Aus dem Englischen von Claudia Rapp

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Allegedly

erschien 2017 im Verlag Katherine Tegen Books,

einem Imprint von HaperCollins Publishers.

Copyright © 2017 by Tiffany D. Jackson

Copyright © dieser Ausgabe 2020 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-830-8

www.Festa-Verlag.de

Für meine Mutter und meine Großmutter,

die jeden Schmerz von mir ferngehalten haben.

– 1 –

Auszug aus Kinder, die Kinder töten: Steckbriefe von Mördern im Kindes- und Jugendalter von Jane E. Woods (S. 10)

Es gibt einfach Kinder, die böse geboren wurden, das muss man ganz klar sagen. Es sind die Kinder, die den Statistiken nicht gerecht werden. Man kann weder ihr Umfeld noch ihre Erziehung für ihr Verhalten verantwortlich machen. Es handelt sich auch nicht um einen wissenschaftlich nachgewiesenen erblichen Wesenszug. Diese Kinder sind ein soziologisches Phänomen.

Der Filmklassiker Böse Saat (Original: The Bad Seed) von 1956, der auf dem gleichnamigen Roman von William March basiert, bildet diesen Typus perfekt ab. Er erzählt die Geschichte eines achtjährigen Mädchens, goldig und scheinbar un­­schuldig, der erklärte Liebling der Bilderbuchfamilie, dessen Mutter je­­doch eine Mörderin in ihrer Tochter vermutet. Die entzückende kleine Rhoda, eine blauäugige, blonde Prinzessin, hüpft mit ihren gefloch­tenen Zöpfen in Babydoll-Kleidchen durch den Film und bringt jeden um, der ihr nicht ihren Willen lassen will.

Der Film war erschreckend für seine Zeit, weil der Bösewicht ein kleines Mädchen war, das ebenso unschuldig schien wie jedes andere kleine Mädchen. Die Zuschauer konnten sich nicht vorstellen, dass ein Kind zu einem Mord fähig sein sollte. Selbst in der heutigen Zeit scheint eine solche Tat unfassbar.

Und so wurde der Name Mary B. Addison zum allgemein bekannten Begriff. Mary ist Rhodas Geschichte in Person, was die Frage aufwirft: Gab es einen konkreten Anlass, der sie ausrasten ließ oder schlummerte das Böse schon immer in ihr?

Am Montag ist eine Fliege ins Haus geschwirrt. Nun ist es Sonntag und sie ist immer noch da, fliegt von einem Zimmer ins nächste, als wäre sie das Familienhaustier. Ich hatte noch nie ein Haustier. Verurteilte Mörder in der Wohngruppe dürfen keine Haustiere haben.

Ich habe sie Herbert genannt. Eine Babyfliege, keine dieser laut brummenden Pferdefliegen, deswegen be­­merkt ihn niemand, bis er vor deiner Nase herumschwirrt und in der Nähe deines Orangensafts landet. Es überrascht mich, dass ihn noch niemand getötet hat in diesem Haus voller Straffälliger. Ich schätze, er ist ein Überlebenskünstler, so wie ich. Er hält sich zurück, versucht nicht unnötig Aufmerksamkeit zu erregen. Genau wie ich möchte er ein ruhiges Leben führen, ein paar Reste zum Knabbern bekommen und in Ruhe gelassen werden. Aber genau wie hinter mir ist auch hinter Herbert ständig jemand her, der ihn mit dem Handrücken verscheucht. Ich habe Mitleid mit ­Herbert. Der chronisch ungebetene Gast zu sein kann echt ätzend sein.

Nachts schläft Herbert oben auf der schiefen Zierleiste, die meinen Kleiderschrank einrahmt, in dem ich meine wenigen Kleidungsstücke aufbewahre. Drei Jeans, eine schwarze Hose, fünf Sommer­shirts, fünf Wintershirts, ein Pulli ohne und einer mit Kapuze. Kein Schmuck, nur eine dieser elektronischen Fußfesseln, die man vom Staat bekommt und stündig tragen muss, damit die dir überallhin folgen können wie die Sonne mit ihren Strahlen.

»Mary! Mary! Was zur Hölle treibst du denn noch? Mach, dass du hier runterkommst!«

Das ist Miss Stein, meine … na ja, ich weiß nicht, wie du sie nennen würdest. Hoffentlich musst du dir über so was nie Gedanken machen. Ich klettere vom oberen Bett herunter und Herbert wacht auf, folgt mir ins Badezimmer. Ich bin die Jüngste, also habe ich natürlich das obere Bett bekommen. So sind die Regeln von diesem Spiel. In einem Monat werde ich 16. Ich frage mich, ob sie irgendwas machen werden, um das zu feiern. Denn das sollte man doch tun, oder? Geburtstage feiern, besonders Meilensteine wie den sechzehnten. Beim letzten Meilenstein, als ich 13 wurde, war ich noch in Haft. Dort haben sie auch keine Party für mich veranstaltet. Meine Geburtstagsgeschenke waren ein blaues Auge und eine geprellte Rippe, die mir ­Shantell in der Cafeteria verpasst hatte, nur weil ich in ihre Richtung geatmet hatte. Das Mädel war völlig irre, aber ich bin diejenige, in deren Akte lauter Formulierungen wie »tendiert zu Wutausbrüchen« stehen.

Jedenfalls bin ich jetzt seit drei Monaten in diesem Haus und hier leben sieben Mädchen, aber ein Geburtstag wurde noch nie erwähnt. Ich schätze, Geburtstage haben in einem Wohnheim keine Be­­deutung mehr. Das ergibt ja auch irgendwie Sinn. Ist nicht leicht, den Tag zu feiern, an dem du geboren wurdest, wenn sich sowieso alle zu wünschen scheinen, du wärst nie geboren worden. Besonders wenn du auf diese Welt kommst und es so richtig verkackst.

