JOHN GARTH

TOLKIEN UND DER
ERSTE WELTKRIEG

Das Tor zu Mittelerde

Aus dem Englischen
übersetzt von Birgit Herden
und Marcel Aubron-Bülles

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Impressum

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Hobbit Presse

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Tolkien and the Great War« im Verlag HarperCollins, London, 2003, 2004

© 2003/2004 by John Garth

Tolkien® ist ein eingetragenes Markenzeichen der Tolkien Estate Limited.

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Für die deutsche Ausgabe

© 2014 by J.G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Umschlag: Birgit Gitschier

Unter Verwendung eines Fotos von © HarperCollinsPublishers Ltd 2011

(Tolkien und Kommilitonen am Exeter College, Oxford, Juni 1914)

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98451-4

E-Book: ISBN 978-3-608-10695-4

Dieses E-Book entspricht der aktuellen Auflage der Printausgabe.

In Erinnerung an

John Ronald Reuel Tolkien (1892 – 1973)
Christopher Luke Wiseman (1893 – 1987)
Robert Quilter Gilson (1893 – 1916)
Geoffrey Bache Smith (1894 – 1916)

TCBS

INHALT

VORWORT

TEIL I – DIE UNSTERBLICHEN VIER

PROLOG

KAPITEL 1 Davor

KAPITEL 2 Ein junger Mann mit zu viel Fantasie

KAPITEL 3 Der Rat von London

KAPITEL 4 Die Feenküste

KAPITEL 5 Wanderer im Dunkeln

KAPITEL 6 In tiefem Schlummer versunken

TEIL II – UNGEZÄHLTE TRÄNEN

KAPITEL 7 Rittersporn und Glockenblumen

KAPITEL 8 Des Schnitters grausame Ernte

KAPITEL 9 »Etwas ist kaputtgegangen«

KAPITEL 10 In einem Loch im Boden

TEIL III – DIE EINSAME INSEL

KAPITEL 11 Luftschlösser

KAPITEL 12 Tol Withernon und Fladweth Amrod

EPILOG »Ein neues Licht«

NACHWORT »Einer, der für sich träumt«

Anmerkungen

Fußnoten

Bibliografie

Zur deutschsprachigen Ausgabe

Bildteil

Karte I »Hinterland der Somme«

Karte II »Die TCBS an der Somme«

Informationen zum Autor

VORWORT

Diese biografische Studie erwuchs aus einer einzigen Beobachtung: wie seltsam es doch ist, dass J.R.R. Tolkien gerade im Ersten Weltkrieg begann, seine gewaltige Mythologie zu erschaffen – mitten in der Krise, mitten in jener allgemeinen Entzauberung, aus der die Moderne hervorging.

Sie erzählt von seinem Leben und ersten Versuchen als Schriftsteller in den Jahren 1914–1918, beschreibt die frühen Entwürfe seiner ersten erfundenen »elbischen« Sprache im letzten Studienjahr in Oxford, schildert die Erweiterung seines Horizonts während der harten militärischen Ausbildung und der schreckensvollen Zeit als Fernmeldeoffizier an der Somme, bis hin zu den zwei Jahren, in denen er als chronisch Kranker an Großbritanniens Küste Wache stand und die ersten Erzählungen seines Legendariums niederschrieb.

Dabei bin ich weit über die reinen Kriegserlebnisse hinausgegangen und habe versucht, die breit gefächerten Interessen Tolkiens und die Quellen seiner Inspiration darzustellen. Anhand seiner ersten linguistischen Arbeiten und Gedichte zeige ich, wie seine Mythologie entstand und eine erste Blüte im Buch der Verschollenen Geschichten, dem Vorläufer des Silmarillions, erlebte – Erzählungen, die nach Tolkiens Vorstellung von einer lang vergessenen Welt künden, von der wir durch die Überlieferung der Elben erfahren und die Tolkien später Mittelerde nannte. Zudem habe ich viele seiner frühen Gedichte ausführlich kommentiert, eines davon (›The Lonely Isle‹, ›Die Einsame Insel‹) erscheint hier seit der lang vergriffenen Erstveröffentlichung von 1920 zum ersten Mal in voller Länge. Ich hoffe, Tolkiens früher Lyrik und Prosa gerecht geworden zu sein. Sie verdienen es, nicht nur als Jugendwerke betrachtet zu werden, sondern als Zeugnisse von der Vorstellungswelt dieses einzigartigen Schriftstellers im Frühling seiner Fähigkeiten, die bereits damals schon so lebendig, voller Details und tiefer Einsichten war, beeindruckend in ihrem Weitblick und der gewichtigen Themenwahl.

Eines meiner Anliegen war, Tolkiens kreative Entwicklung in den Kontext des internationalen Konflikts und der mit ihm einhergehenden kulturellen Umbrüche zu stellen. Eine große Hilfe war mir zum einen, dass die lange unter Verschluss gehaltenen Aufzeichnungen britischer Offiziere aus dem Ersten Weltkrieg freigegeben wurden. Zudem gewährten mir die Nachlassverwalter von Tolkien Estate freundlicherweise nicht nur Einblick in Tolkiens persönliche Aufzeichnungen, sondern auch in die so außergewöhnlichen und bewegenden Briefe der TCBS – jenes Zirkels früherer Schulfreunde, die in ihrem Leben so viel hatten erreichen wollen, dann aber die schlimmsten Härten und die Tragödie ihrer Zeit erlebten. Und schließlich half mir auch die Familie von Tolkiens wunderbarem Freund Rob Gilson, indem sie mir großzügig uneingeschränkten Zugang zu all dessen Aufzeichnungen gewährte. Die miteinander verwobenen Geschichten von Gilson, Geoffrey Bache Smith, Christopher Wiseman und Tolkien – sowohl die Gemeinsamkeiten ihrer Visionen als auch die manchmal hitzigen Meinungsverschiedenheiten – tragen meiner Meinung nach viel dazu bei, Tolkiens Motivation als Schriftsteller zu verstehen.

