarkt. Wir flogen immer weiter, dann rief er plötzlich: »Da wären wir also«, und wir legten uns in eine Kurve und gingen in den Sinkflug. Wir steuerten einen See an. Am Nordufer befand sich ein freier Platz, nicht wirklich eine Lichtung, sondern eine Stelle, wo die Bäume nicht bis ans Ufer reichten, mit einer Hütte in der Mitte. Und obwohl mir mit Schrecken klar wurde, dass Griff dies damit gemeint hatte, als er sagte, er werde mich nach Hause bringen, dachte ich: Es ist wunderschön.

Ein Mann in Rot kam aus der Hütte. Ein Hund lief neben ihm her. Er war riesig, sogar noch aus dieser Entfernung. Der Mann hob eine Hand und mir wurde klar, dass er mein Vater war.

Mein Magen machte einen seltsamen Hüpfer. Mein Vater. Seit Jahren hatte ich ihn nicht mehr persönlich gesehen. Er war da, als ich geboren wurde, und blieb noch für eine Weile. Und als ich vier war, kam er einmal zu Besuch. Er war ein Fremder und hier draußen im Nirgendwo und nicht dort, wo er eigentlich sein sollte.

»Ich kann hier nicht bleiben«, stöhnte ich, aber der Motor übertönte es. Wir landeten auf dem Wasser und einen schrecklichen Moment lang fürchtete ich, wir würden geradewegs untertauchen. Ich weiß nicht, warum ich das glaubte, aber ich war so voller krankhafter Angst, dass sie überall hineinkroch: Der See könnte uns verschlingen. Oder der Hund am Ufer könnte knurren und springen, sobald wir festen Boden berührten. Und er sah wild aus, schwarzgrau und riesig. Sein Schwanz wedelte nicht, er beobachtete uns nur misstrauisch mit glänzenden schwarzen Augen.

Wir stiegen aus dem Flugzeug, paddelten in einem winzig kleinen Floß zum Ufer und mein Vater und der Hund kamen langsam zu uns herüber. Meine Angst klumpte sich in meiner Kehle zu einem Pfirsichkern. Und …

Danach

Entschuldigung. Ich habe von draußen ein Knurren gehört und es war nicht Bo, weil er hier bei mir ist. Als wir es gehört haben, hat er geknurrt und sich versteift, aber er ist nicht weggegangen, und nach einer Weile habe ich gehört, wie sich etwas entfernt hat. Also ist es jetzt vielleicht sicher.

Ich … Wo war ich? Richtig. Mein Dad und das Ufer. Und Bo.

Davor

Der Hund stand steif und reglos da. Er starrte mich durchdringend an und ich war überzeugt, dass er angreifen würde, aber Dad ignorierte ihn. Mein Dad sah bis auf ein wenig Grau in seinem Bart genauso aus wie auf dem Foto. Er hatte immer noch dieselben Lachfältchen und als er mich sah, breitete er die Arme aus.

»Baby Bär!«, rief er. Ich stand da und starrte ihn an, während mir die Angst immer noch wie ein Pfirsichkern im Hals steckte. Sein Grinsen verschwand. »Sequoia«, versuchte er es stattdessen.

»Jess«, korrigierte ich ihn. Das hatte ich ihm auch am Telefon gesagt, aber anscheinend hatte er es gar nicht zur Kenntnis genommen. Ich hasste meinen Vornamen. Das war so ein Hippie-Name. Es gab keine guten Spitznamen dafür und es stand auch keine gute Geschichte dahinter. Es war nur ein Baum, und mein Vater mochte Bäume und da stand ich nun. Seit meinem vierten Lebensjahr war ich Jess. »Ich heiße Jess.«

»Jess«, wiederholte er, als wollte er sich den Namen einprägen. Er ließ die Arme sinken. Ich presste die Reisetasche an die Brust. »Ich bin froh, dass du da bist.«

Ich blickte hinter ihn, hinauf zur Hütte. Unten am Boden wirkte sie nicht viel größer als aus der Luft. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie wir beide darin leben sollten.

»Ich werde anbauen«, schien er meine Gedanken zu lesen, während er meinem Blick folgte und sich mit der Hand den Nacken rieb.

»Ich dachte, du lebst in Alaska«, stellte ich fest.

»Das habe ich auch. Soweit es die Regierung betrifft, tue ich das immer noch«, erklärte er. Kicherte. »Aber hier draußen stört mich niemand. Und ich störe auch niemanden. So ist es besser für alle.« Er lächelte, als wäre das ein Witz, aber ich starrte weiter. Mom hatte immer gesagt, dass Dad die Natur mochte. Zelten und Wandern und Jagen. Aber das hier …

»Weiß jemand, dass du hier draußen wohnst?«, fragte ich.

»Griff weiß es«, entgegnete er. »Du weißt es jetzt auch. Und noch ein paar andere Leute.« Etwas an der Art und Weise, wie er das sagte, hörte sich seltsam an, und sein Blick entfernte sich einen Moment lang von mir, bevor er fortfuhr. »Aber so gefällt mir das. Dir wird es auch gefallen. Du wirst schon sehen. Du musst nicht zur Schule gehen und diese ganzen nutzlosen sogenannten Fakten lernen.« Er hielt inne und rieb sich wieder den Nacken, als hätte er sich auf einen Vortrag vorbereitet und es sich dann anders überlegt. »Ich weiß, es sieht nach nichts aus, Seq… Jess, aber du wirst es lieben. Schließlich bist du immer noch meine Tochter.«

Ich sah ihn lange an. Ich fragte mich, ob Griff mich wieder mit zurücknehmen würde, wenn ich ihn darum bat. Und dann dachte ich darüber nach, was wohl passieren würde, wenn ich wieder zurückging. Ich müsste es erklären. Ich würde wieder zu einer Pflegefamilie kommen. Vielleicht sogar wieder zu den Wilkersons, der Familie, bei der ich zuvor gelebt hatte.

Aber hier oben konnte ich nicht bleiben. Hier oben gab es kein hier. Ich hatte geglaubt, wir würden in eine kleine Stadt mit vielleicht einem winzigen Laden und einem Haufen grauhaariger Leute kommen, die einander selten begegneten – aber immerhin gäbe es dort noch Menschen. Ich hatte gesehen, dass sich der Wald bis zum Horizont erstreckte. Es gab keine Straßen, keine Fahrzeuge. Wenn Griff weg war, würde ich hier draußen festsitzen.

Ich musste wieder mit zurück.