Ich kann jedenfalls mehrere Leute aufzählen, die wünschten, ich wäre nie geboren worden.

Schokoladenkuchen und Eis, vielleicht sogar ein paar Luftballons, das wäre cool. Aber das sind Dinge, die sich das dumme Mädchen wünscht, das ich früher mal war. Ich muss mich immer wieder daran erinnern, dass sie tot ist. Genau wie Alyssa.

»Mary! Mary! Wo zur Hölle bleibst du?«

Der Duschkopf ist wie eine Regenwolke, aus der es nur langsam tröpfelt. Ich hasse Duschen. Im Jugendknast durfte ich nur jeden zweiten Tag fünf Minuten lang duschen und das Wasser kam wie aus einem Feuerwehrschlauch gedrückt, peitschte meine Haut wie Schläge mit nassen Handtüchern. Davor hatte ich niemals geduscht, sondern immer nur gebadet. Ich hatte in weißen Porzellanwannen mit den Seifenblasen gespielt, die das Spüli mit Zitronenduft produzierte.

»Mary! Verdammt noch mal!«

Ich schwöre, die Frau kann das prasselnde Wasser übertönen. Herbert summt um meine nassen Haare herum. Ihn lockt das Gel an, mit dessen Hilfe ich meinen krausen Kopf zu einem straffen, lockigen Pferdeschwanz bändige. Ich wünschte, ich wäre eine Fliege. Ich meine, eine richtige Fliege an der Wand, die mit ihren Kaleidoskop-Augen jeden Staubpartikel verfolgen kann, der in der Luft umherschwebt, oder den Müll, den der Wind über die Straße weht. Die sich auf einzelne Schneeflocken oder Regentropfen konzen­triert. So was mache ich jetzt aber sowieso schon. Ich kann Stunden damit verbringen, mich von meiner Faszination für das Nichts unterhalten zu lassen. Diesen Trick habe ich im Irrenhaus gelernt: auszusehen, als wäre ich der Welt völlig entrückt, praktisch mausetot, damit sie aufhören, mir die ganze Zeit Fragen zu stellen.

Aber ich darf keine Fliege sein, nicht heute. Ich muss mich vorbereiten. In höchster Alarmbereitschaft und konzentriert sein, denn in ein paar Stunden besucht mich heute die gefährlichste, teuflischste, hinterhältigste Frau der Welt:

Meine Mutter.

Protokoll des Verhörs vom 12. Dezember.

Mary B. Addison, 9 Jahre

Detective: Hi, Mary. Mein Name ist José. Ich bin Kriminalbeamter. Detective.

Mary: Hi.

Detective: Du brauchst keine Angst zu haben. Deine Mom sagte, es ist okay, wenn wir mit dir reden. Kann ich dir irgendwas holen? Hast du Hunger? Möchtest du etwas zu essen? Wie wäre es mit einem Cheeseburger?

Mary: Mmh … Cheeseburger.

Detective: Na also. Prima, ich liebe Cheeseburger auch. Also, hab keine Angst. Ich will dir nur ein paar Fragen stellen. Darüber, was gestern Abend passiert ist. Damit hilfst du uns ganz enorm.

Mary: Okay.

Detective: Super! Also, Mary, wie alt bist du denn?

Mary: Neun.

Detective: Schon neun! Wow, ein großes Mädchen. Weißt du denn auch, wie alt Alyssa war?

Mary: Momma hat gesagt, sie war drei Monate alt.

Detective: Ganz genau. Sie war ein winziges Baby. Was hast du denn so gemacht, wenn du deiner Mama geholfen hast, auf sie aufzupassen?

Mary: Äh … ich habe sie gefüttert und Bäuerchen machen lassen … und so was.

Detective: Okay, und kannst du mir nun erzählen, was gestern Abend passiert ist, Mary?

Mary: Ich weiß nicht.

Detective: Deine Mama hat gesagt, dass du allein mit Alyssa im Zimmer warst. Dass Alyssa im selben Zimmer mit dir geschlafen hat.

Mary: Äh … ich weiß nicht.

Detective: Bist du sicher? Deine Mama sagte, sie habe geschrien.

Mary: Sie wollte einfach nicht aufhören zu schreien … ich konnte nicht schlafen.

Detective: Hast du versucht, irgendetwas zu tun, damit sie aufhört zu schreien?

Mary: Ich kann mich nicht erinnern.

Heute habe ich Küchendienst. Das bedeutet, dass ich schrubben und spülen muss, bis alle Töpfe und Pfannen so spiegelblank sind, dass Miss Stein ihr fettes weißes Gesicht darin betrachten kann. Miss Stein weiß nicht, wie man putzt, aber sie weiß umso besser, wie man kritisiert.

»Mary, sieht das für dich etwa sauber aus, du dumme Göre? Mach das noch mal sauber!«

Der Staat ließ sich sechs lange Jahre Zeit, darauf zu kommen, dass ich keine Bedrohung für die Gesellschaft darstelle. Dann rissen sie mich aus der gewohnten Umgebung meiner Zelle raus und brachten mich bei Miss Stein unter. Von einem Gefängnis ins nächste; etwas anderes war das nicht. Auch wenn es da einen großen Unterschied zwischen der Jugendhaft und dem sogenannten Jugendarrest gibt, aus dem die restlichen Mädchen hier im Haus kommen. Die Jugendstrafanstalt ist für krasse Kids, die Bodegas ausrauben, Autos klauen, vielleicht aus Blödheit versuchen, jemanden umzubringen. In den Jugendknast kommen diejenigen, die weit schlimmere Sachen getan haben, so wie ich. Jedenfalls hat mich eine Sozialarbeiterin hier abgesetzt und gesagt: »Das ist Miss Stein.« Sie war schon wieder weg, bevor ich die echte Miss Stein kennenlernte. Den Großteil meines Lebens hat sich niemand die Mühe gemacht, mir irgendetwas zu erklären. Es lief einfach immer wieder auf so was wie »Weil ich es sage« hinaus. Ich habe aufgehört Fragen zu stellen, und in den vergangenen sechs Jahren ist mir nicht ein einziger Erwachsener begegnet, der die Höflichkeit besaß, mir zu erklären, warum etwas mit mir geschieht. Ich schätze, Mörder haben keinen Respekt verdient, also habe ich aufgehört, ihn zu erwarten.