Zwar hat Tolkien in den Briefen an seine Söhne Michael und Christopher, als diese im Zweiten Weltkrieg selbst Soldaten waren, oft über seine eigenen Kriegserlebnisse berichtet, doch hat er weder eine Autobiografie noch Memoiren hinterlassen. Unter seinen Aufzeichnungen aus Kriegszeiten liefert ein knappes Tagebuch kaum mehr als Angaben über die Truppenbewegungen, an denen er während seines Einsatzes in Frankreich teilhatte. Andererseits gibt es eine Fülle sehr detaillierter Informationen über die Schlacht an der Somme, sowohl in veröffentlichter als auch archivalischer Form, und so konnte ich die Monate, die Tolkien dort verbrachte, recht präzise nachze ichnen – die Wege verfolgen, die er mit seinem Bataillon an bestimmten Tagen zurücklegte und einzelne Ereignisse und Szenen rekonstruieren.

Es sollte hier angemerkt werden, dass zwar das Quellenmaterial zu den Bataillonen von Smith und Gilson bereits ausführlich gesichtet und von Michael Stedman bzw. Alfred Peacock veröffentlicht wurde, zu Tolkiens Bataillon jedoch seit mehr als fünfzig Jahren kein vergleichbarer Versuch unternommen wurde. Überhaupt gibt es meines Wissens nach keine Arbeit, die sich in vergleichbarem Ausmaß auf die Berichte von Augenzeugen stützt, und so schildert dieses Buch erstmals die Erlebnisse der 11th Lancashire Fusiliers an der Somme. Da es mir aber nicht zuvorderst um militärische Einzelheiten ging, habe ich mich bemüht, den Text nicht mit den Namen von Schützengräben und anderen verloren gegangenen Orientierungspunkten (von denen es oft verschiedene Varianten im Französischen, dem offiziellen und dem umgangssprachlichen Englisch gibt), mit geografischen Bezügen oder der genauen Aufstellung der Divisionen und Brigaden zu überfrachten.

Allein das immense weltweite Interesse an Tolkien scheint mir als Rechtfertigung für eine solche Arbeit zu genügen; doch sie wird hoffentlich auch all jenen nützlich sein, die sich für Tolkiens Schilderungen der mythischen Schlachten interessieren, vom alten Beleriand bis zu Rhûn und Harad; und all denen, die meine Überzeugung teilen, dass der Erste Weltkrieg bei der Entstehung von Mittelerde eine entscheidende Rolle spielte.

Im Verlauf meiner Forschungen erschien es schließlich nicht mehr verwunderlich, doch zugleich nicht weniger außergewöhnlich, dass Tolkien gerade inmitten des Ersten Weltkriegs seine Vorstellung von einer vergangenen Welt entwickelte. Kurz gefasst bin ich der Überzeugung, dass Tolkien mit seiner Mythologie viel Erhaltenswertes aus den Trümmern der Geschichte rettete. Doch er tat weit mehr, als nur die Tradition der alten Elfengeschichten zu erhalten: Er erschuf sie in neuer Form und erweckte sie im Zeitalter der Moderne zu neuem Leben.

Der biografische Anteil des Buches war allerdings schließlich so umfangreich, dass es mir am besten erschien, meine Überlegungen zu den Beziehungen zwischen Leben und Werk auf einige wenige Kommentare zu beschränken und sie dafür ausführlich in einem »Postskriptum« darzulegen. Wer Tolkiens Erlebnisse im Ersten Weltkrieg gelesen hat und auch den Hobbit, den Herrn der Ringe oder das Silmarillion und seine Vorläufer kennt, wird bei Bedarf selbst genauer schlussfolgern können, in welcher Weise diese Geschichten vom Krieg beeinflusst wurden.

Vielleicht hätte ein solches Vorgehen auch Tolkiens Zustimmung gefunden, wenn er denn die biografische Interpretation seines Lebens überhaupt geduldet hätte. Einige Jahre nach der Veröffentlichung des Herrn der Ringe antwortete er auf eine Anfrage:

Ich habe etwas gegen diese moderne Tendenz in der Kritik, mit ihrem übertriebenen Interesse an den Einzelheiten aus dem Leben von Schriftstellern und Künstlern. Sie lenken nur die Aufmerksamkeit vom Werk eines Autors ab … und werden am Ende dann, wie man heute oft sieht, zum hauptsächlichen Interesse. Aber nur der Schutzengel eines Autors, vielleicht sogar nur Gott selbst könnte die wahre Beziehung zwischen den persönlichen Lebensumständen und den Werken eines Autors aufdröseln. Der Autor selbst kann es nicht (obwohl er mehr weiß als jeder Nachforschende), und ein sogenannter »Psychologe« schon gar nicht.

Ich maße mir keinerlei göttlichen Einblick in Tolkiens Geist an und gebe auch nicht vor, sein Psychiater zu sein. Ich war nicht auf schockierende oder skandalöse Einzelheiten aus, sondern habe mich immer nur auf die Dinge konzentriert, die meiner Meinung bei der Entstehung seines Legendariums eine Rolle gespielt haben. Ich hoffe, dass ich ein wenig Licht auf das Mysterium dieser Entstehung werfen konnte – indem ich beschrieb, wie ein fantasiebegabtes Genie die große Krise erlebte.

Alle Interpretationen und Auslegungen geben meine eigenen Ansichten wieder, nicht diejenigen von Tolkiens Familie oder von Tolkien Estate. Ich bedanke mich jedoch für die Erlaubnis, aus Tolkiens unveröffentlichten und veröffentlichten Schriften zu zitieren.

Auch darüber hinaus ist beim Schreiben des Buches eine große Dankesschuld entstanden. Zuallererst möchte ich Douglas A. Anderson, David Brawn und Andrew Palmer für ihren Rat und ihre Unterstützung danken, die über jede Verpflichtung und jeden Freundschaftsdienst hinausging. Ohne ihre Hilfe sowie die von Carl F. Hostetter und Charles Noad hätte ich dieses Buch nie vollenden können. Ganz besonders möchte ich meiner Dankbarkeit gegenüber Christopher Tolkien Ausdruck geben, der nicht nur großzügig die persönlichen Schriften seines Vaters, sondern auch einen beträchtlichen Teil seiner eigenen Zeit mit mir teilte; seine scharfsinnigen Kommentare haben mich vor so manchen Fallstricken bewahrt und die letztendliche Fassung von Tolkien und der Erste Weltkrieg geprägt. Bedanken möchte ich mich auch bei Julia Margretts und Frances Harper, die mir leihweise Briefe und Fotografien von R.Q. Gilson überlassen haben. Und ich danke Christophers Wisemans Witwe Patricia und ihrer Tochter Susan Wood, die sich entgegenkommenderweise mit meinen Fragen befassten und mir erlaubten, aus seinen Briefen zu zitieren.