Miss Stein humpelt mit ihren fetten, angeschwollenen O-Beinen in die Küche. Man sollte meinen, wenn jemand fast 100 Kilo auf die Waage bringt, wäre der Zeitpunkt gekommen, die Ernährung umzustellen. Aber Miss Stein isst immer noch eine ganze Packung Streusel-Donuts von Entenmann’s pro Tag.

»Mary! Du bewegst dich ebenso langsam wie zähe Melasse. Wieso brauchst du nur so verdammt lange, um das bisschen Geschirr abzuspülen?«

Ich weiß nicht, wieso Gott mich zu Miss Stein geschickt hat. Ich weiß bei vielen Dingen nicht, wieso Gott sie tut. Aber Momma hat mir immer eingeschärft, keine Fragen zu stellen und stattdessen zu beten. Selbst für fette weiße Ladys wie Miss Stein.

»Ich sehe doch, dass die Arbeitsfläche immer noch schmierig ist! Wenn ich das sehe, warum siehst du es dann nicht?«

Das ist im Grunde der einzige Rat, den Momma mir je gegeben hat. Immer weiterbeten. Gott wird es richten. Es kam ihr nie in den Sinn, dass sie womöglich einige Dinge selbst richten sollte. Manchmal wollte ich sie anschreien: »Gott hat eine Menge zu tun, Mama! Er kann nicht dauernd deine Schlüssel finden, wenn du sie verlegt hast!« Sie war schon immer schrecklich faul und erwartete, dass die anderen alles für sie machten.

Gott und ich kämpfen da mit demselben Problem.

Tara, eine meiner Mitbewohnerinnen, lässt ihr Geschirr ins Spülbecken rutschen. Sie ist groß und breit gebaut, schwarz wie Teer. Deswegen nenne ich sie Teer-a. Aber nur still für mich, denn ich rede ja mit niemandem. Wenn du redest, handelst du dir nur Ärger ein, und diese Mädchen warten nur auf ein falsches Wort, um auszurasten. Die halten mich alle für stumm.

»Mach das sauber, du Psycho«, brummt sie und schubst mich mit dem härtesten Teil ihrer buckligen Schulter. Tara hat versucht, ihren Freund umzubringen. Hat zehnmal mit einem Kuli, der mit Tesafilm an einem Lineal festgeklebt war, auf ihn eingestochen. Als sie gefragt wurde, wieso sie denn nicht einfach ein Messer benutzt habe, sagte sie: »Messer sind zu gefährlich.« Sie ist 17 Jahre alt, hat aber die geistigen Fähigkeiten einer Fünfjährigen. Ungelogen, sie malt immer noch Malbücher aus und zählt mithilfe ihrer Finger. Wenn es über zehn hinausgeht, nimmt sie die Fingerknöchel hinzu.

Kisha kommt hereingetrampelt, ihre Pantoffeln kratzen über den Fußboden. In der einen Hand hält sie ihre Nagelfeile und in ihrem Haar stecken noch die Lockenwickler.

»O mein Gott, warum ist es hier so ätzend?! So öde, dass man durchdrehen könnte! Hier draußen gibt’s echt gar nichts, was man machen kann! Ihr wisst schon, dass sie uns deswegen hierhergebracht haben, oder? Wir sitzen in der Falle, nix los, alles Scheiße.«

Sie spricht nicht wirklich mit mir, sie macht sich nur Luft und das Publikum ist ihr egal. Kisha kommt aus irgendeiner Sozialbausiedlung im Osten New Yorks. Ich war noch nie dort. Selbst von ­Brooklyn habe ich bisher kaum was gesehen. Momma sagte immer, es sei überall zu gefährlich, außer bei uns zu Hause. Schon komisch, dass es am Ende dort am ge­­fährlichsten war.

»Die blöden Zicken erwischen mich ganz sicher nicht dabei, dass ich mir einen Ausrutscher leiste«, murmelt Kisha, während sie einen Blick auf ihr Spiegelbild in der Tür der Mikrowelle wirft und den Sitz ihrer Augenbrauen überprüft. Nur weil sie eine Frage nicht richtig beantworten konnte, hatte dieses Mädchen ein Schülerpult auf die Mathelehrerin geworfen, die durch diese Attacke nun von der Taille abwärts gelähmt ist. Die meisten der Taten, die meine Mitbewohnerinnen begangen haben, sind so. Verbrechen aus Leidenschaft, »Aussetzer«-Momente oder die gute alte Situation, die sich am ehesten mit »zur falschen Zeit am falschen Ort« umschreiben lässt. Meine Tat war psychotischer. Ich war die Neunjährige, die ein Baby umgebracht hat.

Mutmaßlich. Das war das Wort, das sie immer alle verwendet haben.

Alle im Haus wissen, was ich getan habe. Oder sie glauben es zu wissen. Niemand fragt jemals nach, denn im Grunde will niemand wissen, wie ich ein Baby umgebracht habe. Sie wollen noch nicht einmal wissen, wieso ich ein Baby umgebracht habe. Sie wollen nur so tun, als wüssten sie Bescheid; das ist alles, worum es ihnen geht.

Auszug aus einem Artikel der Zeitschrift People: »Totes Baby: Neunjähriges Mädchen wegen Totschlags angeklagt.«

Im Todesfall der kleinen Alyssa Richardson steht eine Neunjährige vor Gericht; die Anklage lautet auf Totschlag. Der Fall wird kontrovers diskutiert und wirft komplexe Fragen nach unserem Schuldverständnis auf. Wer soll hier entscheiden – die Strafgerichtshöfe oder psychologisch geschulte Experten? Und kann man überhaupt annehmen, dass eine so junge Angeklagte verfahrensfähig ist?

Das Mädchen ist die Tochter der Babysitterin, in deren Obhut Alyssa sich zum Zeitpunkt ihres Todes befand. Sie befindet sich derzeit in staatlichem Gewahrsam; die Strafverhandlung beginnt Ende März. Sollte sie nach dem Jugendstrafrecht verurteilt werden, könnte sich das Strafmaß auf maximal elf Jahre belaufen, dann würde das Mädchen bis zu seinem 21. Geburtstag in einer Strafvollzugsanstalt einsitzen. Eine weitere Option wäre, das Kind bis zum Erreichen der Volljährigkeit in einer Jugendstrafanstalt unterzubringen, worauf ein Richter die Verdächtige dann im Anschluss zum Verbüßen der Höchststrafe in einem Gefängnis für Erwachsene verurteilen könnte.

Im Haus ist es immer schwül, so als würden wir in einem alten Schuh wohnen, und es riecht wie Maischips vermischt mit Kakerlakenabwehrspray. Ich nenne es eigentlich niemals ›Zuhause‹, denn das ist es nicht. Kein Haus, in dem du um dein Leben fürchten musst, kann ein Zuhause sein. Das Haus steht in ­Flatlands und in der Nähe befindet sich einfach gar nichts. Von außen sieht es aus wie ein zweigeschossiges Haus mit Backsteinfassade. Es gibt vier Schlafzimmer, zwei Badezimmer, ein kombiniertes Wohn- und Esszimmer, ein Büro und einen halb ausgebauten Keller. Das offizielle Wohnzimmer sieht aus wie der Warteraum einer Arztpraxis. Es ist für Besucher wie Familienangehörige, Sozialarbeiter oder Bewährungshelfer ge­­dacht.

»Mary! Hörst du jetzt endlich mit deinen verdammten Träumereien auf und wischst die Böden! Hier. Ich will, dass sie glänzen.«

Der Wischmopp. Eine strähnige schwarze ­Perücke, die an einem ausgebleichten gelben Stiel befestigt ist. Sie gießt eine Mischung aus Bleiche und Pine-Sol auf den unebenen Boden, und der beißende Gestank drängt sich langsam meine Kehle hinab, lässt mich unwill­kürlich würgen. Meine Augen tränen.

»Was ist denn los mit dir?! Bist du schwanger oder was? Sag bloß nicht, du bist schwanger!«

Das gelbe Linoleum wird schwärzer, als der Dreck vieler Jahre zurück in den Boden blutet. Ich frage mich, wie viele Mädchen vor mir denselben Mopp zum Wischen benutzt haben. Ist doch dumm, denn ganz gleich, wie oft sie uns zum Putzen und Wischen antreibt, das hält die Armee von Mäusen und den Schwarm von Kakerlaken nicht davon ab, Nacht für Nacht unsere Zimmer heimzusuchen. Der Staub legt sich wie Plastikfolie auf unsere Lungen, wir sitzen auf Möbeln, die nach Katzenpisse stinken, und die dunkel vertäfelten Wände tauchen das Gebäude in ein ewig schattiges Licht. Sagen wir einfach, meine Lebensumstände waren schon mal besser. Allerdings waren sie auch schon schlechter.

Die Türklingel summt. Es ist kein freundliches Summen, sondern klingt eher wie ein wütender Wäschetrockner, der das Ende eines Durchgangs verkündet.

»Reba! Geh mal an die Tür!«, kollert Miss Stein direkt neben meinem Ohr.

Miss Reba ist für die Sicherheit zuständig, Miss Steins rechte Hand und außerdem ihre Schwester. Sie ist die größere, dünnere Version von Miss Stein, mit fettigen grauen Haaren und riesigen Brüsten, die sie flach abbindet, um so zu tun, als hätte sie keine.

»Schon gut, schon gut«, brüllt sie von ihrem Posten auf dem Wohnzimmersofa zurück. Sie trägt schwarze Armschoner und einen dieser Gewichtsgürtel, der direkt unter ihrem hervorhängenden Bauch sitzt, aber ich habe noch nie gesehen, dass sie Sport gemacht oder mit Gewichten trainiert hätte. Das Einzige, was sie hebt, ist unser tägliches Brot zum Mund.

Die Eingangstür hat sieben Riegelschlösser, ein ­normales Türschloss mit Schlüssel und eine Schließstange, sodass es mindestens fünf Minuten dauert, bis sie die Tür geöffnet hat. »Aus Sicherheitsgründen«, sagen sie immer, aber in Wirklichkeit sollen uns die Schlösser davon abhalten, mitten in der Nacht davonzulaufen. Nicht dass ich je daran gedacht hätte.

Man kann sie schon wimmern hören, bevor die Tür aufgeht. Es ist das neue Mädchen.