David Doughan, Verlyn Flieger, Wayne G. Hammond, John D. Rateliff, Christina Scull und Tom Shippey haben mir alle mit ihrer Sachkenntnis und ihrem Verständnis der vielfältigen Aspekte von Tolkiens Leben und seinem Werk geholfen. Insbesondere die wegweisende Arbeit des Letzteren, Der Weg nach Mittelerde, hat mein Verständnis von Tolkiens Werk erweitert. Ohne die Hilfe von Christopher Gilson, Arden R. Smith, Bill Welden und Patrick Wynne wäre ich bei der Erörterung der linguistischen Aspekte gescheitert. Phil Curme, Michael Stedman, Phil Russell, Terry Carter, Tom Morgan, Alfred Peacock und Paul Reed haben mir beim Verständnis von Kitcheners Armee und der Schlacht an der Somme geholfen. Danken muss ich auch all den anderen, die sich für meine endlosen Fragen Zeit genommen haben, darunter Robert Arnott, Reverend Roger Bellamy, Matt Blessing, Anthony Burnett-Brown, Humprey Carpenter, Peter Cook, Michael Drout, Cyril Dunn, Paul Hayter, Brian Sibley, Graham Tayar und Timothy Trought.

Selbstverständlich liegt die Verantwortung für alle verbleibenden Fehler bei Fakten oder Interpretationen allein bei mir.

Für die Hilfe bei meinen Nachforschungen in den verschiedenen Archiven möchte ich mich bei Lorise Topcliffe und Juliet Chadwick vom Exeter College in Oxford bedanken, bei Christine Butler vom Corpus Christi College (ebenfalls in Oxford), bei Kerry York von der King Edward’s School in Birmingham, bei Dr. Peter Liddle von der Brotherton Bibliothek der Universität von Leeds, Tony Sprason vom Lancashire Fusiliers Museum in Bury; Catherine Walker an der Edinburgh Napier University; ebenso geht mein Dank an die Mitarbeiter des Public Record Office in Kew sowie der Abteilungen für Dokumente, Bücher und Fotografien beim Imperial War Museum in Lambeth, des Handschriftenlesesaals der Bodleian Library in Oxford und der Hull Central Library. Mit Genehmigung der Govenors der King Edwards IV Schools und des Rektors und der Fellows vom Exeter College in Oxford durfte ich Kopien von Archivmaterial und Fotografien anfertigen. Cynthia Swallow (geborene Ferguson) bin ich dankbar für die Erlaubnis, Material aus dem Nachlass von Lionel Ferguson verwenden zu dürfen; Mrs T.H.A. Potts und dem verstorbenen Mr T.H.A. Potts für die Erlaubnis, aus dem Nachlass von G.A. Potts zu zitieren; ebenso Mrs S. David für die Erlaubnis, aus dem Nachlass von C.H. David zu zitieren. Bei Zitaten aus anderen Quellen habe ich alles unternommen, um die Inhaber der Rechte ausfindig zu machen.

Michael Cox schulde ich Dank für ein sehr sorgfältiges Lektorat, für seine außergewöhnliche Ausdauer und Geduld mit meinen stilistischen Schwächen. Mein Dank geht auch an Clay Harper, Chris Smith, Merryl Futerman und Ian Pritchard für ihre Hilfe und ihren Rat im Verlauf der Veröffentlichung; an meine Kusine Judith Murphy und ihren Mann Paul für ihre Gastfreundschaft während einer Recherchereise zum Lancashire Fusiliers Museum in Bury in Lancashire; und an den Evening Standard, der mir für die Vollendung dieses Buches eine Auszeit gewährte.

Während der ganzen Zeit sorgten meine Kollegen bei der Zeitung dafür, dass ich den Überblick behielt. Ruth Baillie, Iliriana Barileva, Gary Britton, Patrick Curry, Jamie Maclean, Ted Nasmith, Trevor Reynolds, Dee Rudebeck, Claire Struthers, Dan Timmons, Priscilla Tolkien, A.N. Wilson, Richard Younger und ganz besonders Wendy Hill haben mir in den entscheidenden Momenten die so dringend benötigte Unterstützung und Ermutigung geschenkt. Zu guter Letzt möchte ich mich bei meiner Familie bedanken – bei meinen Eltern Jean und Roy Garth, meinen Schwestern Lisa und Suzanne, meinen Neffen Simeon und Jackson und meiner Nichte Georgia – und mich bei ihnen dafür entschuldigen, dass ich zwei Jahre lang hinter Bergen von Papier verschwand.

TEIL I

DIE UNSTERBLICHEN VIER

PROLOG

Es ist der 16. Dezember, der Winter hat seinen Tiefpunkt fast erreicht. Eisige Böen schlagen den Angreifern entgegen, mühsam kämpfen sie darum, auf dem schlammigen Grund wenige hundert Meter an Boden zu gewinnen. Es ist keine sonderlich schlagkräftige Truppe, die meisten von ihnen haben kaum Erfahrung. Wann immer diesen jungen Männern überhaupt ein gemeinsames Vorgehen gelingt, drängen die wenigen Veteranen mit aller Kraft und all ihrem Können vorwärts. Die meiste Zeit jedoch herrscht Chaos. Immer wieder wehren ihre Gegner die Angriffe mit Leichtigkeit ab und holen zu furchterregenden Gegenschlägen aus; bei aller Erfahrung und Entschlossenheit und trotz kluger Taktik sind die Veteranen häufig machtlos. Ihr Captain J.R.R. Tolkien gibt sein Bestes, doch vergeblich – nach den Worten eines Zeitzeugen sind seine Männer am Ende »ein besiegter Haufen«.