Ich schlurfe am Eingang zur Küche vorbei, um einen ersten Blick auf sie zu erhaschen. Eine Weiße, sieht schüchtern aus, mit dunkelrosa Lippen und langen, un­­gekämmten Haaren, die eine wohlbekannte Tasche mit neuer Kleidung vom Staat in den Händen hält. Winters, mein Bewährungshelfer, begleitet sie herein.

»Morgen, Judy. Reba. Darf ich euch euren neuen Gast vorstellen, Sarah Young.«

Er reicht ihre Akte weiter und klopft ihr dann auf den Rücken, als will er ihr viel Glück wünschen. Die Neue weint. Sie schluchzt richtig, die Tränen rollen und die Nase ist voller Rotz. Ich bin neidisch; ich habe seit sechs Jahren nicht mehr geweint. Die Tränen sind in mir festgefroren, so wie der Rest meiner Gefühle. Sie glaubt wahrscheinlich, sie hat nichts Falsches getan. Auch ich war mal wie sie.

»Danke, Chef! Bekommen wir denn noch mehr?«, fragt Miss Reba, die gern noch mehr Handlanger hätte, über die sie herrschen kann. Miss Stein unterschreibt auf seinem Klemmbrett, als wäre er ein UPS-Fahrer, der ein Paket abliefert.

»Da bin ich nicht sicher; kann ich nicht sagen.«

»Na, komm schon rein, Kind. Ich zeige dir dein Zimmer«, begrüßt Miss Stein die Neue und humpelt dann den Flur hinunter. Das verhuschte Mädchen folgt ihr.

»Danke, Chef. Wir werden Sie nicht enttäuschen«, versichert Miss Reba.

Er nickt und rückt sich den Gürtel zurecht. Wie ich gehört habe, war er früher bei der Army, bis er einen Schuss ins Bein abbekommen hat oder so was, und darum hinkt er auch.

»Irgendwelche Probleme?«

»Nicht solange ich die Aufsicht habe, nein.« Sie hakt die Daumen in die Hosentaschen und steht breitbeinig wie Superman da, lächelt mit ihren maisgelben Zähnen, die hart und scharf genug sind, um Steine zu zerbeißen.

Winters grinst hämisch und wirft dann einen kurzen Blick den Flur entlang in meine Richtung. Nickt mir zu.

»Addison.«

Ich erwidere den knappen Gruß.

Winters hatte von Anfang an absolut keine Geduld mit mir. »Da ist Ärger im Anmarsch, Addison, das spüre ich sofort«, hatte er gesagt. Ich wollte fragen, warum, aber er sah nicht aus, als wäre er bereit, sich irgendjemandem gegenüber zu erklären, am allerwenigsten jungen Mädchen.

»Und du hältst dich nach wie vor von allem Ärger fern?«, fragt er.

Ich nicke.

»Gibt es Probleme?« Sein Blick huscht zu Miss Reba und dann wieder zu mir. Miss Reba dreht sich um, funkelt mich an. Ein Warnschuss. Eine falsche Antwort, und ich werde zum Badezimmerdienst verdonnert, und das auf Monate. Ich zucke die Achseln.

»Hm. Na gut, dann lasse ich Sie hier mal weitermachen. Der Sozialdienst schaut morgen vorbei, das wissen Sie?«

»Klar, klar! Ich begleite Sie nach draußen, Chef!«

Ich kehre in die Küche zurück, wische den Boden fertig und gehe dann zu meinem Zimmer. Mein Bettzeug liegt im Flur auf einem Haufen auf dem Boden, die Abdrücke von Sneakers wie Reifenspuren. Das Übliche. Ich klopfe den Staub ab, mache mein Bett noch einmal und schnappe mir das Harry-Potter-Buch von meiner Kommode. Dieser Witz von einem Bücherregal hält denselben Mist bereit, den es auch im Knast gab und den ich schon mindestens dreimal inhaliert habe. Für neuen Lesestoff, irgendetwas Neues, würde ich einen Mord begehen. Aber das würde ich niemals laut aussprechen. Ich bin schließlich eine Mörderin; die würden wahrscheinlich glauben, dass ich das wirklich täte. Solche Redewendungen sind ein Luxus, den sich verurteilte Mörderinnen nicht leisten dürfen.

Ich setze mich hin und lese von Zaubersprüchen, während ich darauf warte, dass die Dämonin, die mich hervorgebracht hat, auftaucht.

Auszug aus Teufel im Leib: Die Geschichte von Mary B. Addison von Jude Mitchell (Seite 21)

Dawn Marie Cooper wurde 1952 in Richmond, ­Virginia, geboren. Als ältestes von fünf Kindern war sie gezwungen, im Alter von 15 Jahren von der Schule abzugehen, um sich um ihre jüngeren Brüder und Schwestern zu kümmern.

»Ich habe mich immer um Babys gekümmert. Mein ganzes Leben lang.«

Ihr jüngster Bruder Anthony starb noch im Säuglingsalter. Dem Leichenbeschauer zufolge war die Todesursache plötzlicher Kindstod. Das frühe Dahinscheiden ihres Bruders veranlasste Dawn, sich zur Krankenschwester ausbilden zu lassen. Es bleibt unklar, wo sie ihre Ausbildung absolvierte, aber wir wissen, dass sie viele Jahre lang ausschließlich in einer Säuglingsstation arbeitete.

Dann zog Dawn mit ihrer jüngeren ­Schwester ­Margaret Cooper nach Brooklyn, New York.