Wir schreiben das Jahr 1913: Noch acht Monate werden vergehen, bis der Große Krieg ausbricht, noch ist alles nur ein Spiel. Tolkien und seine Kameraden sind keine Soldaten, sondern Studenten der Universitäten von Oxford und Cambridge. Zu Weihnachten sind sie nach Birmingham heimgekehrt, und nach altem Brauch treten sie heute gegen die Rugbymannschaft ihrer früheren Schule, die First XV, an.

Mit seinen knapp 22 Jahren gleicht Tolkien noch kaum dem späteren Professor, wie man ihn von den Umschlägen der Biografien kennt, in Tweed gekleidet, mit vielen Lachfalten und der unvermeidlichen Pfeife. John Ronald (wie ihn seine alten Freunde nennen) ist von schmaler, schlanker Statur, doch in seinen Tagen als Stürmer der First XV hat er sich an der King Edward’s School den Ruf eines energischen, entschlossenen Spielers erworben, und inzwischen spielt er in der Mannschaft des Exeter College in Oxford.

Sein Geist gleicht einem Lagerhaus, angefüllt mit Bildern: Erinnerungen an die panische Flucht vor einer giftigen Spinne, an einen grauenerregenden Müller, an ein grünes Tal, von hohen Bergen umgeben; Visionen von Drachen, der Alptraum einer riesigen Woge, die sich über grünen Feldern auftürmt, und vielleicht auch schon die Ahnung von glückseligen Landen jenseits der Meere. Noch ist es ein Lagerhaus, keine Werkstätte, noch ist er nicht der Schöpfer von Mittelerde – doch hat Tolkien gerade glücklich einen großen Schritt auf dem Weg dorthin getan. Nach einem mittelmäßigen Ergebnis bei der Zwischenprüfung hat er sich vom Studium der klassischen Antike, von Latein und Griechisch verabschiedet und stattdessen Chaucer und dem Beowulf zugewandt, studiert nun den Ursprung und die Entwicklung der englischen Sprache. Das ist nur konsequent, denn schon seit jungen Jahren gilt seine Liebe den nordischen Sprachen und ihren Dichtungen, die immer seine Vorstellungswelt befeuern werden. Nicht mehr lange, und er wird einen ersten Blick auf Mittelerde werfen. Weit entfernt in einer noch nicht erdachten Zukunft kräht ein Hahn in einer belagerten Stadt, und als Antwort erschallen laute Hörner von den Bergen.

Auf dem Rugbyfeld ist Tolkien allerdings heute nicht ganz auf der Höhe. Am Tag zuvor hätte er eigentlich die traditionelle Debatte der ehemaligen Schüler mit der These von einer überzivilisierten Welt eröffnen sollen, aber wegen einer plötzlichen Erkrankung hatte er absagen müssen.

Die meisten seiner Mannschaftskollegen aus der früheren First XV, die heute mit ihm auf dem Platz stehen, haben seit ihrem Abschied von der Schule nicht mehr Rugby gespielt. Der große Christoper Wiseman mit dem Löwenkopf und der breiten Brust, früher als Stürmer Seite an Seite mit Tolkien im »Gedränge«, hat am Peterhouse College in Cambridge wegen seit langem bestehender Herzprobleme sowohl Rugby als auch Rudern aufgegeben. Heute ist er im hinteren Spielfeld in der etwas ruhigeren Dreiviertelreihe positioniert, neben einem anderen Altgedienten, Sidney Barrowclough. Manche auf dem Platz waren nie gut genug, um in der First XV gegen andere Schulen anzutreten, aber alle Jungen an der King Edward’s School haben Rugby gespielt. Für den schulinternen Wettstreit war die Schule damals in vier Gruppen oder »Häuser« aufgeteilt; und die meisten von denen, die am heutigen Dezembertag in Tolkiens Mannschaft spielen, haben zum gleichen Haus wie er gehört. Doch eigentlich stammt der Kampfgeist der heutigen Mannschaft ohnehin nicht vom Rugbyfeld, sondern hat seinen Ursprung in der alten Schulbibliothek.

Tolkien und Christopher Wiseman lernten einander 1905 kennen. Im Alter von zwölf Jahren war Wiseman bereits ein talentierter Hobbymusiker; eine seiner Kompositionen aus dieser Zeit wurde schließlich in das Gesangsbuch der Methodistenkirche aufgenommen. Durch seinen Vater, Reverend Frederick Luke Wiseman, Leiter der wesleyanisch-methodistischen Missionsgesellschaft von Birmingham, war er mit Händel aufgewachsen, und seine Mutter Elsie hatte ihm die Liebe zu Brahms und Schumann mitgegeben; ganz besonders mochte er deutsche Choräle. Seine Freundschaft zu Tolkien jedoch begann auf dem Rugbyfeld. Beide spielten in Rot, in der Mannschaft des Measures-Hauses (benannt nach seinem Hausvorsteher), und beteiligten sich an dem heftigen Wettstreit mit dem Richards-Haus, dessen Spieler Grün trugen. Später kämpften sie Seite an Seite in der Schulmannschaft First XV. Vor allem aber trafen sich die beiden Jungen auf geistiger Ebene. Wiseman war zwar ein Jahr jünger als Tolkien, konnte ihm aber intellektuell durchaus das Wasser reichen und jagte ihm an der King Edward’s School auf der akademischen Leiter hinterher. Beide lebten in Edgbaston, einem Stadtteil von Birmingham, Christopher in der Greenfield Crescent, John Ronald neuerdings eine Straße weiter in der Highfield Road. Den Schulweg entlang der Broad Street und Harborne Road legten sie gemeinsam zurück, wobei sie heftige Diskussionen führten: Wiseman war von seiner politischen Einstellung her ein Liberaler, er gehörte der wesleyanischen Methodistenkirche an und liebte die Musik, während Tolkien von Natur aus konservativ, römisch-katholisch und (nach Wisemans Ansicht) vollkommen unmusikalisch war. Es war eine Freundschaft zweier ungleicher Jungen, aber gerade deshalb umso fruchtbarer. Sie stritten mit einer Heftigkeit, die nur wenige Freundschaften überlebt hätten, doch diese Meinungsverschiedenheiten besiegelten nur das starke Band zwischen ihnen. Entsprechend bezeichneten sie sich insgeheim als die Great Twin Brethren.[1] Selbst Vincent Trought, ihr bester Freund sowohl auf dem Rugbyfeld als auch abseits des Spiels, hatte keinen Anteil an dieser engen Verbindung.