Margaret strebte eine Karriere in der Modeindustrie an und Dawn machte sich Sorgen, wollte ihre Schwester nicht allein in der großen Stadt leben lassen. Sie fand Arbeit als Seniorenpflegerin. Ihrem ersten Ehemann Marc Addison begegnete sie an einer Bushaltestelle an der Flatbush Avenue. Obwohl Marc 20 Jahre jünger war als Dawn, verliebten sie sich ineinander und waren bereits nach drei Monaten verheiratet. Marc wurde auf dem Heimweg von der Arbeit von einem betrunkenen Autofahrer angefahren und tödlich verletzt. Kurz darauf starb Margaret an den Komplikationen ihrer HIV-Erkrankung. Dawn war am Boden zerstört und zog sich völlig zurück.

Mary Beth Addison wurde im Oktober geboren. Dawn sagte aus, dass sie zu Hause entbunden und Mary lediglich ins Krankenhaus gebracht hatte, um eine Geburtsurkunde für ihr Kind zu bekommen. Sie war 41 Jahre alt.

Als man sie darüber befragte, was an jenem Tag geschehen sei, erwiderte sie: »Es war eine grausame, schmerzhafte Geburt. Ich wusste vom ersten Tag an, dass mit ihr etwas nicht stimmte.«

»Mann, ich fasse es nicht, ist doch alles Scheiße hier. Es gibt keine Öffentlichen, keinen Burgerschuppen, nicht mal ein White Castle oder irgendeinen Laden weit und breit. So eine Scheiße!«

Kisha beschwert sich jeden Tag aufs Neue über unsere Unterbringung. Sie könnte rausgehen, bleibt aber lieber drinnen und kämmt und glättet sich das Haar alle zehn Minuten, als stünde ein Date mit einem neuen Kerl bevor. Momma ist genauso. Die Haare müssen immer gut aussehen, die Dauerwelle perfekt gestylt mit dem Kammaufsatz des Glätteisens. Sie machte sich auch immer schick und zog hohe Schuhe an, wenn sie nur zum Laden an der Ecke wollte, verließ das Haus nie ohne ihren Lippenstift, der nach Wachsmalstiften riecht. Cranberry Brown.

»Und es stinkt wie Sau hier drinnen«, meckert sie, während sie ein Fenster aufmacht, um so zu versuchen, den Gestank verrottender Lebensmittel nach draußen abziehen zu lassen. Miss Reba steckt den Kopf zur Tür herein.

»Mary, deine Mom ist da.«

Pünktlich auf die Minute taucht Momma jeden zweiten Sonntag um 14:35 Uhr bei uns auf, direkt nach dem Kirchgang. Seit ich weggeschlossen wurde, hat sie dieses Versprechen gehalten. Ich werde nie vergessen, was sie im Gerichtssaal gesagt hat. »Ich werde dich jede Woche besuchen kommen. Na ja … wenn ich so ­darüber nachdenke, vielleicht besser jede zweite Woche. Jede Woche wird vielleicht etwas zu viel für meinen Blutdruck.«

Und tatsächlich erschien sie jeden zweiten ­Sonntag im Besucherzentrum des Knasts, gut gelaunt und fröhlich wie Zuckerwatte. Sie verdiene es, zur Mutter des Jahres gekürt zu werden, meinte eine der Beamtinnen, die in meinem Zellenblock Dienst tat, weil sie selbst für eine kleine psychopathische Killerin wie mich so viel Liebe zeigte.

Mutter des Jahres? Zum Totlachen.

»Baby!«, kreischt sie mir im Besuchszimmer mit weit ausgebreiteten Armen entgegen und wartet auf ihre Umarmung.

Ihr grell pinkfarbenes Kostüm trägt sie mit passenden Schuhen und Tasche; die Farbe ­blendet einen beinahe. Der cremefarbene Hut, den sie zum Kirchgang trägt, sitzt mittig auf ihrem Kopf wie die Krone einer Regentin. Bei Momma dreht sich alles um den äußeren Schein.

Ich laufe geradewegs in ihre Umarmung und sie schlingt ihre Arme um mich, so fest sie kann, küsst mein Gesicht wie immer.

Ich löse mich von ihr und die Spuren ihres burgunderroten Lippenstifts brennen auf meiner Wange. Sie riecht nach meiner Kindheit: ­Pfeffer, Pomade und Seifenpulver, dazu diese lilafarbene Lotion von Victoria’s Secret, die ihr einer ihrer Freunde geschenkt hat.

»Wie geht es meinem kleinen Mädchen?«

Eines muss ich der Frau lassen: Sie zieht alle Register bei ihrer Show, selbst wenn niemand zusieht.

»Mir geht’s gut«, bringe ich krächzend hervor. Meine Stimme klingt kratzig und das Sprechen fühlt sich komisch an, nachdem ich so lange nichts gesagt habe. Aber bei Momma kann ich mich nicht lange in ­Schweigen hüllen. Sie würde mich zu Tode nerven, bis ich wenigstens fünf Worte herausbringe.

»Na dann, Baby, setzen wir uns. Komm, unterhalte dich eine Weile mit deiner Momma.«

Wir setzen uns auf die alte blaue Couch. Alles in diesem Zimmer ist gebraucht, ein Fundstück aus dem Secondhand-Laden. So wie im ersten Apartment, in dem ich mit Momma wohnte, aber wärmer. Sie legt mir einen Arm um die Schultern und lächelt von einem Ohr bis zum anderen. Sie war immer schon so glücklich. Der glücklichste Mensch, dem ich je in meinem Leben begegnet bin, immer. In ihrer eigenen Blase konnte ihr niemand etwas anhaben, nichts sie aus der Ruhe bringen. Sie lächelte, während wir aus einer Wohnung geworfen wurden oder nachdem Ray sie grün und blau geprügelt hatte. Sie lächelte, als wir völlig pleite waren, und sie lächelte sogar während meiner Verurteilung wegen Totschlags (»Siehst du, Baby, das ist gar nicht so schlimm. Zumindest lautet das Urteil nicht Mord!«). Sie ist der optimistischste Mensch auf der Welt. Selbst wenn sie ihre Tochter in einer Wohngruppe für Straffällige besucht.