Gegen Ende seines letzten Schuljahrs an der King Edward’s School wurde Tolkien für kurze Zeit zum Bibliothekar ernannt. Um sein kleines Königreich zu verwalten, rief er Wiseman zu Hilfe, der wiederum auf Trought als weiterem Hilfsbibliothekar bestand. Zu dieser Zeit war Tolkien bereits ein Platz in Oxford sicher, und so konnte er sein Leben recht entspannt angehen. Bald herrschte im Büro der Bibliothek ein höchst lebhaftes Treiben, doch die dort versammelte Clique konnte mit der Nachsicht des Schulleiters rechnen, denn dessen Sohn Robert Quilter Gilson war mit von der Partie.

Alle Freunde Tolkiens verfügten über bemerkenswerte intellektuelle Fähigkeiten. Sie dominierten jede Debatte und jede Schulaufführung, sie bildeten den Kern des Literaturklubs, vor dem Tolkien nordische Sagen vortrug, Wiseman sich über die Texte von Historikern ausließ, Gilson sich für den Kunstkritiker John Ruskin begeisterte und Trought einen bemerkenswerten Vortrag hielt, der später als das »beinahe letzte Wort« über die Romantiker bezeichnet wurde. Mit ihrem Enthusiasmus überflügelte diese kleine Künstlerclique andere Jungen, die ansonsten das Schulleben bestimmt hätten. Im täglichen Wettstreit unter den Schülern war dies ein Triumph des Measures-Hauses über das Richards-Haus, der Roten über die Grünen; für Tolkien und seine Freunde aber war es vor allem ein moralischer Sieg über Zyniker, die sich nach Wisemans Worten über alles lustig machten und sich dafür über Nichtigkeiten erregten.

Die meiste Zeit verfolgten die Bibliothekare allerdings weniger hehre Ziele – in erster Linie ging es ihnen darum, einander zum Lachen zu bringen. Im Sommer des Jahres 1911, dem heißesten der letzten vier Jahrzehnte, brodelten Arbeiterunruhen in Großbritannien, und die Bevölkerung der Städte war (wie ein Historiker es ausdrückte) »psychisch nicht ganz normal«. Die kleine Zuflucht in der Bibliothek wurde zur Brutstätte hochfliegender Pläne, surrealer Gedankenspiele und jeder Menge Albernheiten. Während die Prüfungen das Schulleben ansonsten eher zum Erliegen brachten, brühten die Bibliothekare heimlich Tee auf einem Spirituskocher und organisierten Festgelage, zu denen jeder etwas beisteuerte. Bald traf sich der Tea Club auch außerhalb der Schulzeiten, in der Teestube des Kaufhauses Barrow’s Stores, woher der alternative Name Barrovian Society (Barrow’sche Gesellschaft) stammt.

Im Dezember 1913 ist Tolkien selbst nach über zwei Jahren in Oxford noch immer Mitglied der Tea Club and Barrovian Society, oder TCBS, wie sie inzwischen genannt wird. Noch immer hält die Clique ihre Treffen, die sogenannten »Barrovians« ab, nach wie vor geht es vor allem darum, Spaß zu haben. Mitglieder haben gewechselt, aber Christopher Wiseman und Rob Gilson bilden weiterhin den Kern, zusammen mit einem kürzlich aufgenommen Jungen namens Geoffrey Bache Smith. Alle vier stehen heute auf dem Spielfeld, ein weiterer TCBSler ist Sidney Barrowclough, zusammen mit Wiseman in der Dreiviertelreihe. Ein hervorragender Schlussmann fehlt allerdings: Vincent Trought ist nach langer Krankheit vor fast zwei Jahren gestorben, der erste Verlust der TCBS.

Beim heutigen Spiel der Studenten aus Oxford und Cambridge geht es nicht nur um Sport: Die alten Schulfreunde feiern das Wiedersehen, am Tag zuvor hat die Debatte stattgefunden, am Abend wird es ein gemeinsames Essen geben. Deswegen, nicht wegen des Rugbys, steht der so gesellige Rob Gilson heute im Sturm. (Auch bei der Debatte ist er in letzter Minute für Tolkien eingesprungen). Sein Herz schlägt eher für Kreide und Tinte als für Schlamm und Schweiß. Schwer zu sagen, was seine Künstlernatur am deutlichsten zum Ausdruck bringt: der empfindsame, beinahe präraffaelitische Mund oder der ruhige, abwägende Blick. Seine größte Leidenschaft gilt den Bildhauern der florentinischen Renaissance, voller Begeisterung und mit viel Kenntnis spricht er von Brunelleschi, Lorenzo Ghiberti, Donatello und Luca della Robbia. Wie John Ronald zeichnet und malt Rob häufig selbst. Sein erklärtes Ziel ist es, die Wahrheit festzuhalten, nicht lediglich den Hunger nach Schönheit zu befriedigen (obgleich ein Besucher in seinem Zimmer am Trinity College in Cambridge einmal sarkastisch anmerkte, es gebe dort nur einen einzigen bequemen Sitzplatz, alles andere seien Kunstgegenstände). Nach dem Ende seiner Schulzeit hat er Frankreich und Italien bereist und dort Kirchen gezeichnet. Er studiert Classics,[2] möchte aber Architekt werden und plant für die Zeit nach seinem Universitätsabschluss 1915 eine mehrjährige Berufsausbildung.