»Baby, deine Haare sind so lang geworden«, stellt sie fest, während sie mit einem Finger meine ­krausen Naturlöckchen eindreht und an den Spitzen zupft, damit sie wieder in die Ausgangsposition zurückfedern können. »Du brauchst sicher bald einen Schnitt.«

»Sie sind gut so«, erwidere ich eingeschnappt und scheuche ihre Finger aus meinen Haaren.

Sie lächelt weiterhin, aber ohne die Zähne zu zeigen, faltet die Hände im Schoß und sieht sich im Zimmer um, während ihr Kopf im Takt zu irgendeiner Musik nickt, die nur sie hört. Sie wartet darauf, dass ich nach ihrem Befinden frage. Ich bin ein irrelevanter Bestandteil dieser Besuche, denn sie ist hier, um sich selbst besser zu fühlen.

»Also … Momma, wie geht es dir denn?«

Ihr Blick hellt sich auf, die Augen funkeln wie Sterne, so als hätte sie ihr Leben lang darauf gewartet, dass ihr jemand diese Frage stellt.

»Oh, ich fühle mich ja so gesegnet, meine Kleine. Einfach gesegnet! Ich wünschte, du hättest heute in der Kirche sein können. Junge, der Pastor hat einen großartigen Gottesdienst für unseren wahrhaft wunderbaren Gott abgehalten. Oh, und letzte Woche hatten wir sogar …«

Ich höre ihr nicht länger zu, sondern starre sie an, zähle die Fältchen in ihrem Gesicht und versuche, Teile von mir in ihr wiederzufinden. Ihre Haut ist dunkel, die Augen klein und braun, die Lippen breit, das Kinn kantig und spitz. Das schwarze Haar ist nie bis über ihre Ohren gewachsen. Meine Haut ist heller, meine Augen sind groß und hellbraun, die Nase schmal und das Gesicht rund. Mein dunkelbraunes Haar war immer lang und lockig, von der Sonne aufgehellt. Sie sagt, ich sei das Ebenbild meines Vaters, aber ich habe nie auch nur ein einziges Bild von ihm gesehen, das mir diesen Umstand beweisen könnte. Und wenn ich lächle, was ich nur sehr selten tue, dann sehe ich ihr Lächeln. Das hat mir immer Angst gemacht.

»… und die Jugendgruppe führt nächste Woche ein Stück auf, anlässlich des 50-jährigen Be­­stehens der Kirche. O meine Kleine, die sind alle ganz aufgeregt! Sie haben mich gebeten, für die Verpflegung zu sorgen, und ich sagte, nur wenn sie sich gut benehmen, denn die haben sich ja beinahe um meinen Bananenpudding geschlagen, als sie …«

Am Tag nachdem sie mich weggesperrt hatten, sprang Momma in der Baptistenkirche ins kalte Wasser und wurde wiedergeboren. »Der Teufel wollte mich durch meine Tochter auf seine Seite ziehen, aber ich habe mich ihm widersetzt!« Natürlich nahm die Kirche sie voller Mitleid auf. Keine gute, anständige Frau wie sie könnte je dafür verantwortlich sein, ein Monster wie mich aufzuziehen. »Dieser Teufel muss sich väterlicherseits angeschlichen haben.«

»Nun, junge Dame? Willst du denn gar nicht nach Herrn Worthington fragen?«

Mr. Troy Worthington, mein neuer Stiefpapa, Besitzer eines Soulfood-Restaurants und mehrerer Apartments in Brooklyn. Kennengelernt haben sie sich natürlich in der Kirche; er ist einer der Diakone. Diesen Kerl hat sie ganze sechs Monate nach meiner Verurteilung geheiratet. Die Flitterwochen haben sie in Hawaii verbracht. Mir brachte sie eine Muschel mit. Ihn habe ich bisher nicht kennengelernt und das brauche ich auch eigentlich nicht.

»Also, wie geht es denn …«

»Sitz gerade, Baby. Du siehst immer besser aus, wenn du gerade sitzt.«

»Also, Momma, wie geht es Troy?«

»Mr. Worthington. Und ja, Baby, es geht ihm sehr gut. Gestern Abend waren wir aus, sind zu diesem wundervollen …«

Momma hat es geschafft. Sie hat endlich reich ge­­­heiratet und kann endlich das sein, was sie schon seit Jahren zu sein vorgab. Mr. Worthington hat Geld. Das weiß ich, weil ich sehe, wie Momma sich kleidet. Niemals dasselbe Outfit zweimal. An den Ohren Diamanten so groß wie Murmeln, Schuhe in allen Farben. Ich saß noch nie in ihrem Wagen, aber ich habe den Schlüsselanhänger gesehen, es ist ein BMW. Ich dagegen war vier Jahre, sieben Monate, 16 Tage, neun Stunden und 43 Minuten im Bau, bevor sie mich vor drei Monaten in dieses Haus gesteckt haben. Und sie hat mir nie auch nur eine Sache mitgebracht. Nicht ein einziges Mal.

»Und dann hat er gesagt: ›Nun, einen guten Wein sollte man nicht umkommen lassen.‹ Ha! Gott, der Mann ist einfach zu viel. Er ist so lustig und klug …«

Sie redet immer noch über Troy, aber ich weiß, wie ich sie ganz schnell zum Schweigen bringen kann.

»Das klingt toll, Momma!« Ich lächle und schmiege mich an sie. »Hey, meinst du, ich kann demnächst mal mit dir zur Kirche gehen?«

Ihre Gesichtszüge entgleisen, aber sie wischt das rasch mit einem nervösen Lächeln beiseite.