Zusammen mit Gilson steht G.B. Smith Gilson im Gedränge. Der extrem belesene Student sieht sich selbst als Dichter, und seine Interessen reichen von W.B. Yeats bis hin zu den frühen englischen Balladen, von der englischen Literatur des frühen 18. Jahrhunderts bis zum walisischen Mabinogion. Auch wenn er früher zum Richard-Haus gehört hat, zieht es ihn doch hin zur TCBS, und seit er am Corpus Christi College in Oxford sein Geschichtsstudium begonnen hat, nur wenige Minuten zu Fuß vom Exeter College entfernt, sind er und Tolkien noch engere Freunde geworden. Der schlagfertige und geistreiche »GBS« liebt seine Initialen, die mit denen von George Bernhard Shaw übereinstimmen, dem berühmtesten Redner jener Zeit. Obgleich er aus einer Familie von Kaufleuten stammt, möchte er sich nach seinem Abschluss als Historiker weiter spezialisieren. Rugby war nie seine Leidenschaft.

Gegen seinen erklärten Willen steht auch T.K. Barnsley, bekannt als »Tea-Cake«, im Sturm. Der stets gut aufgelegte junge Mann dominiert mit seinem Wortwitz häufig die TCBS,1 gefällt sich in sarkastischen Bemerkungen wie »Volle Punktzahl!« und »Nun bekomme ich aber kalte Füße« und macht mit seinem Motorrad auf halsbrecherische Weise Cambridge unsicher, obwohl ein solches Betragen höchst unpassend für einen künftigen wesleyanischen Geistlichen ist. Er und Smith spielen in Tolkiens Mannschaft nur unter der Bedingung mit, dass auch Rob Gilson mit dabei ist. Rob bezeichnet das als »vergiftetes Kompliment«: Die beiden wissen nämlich sehr wohl, dass er als Rugbyspieler sogar noch schlechter ist als sie.

Und so wird Tolkiens Sturm durch die mangelnde Erfahrung von Gilson, Smith und T.K. Barnsley arg geschwächt. Den größten Teil des Kampfes müssen die Spieler der defensiven Dreiviertelreihe bestreiten, darunter die altgedienten Kämpen Wiseman und Barrowclough. Barrowclough, sonst eher für sein Phlegma bekannt, durchbricht quer über ein halbes Spielfeld die gegnerischen Reihen und kann den Ball im gegnerischen Feld ablegen, ein solcher »Versuch« wird ihm später noch ein weiteres Mal gelingen. Von nun an machen die jüngeren Gegner jedoch unerbittlich Druck, und nur dem geschickten »Tackling« (dem Festhalten des Gegners im Zweikampf) von Barrowclough und Wiseman ist es zu verdanken, dass die Schule nicht noch stärker in Führung geht. Nach der ersten Halbzeit steht es elf zu fünf für die First XV. Die Mannschaften wechseln die Seiten, und nun, da der Wind günstig steht, gelingt Barrowclough sein zweiter »Versuch«, und wieder kann der Gedrängehalb-Spieler mit einem anschließenden Schuss zwischen die Pfosten zwei zusätzliche Punkte erzielen. In den letzten Minuten baut die Schulmannschaft allerdings ihre Führung auf vierzehn zu zehn aus. Trotz aller Kameradschaft muss sich Tolkiens dilettantische Truppe geschlagen geben.

Am Abend aber treffen sich die Freunde zum Dinner, und die TCBS neigt schließlich nicht dazu, irgendetwas allzu ernst zu nehmen. Es sind sorglose Tage, das Glück scheint eine Selbstverständlichkeit. Bei seinem Abschied von der King Edward’s School 1911 schreibt Tolkien in der Schulzeitung: »Die Straße war gut, vielleicht bisweilen ein wenig holprig, aber es heißt, später würde sie noch holpriger …«

Niemand ahnte damals, wie schlimm die Straße in den kommenden Jahren noch werden würde, niemand sah das Gemetzel voraus, auf das diese Generation zusteuerte. Sogar jetzt im Jahr 1913, als die Zeichen sich mehren, dass der »überzivilisierten Welt« ein Krieg bevorsteht, ist nicht abzusehen, wann er ausbrechen und welche Ausmaße dieser Weltenbrand annehmen wird. In kaum vier Jahren werden von den fünfzehn jungen Männern der heutigen Mannschaft vier verwundet sein, vier weitere tot[3] – unter ihnen T.K. Barnsley, G.B. Smith und Rob Gilson.

Jeder achte britische Soldat im Ersten Weltkrieg starb. Die Verluste innerhalb von Tolkiens Mannschaft waren mehr als doppelt so hoch, aber unter den ehemaligen Schülern der King Edward’s School und der öffentlichen Schulen sieht es kaum anders aus – jeder fünfte ließ sein Leben. Ähnlich sind auch die Verluste unter den ehemaligen Studenten von Oxford und Cambridge; die meisten von ihnen wurden untergeordnete Offiziere, mussten Einsätze leiten und Angriffe anführen. Es ist aus der Mode gekommen, Oxford, Cambridge oder den geistigen Eliten im Allgemeinen viel Anerkennung zu zollen; aber es ist eine Tatsache, dass der Große Krieg von ihnen einen grausameren Tribut forderte als von jeder anderen Gesellschaftsschicht. Tolkiens Zeitgenossen sprachen von der Verlorenen Generation. Im Vorwort zur zweiten Ausgabe des Herrn der Ringe schrieb Tolkien: »1918 waren alle meine guten Freunde tot, bis auf einen.«

KAPITEL 1
DAVOR

Wäre John Ronald Reuel Tolkien als Kind nicht so kränklich gewesen, so hätte ihn der Krieg schon vor seinem siebten Geburtstag heimgesucht. Am 3. Januar 1892 kam er in Bloemfontein zur Welt, in der Hauptstadt des Oranje-Freistaats, der als eine von zwei Burenrepubliken die Unabhängigkeit von der britischen Herrschaft im südlichen Afrika errungen hatte. Sein Vater leitete dort eine Filiale der Bank of Africa; Arthur Tolkiens Verlobte Mabel Suffield war ihm kurz nach seiner Ankunft aus England nachgefolgt und das Paar hatte in Kapstadt geheiratet. Für die niederländischen Buren in Bloemfontein waren sie Uitlanders, Ausländer, denen man wenige Rechte zugestand und hohe Steuern für Privilegien aufbürdete. Der Reichtum der Region mit ihren Gold- und Diamantenminen zog dennoch viele von ihnen an. 1894 kam dann ein zweiter Junge, Hilary, auf die Welt, doch der ältere Bruder litt so sehr unter dem heißen Klima, dass Mabel im darauffolgenden Jahr beide Kinder für einen Urlaub nach Birmingham brachte. Sie kehrten nicht mehr zurück – im Februar 1896 starb Arthur Tolkien am rheumatischen Fieber. Mabel Tolkien und ihren Söhnen blieben so die Schrecken des Burenkriegs erspart, der Ende 1898 wegen des Streits über die Rechte der Uitlanders ausbrach.

Zurück im sicheren England zog Mabel die Jungen alleine groß. Zunächst bewohnten sie ein bescheidenes Cottage im Dorf Sarehole außerhalb von Birmingham, und während der ersten vier Jahre unterrichtete sie die beiden Jungen in der ländlichen Idylle selbst. Die ältere Welt war in Klima und Charakter ein vollkommener Kontrast zu dem, was der junge John Ronald bislang gekannt hatte, und hinterließ einen tiefen Eindruck, an den er sich später erinnerte: »Wenn der erste Weihnachtsbaum in deinem Leben ein welkender Eukalyptus ist und man beständig unter Hitze und der Sonne leidet, sich dann aber ganz plötzlich in einem ruhigen Dorf in Warwickshire wiederfindet (und das in einem Alter, in dem gerade die Vorstellungskraft erwacht) …, dann entwickelt man unweigerlich eine besondere Vorliebe für die ländliche Gegend von ›Mittelengland‹, mit seinem guten Wasser, den Steinen, Ulmen, den gemächlichen Bachläufen und … der bäuerlichen Bevölkerung …« Im Jahr 1900 erhielt John Ronald allerdings einen Platz an der King Edward’s School, und um eines kürzeren Schulwegs willen zog Mabel mit ihren Kindern zurück in das industrielle Birmingham. Zum Ärger sowohl der Suffields als auch der Tolkiens konvertierte Mabel wenig später aus Überzeugung zum Katholizismus. Infolgedessen besuchten die Jungen eine römisch-katholische Schule, die von den Priestern der Oratorianerkirche in Birmingham geleitet wurde. Tolkien, seinen Klassenkameraden weit voraus, kehrte 1903 an die King Edward’s School zurück, blieb aber sein Leben lang Katholik. Seine an Diabetes erkrankte Mutter fiel im November 1904 in ein Koma und starb, und John Ronalds Empfinden nach war sie einen Märtyrertod gestorben, um ihre Söhne im Glauben großzuziehen.

Vor Mabels Tod hatte die Familie für eine Weile außerhalb der Stadtgrenzen in einem Cottage in Rednal in Worcestershire gelebt. Doch nun fand der Vormund der Jungen, Pater Francis Morgan vom Oratorium, für die beiden eine Unterkunft in Edgbaston, und nach einem weiteren Umzug begegnete der sechzehnjährige Tolkien der neunzehnjährigen Edith Bratt, die im gleichen Haus ein Zimmer bewohnte. Sie war hübsch, eine talentierte Klavierspielerin und ebenfalls eine Waise, und als 1909 der Sommer zur Neige ging, hatten die beiden sich ineinander verliebt. Noch im gleichen Jahr allerdings bekam Pater Francis Wind von der Romanze und untersagte jeden weiteren Kontakt mit Edith. Tief getroffen, aber gehorsam, ging Tolkien nun ganz in seinen Schulfreundschaften, der TCBS und dem Rugby auf – er wurde Mannschaftskapitän. Bald darauf schaffte er (im zweiten Anlauf) die Aufnahme an die Universität von Oxford und erhielt ein Stipendium über 60 Pfund im Jahr für das Studienfach Classics.

Mabel Tolkien hatte ihrem ältesten Sohn die Liebe zur Malerei vermittelt. In sein erstes Skizzenbuch zeichnete er Seesterne und Wasserpflanzen; die Eindrücke eines anderen Strandurlaubs, 1910 in Whitby, hielt er in Bildern von Bäumen, Landschaften und Gebäuden fest. Tolkiens Zeichnungen sind eher ästhetische und emotionale Reaktion als eine genaue Wiedergabe, die Figuren und Porträts im besten Fall komisch oder stilisiert, im schlimmsten Fall rudimentär, und er blieb zeitlebens bescheiden, was seine Fähigkeiten als Zeichner und Maler betraf. Seine größte Stärke lag in der Gestaltung und Verzierung, berühmte Beispiele sind seine ikonografischen Cover zu Der Hobbit und Der Herr der Ringe.

Über Mabel erbte Tolkien auch die Vorliebe ihres Vaters John Suffield für Kalligrafie, dessen Vorfahren Drucker und Graveure gewesen waren. Mabels eigene Handschrift war stilistisch sehr ausgeprägt, sie versah viele Buchstaben mit Schnörkeln, und waagerechte Striche führte sie oft schwungvoll nach oben aus. Tolkien bevorzugte mit der Zeit für formale Anlässe eine kalligrafische Schrift, die von der mittelalterlichen Foundational Hand abgeleitet war, und als junger Mann schrieb er offenbar jedem seiner Freunde in einer speziellen Handschrift. In späteren Jahren, als er seine Entwürfe eilig zu Papier brachte, ähnelte sein Gekrakel allerdings am ehesten einem bei rasendem Puls aufgezeichneten Elektrokardiogramm.

Tolkien lernte mit vier Jahren lesen und verschlang die damals beliebten Kinderbücher: The Pied Piper of Hamelin (Der Rattenfänger von Hameln) von Robert Browning oder die Märchen von Hans Christian Andersen, die er nicht leiden konnte; Indianergeschichten; The Princess and the Goblin (Die Prinzessin und die Kobolde) von George MacDonald oder die Märchensammlungen von Andrew Lang, die eine Sehnsucht nach Abenteuern in ihm weckten. Insbesondere dürstete er nach Geschichten von Drachen.