»Nun mal langsam, Baby … Wir wollen nichts überstürzen. Du brauchst eine Erlaubnis und es ist …«

»Aber wir können ja darum bitten und Troy könnte …«

»O Baby, nun habe ich das doch glatt vergessen«, unterbricht sie mich mit einem Blick auf die Armbanduhr, die sie nicht trägt. »Ich sollte Mr. Worthingtons Sachen aus der Reinigung holen. Weißt du, er braucht seine Anzüge für seine … na, jedenfalls schließt die Reinigung in einer Stunde.«

Sie springt auf, streicht ihren Rock glatt und zieht dann eine mit vielen Markierungen versehene Bibel aus der Handtasche.

»Und ich muss auch noch diese Flyer für das Gemeindepicknick am nächsten Wochenende abgeben. Aber bevor ich gehe, gibt es eine Bibelstelle für dich. Bereit? Das stammt aus dem ersten Brief des Petrus, 5:8. ›Seid nüchtern, seid wachsam; denn euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein ­brüllender Löwe und sucht, wen er verschlingen kann: Dem widersteht, fest im Glauben, und wisst, dass ebendieselben Leiden über eure Brüder und Schwestern in der Welt kommen.‹«

Wie ich sehe, versuchst du immer noch, mir diesen Teufel auszutreiben.

Sie lächelt und steckt ihre Bibel wieder ein.

»Na, dann sehe ich dich in zwei Wochen wieder. Um die gleiche Zeit, okay?«

Sie küsst mich auf die andere Wange, hinterlässt den immergleichen Abdruck ihrer Kriegsbemalung auf meiner Haut, bevor sie eilig das Haus verlässt. Und das war’s. Ihre 15 Minuten sind rum. Wie ein Uhrwerk.

»Warum zur Hölle hast du mein Deo benutzt, du dumme Schlampe?«

»Ich habe gar nichts benutzt, du blöde puta!«

Im Flur streiten Marisol und Kelly schon wieder; beide wollen Blut sehen. Kelly prügelt sich fast einmal pro Woche mit irgendjemandem. Sie ist ein echtes Monster, mit ganz blauen Augen und hellblondem Haar. Wenn sie ruhig dasteht und nicht redet, sieht sie aus wie Barbie. Ich habe gehört, dass sie Captain der Cheerleader-Mannschaft ihrer High School war, bevor sie auf dem Schulparkplatz zwei Mädchen mit ihrem Range Rover umgefahren hat. Es ging wohl darum, dass die beiden nicht zum Training erschienen waren.

»Ay coño! Quítate de encima, du olle Kuh! Ich hab deinen Scheiß nicht mal angefasst!«

Ein raufender Wirrwarr aus einem blonden und einem schwarzen Haarschopf kracht gegen die Wand, dass der Staub aufgewirbelt wird. Noch ein Loch in der Wand und damit ein weiterer Eingang für die Mäuse. Das sind allein hier oben 15 Löcher, dazu kommen zehn im Erdgeschoss.

»Hast du wohl! Hau ihr eine rein, Kelly!« Das ist Joi, Kellys Schatten. Sie ist die Tratschtante und weiß immer über alles und jeden Bescheid. Dünn wie eine Bohnenstange und mit krausen Haaren, die nie länger als zwei, drei Zentimeter wachsen; darin einige kahle Stellen, wo die Dauerwelle sie verbrannt hat. Joi hat ein Mädchen vor einen fahrenden Zug gestoßen, weil es mit ihrem Freund gesprochen hat. Allerdings war er gar nicht wirklich ihr Freund.

»Ich hab’s nicht benutzt«, schimpft Marisol mit ihrem breiten, dominikanischen Akzent. »Das war die Neue!«

Oje. Die arme Neue. Sie ist noch keine sechs ­Stunden hier, und schon wird ihr die Schuld für irgendwas in die Schuhe geschoben. Kelly lässt Marisols Haare los und stürmt ins Schlafzimmer, auf der Suche nach der Neuen.

»Wo ist die kleine Schlampe?«

Kelly zerrt die Neue vom oberen Bett herunter und in den Flur hinaus, während das Mädchen schreit. Ich beobachte das von meiner sicheren Warte in meinem eigenen Bett, ebenfalls oben.

»Nein, bitte! Nein!«

»Halt die Fresse, du kleine Fotze!«

»Hau ihr eine rein, Kelly!«

Sie zerrt das Mädchen an den Haaren den Flur entlang, während die anderen sie anfeuern, als wären sie bei einem Footballspiel. Ich wende mich wieder meinem Buch zu. Kümmere dich um deinen eigenen Kram, dann wirst du auch nicht verletzt. Das war stets mein Motto.

»Was ist hier los?!«, kreischt Miss Reba vom Fuß der Treppe zu uns herauf. Sie ist diese Art ›Gesetzeshüterin‹, die immer gute zehn Minuten zu spät kommt, um einzugreifen. Genau wie im Knast, wo die Justizvollzugsbeamten auch nie zur Stelle waren, wenn ich sie gebraucht hätte.

Miss Reba löst den Kampf auf – oder das Verprügeln, wie man es nimmt – und nimmt die Neue mit hinunter in die Küche, um sie zu verarzten. Eis für das blaue Auge, ein Pflaster für die Platzwunde auf der Stirn und Aspirin gegen die Schmerzen.

Eine Stunde später bringt Miss Reba die Neue in ihr Zimmer zurück, das neben meinem liegt. Als ich durch die Wand höre, wie sie in ihre Decke hineinschluchzt, erinnert mich das an meine erste Nacht in dieser Wohngruppe.

Allerdings habe ich damals nicht geweint. Das tue ich nie.