Allerdings waren es nicht Märchen, die ihn als Kind in erster Linie prägten. »Ich bin mit den Klassikern aufgewachsen«, schrieb er später, »und literarisches Vergnügen habe ich zuerst bei Homer kennengelernt«. Als er elf Jahre alt war, sagte ein Orato- riums-Priester zu Mabel, Tolkien habe »schon zu viel gelesen, alles, was für einen Jungen unter fünfzehn geeignet sei, und er wisse nicht eine klassische Sache, die er ihm noch empfehlen könnte«. Durch das Studium der alten Sprachen, insbesondere durch die von der Schule verlangten Übersetzungen englischer Verse ins Lateinische oder Griechische, wurde Tolkiens Sinn für Poesie geweckt. Als Kind hatte er Gedichte in Büchern für gewöhnlich überblättert. R.W. Reynolds, sein Lehrer an der King Edward’s School, versuchte vergeblich, ihn für die großen englischen Dichter, etwa für Keats oder Milton zu interessieren. Dagegen schätzte Tolkien in höchstem Maße den katholischen Mystiker Francis Thompson für seine metrisch vollendeten, sprachgewaltigen Verse, seine große Bildhaftigkeit und den visionären Glauben, der seinem Werk innewohnte. Thompson, der nach seinem frühen Tod 1907 ungemein beliebt war, scheint auch Tolkien in seinen ersten Versuchen, eigene Verse zu schreiben, beeinflusst zu haben. In dem Gedicht ›Wood-sunshine‹ geht es wie in einem Teil von Thompsons ›Sister Songs‹ um die Vorstellung von im Wald lebenden Elfen:

Come sing ye light fairy things tripping so gay,

Like visions, like glinting reflections of joy

All fashion’d of radiance, careless of grief,

O’er this green and brown carpet; nor hasten away.

O! come to me! dance for me! Sprites of the wood,

O! come to me! Sing to me once ere ye fade!

Kommt, singt ihr lichten Feen, in heiterem Tanz

Wie Gesichte, wie schimmernde Spiegelbilder der Freude,

Aus reinem Glanz gebildet, unbekümmert von Leid,

Über diesen grün-braunen Teppich hin; doch eilet nicht davon.

O kommt her zu mir! Tanzt für mich, Waldgeister!

O kommt her zu mir! Singt für mich, einmal, eh’ ihr verschwindet!

Auch die Verse in William Morris’ pseudo-mittelalterlichen Romanen hinterließen in Tolkiens frühesten Dichtungen ihre Spuren.

Von Bedeutung war Morris auch durch seine Verbindung zum Exeter College, wo er und sein Kommilitone Edward Burne-Jones (ein ehemaliger King Edward’s-Schüler) zum ersten Mal von der Präraffaelitischen Bruderschaft gehört hatten und von ihr inspiriert worden waren. Tolkien verglich einmal die TCBS mit den Präraffaeliten, vermutlich, da es der Bruderschaft um eine Rückbesinnung auf mittelalterliche Werte in der Kunst ging. Bezeichnenderweise widersprach Christopher Wiseman dem aber und hielt den Vergleich für weithergeholt.

Mabels Versuchen, ihren ältesten Sohn das Klavierspielen zu lehren, war kein Erfolg beschieden. Wie Humphrey Carpenter in seiner Tolkien-Biografie schreibt, »schien es, als nähmen bei ihm Wörter die Stelle der Musik ein, und er genoss es, sie zu hören, sie vorzulesen oder zu rezitieren, fast ohne sich darum zu kümmern, was sie bedeuteten«. Seine große sprachliche Begabung war offensichtlich, insbesondere sein Gespür für den charakteristischen Klang fremder Sprachen. Schon bevor er die Schule besuchte, hatte seine Mutter ihn in Französisch und Latein unterrichtet, doch keine dieser beiden Sprachen hatte für ihn einen besonderen Reiz. Im Alter von acht Jahren erregten seltsame Namen auf Kohlewaggons seine Aufmerksamkeit, der Grundstein für seine Liebe zum Walisischen. Manche der historischen oder mythischen Namen zogen ihn allein durch ihren Klang an, und später schrieb er: »Der Fluss der griechischen Sprache, funkelnd an der Oberfläche, immer wieder durchbrochen von harschen Lauten, schlug mich in seinen Bann … und ich versuchte eine Sprache zu erfinden, die das Eigentümliche des Griechischen enthalten sollte …« – dies im Alter von zehn, noch bevor er überhaupt begonnen hatte, Griechisch zu lernen, zu der Zeit, als er Geoffrey Chaucer las. Ein Jahr später erwarb er Chambers’ Etymological Dictionary und erhielt so erstmals Einblick in das Prinzip der »Lautverschiebung«, durch das sich Sprachen fortentwickeln.

Dies eröffnete ihm eine neue Welt. Die wenigsten Menschen machen sich je Gedanken über die Herkunft ihrer Muttersprache, genauso wenig wie über die geologischen Formationen unter ihren Füßen. Tolkien war auf das Phänomen sprachlicher Veränderung bereits durch das Mittelenglisch in Chaucers Werken gestoßen. Schon den alten Römern war aufgefallen, dass einige Wörter im Lateinischen und Griechischen ähnlich klangen – manche schlossen daraus auf eine Verwandtschaft. Im Lauf der Jahrhunderte hatte man in immer mehr Sprachen solche Ähnlichkeiten gefunden und anhand einer eher willkürlichen Bestandsaufnahme wilde Thesen über einen gemeinsamen Ursprung aller Sprachen aufgestellt. Erst im 19. Jahrhundert begann man, diese Zusammenhänge mittels der vergleichenden Sprachwissenschaft systematisch zu erforschen. Deren zentrale Entdeckung besagte, dass Sprachen sich nicht rein zufällig, sondern nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten verändern. Es gelang den Sprachwissenschaftlern, Lautgesetze aufzustellen, nach denen sich bestimmte Laute in verschiedenen Stadien der Sprachentwicklung gewandelt hatten. Durch das Chambers Dictionary wurde Tolkien mit dem berühmtesten dieser Lautgesetze bekannt, das Jakob Grimm fast ein Jahrhundert zuvor formuliert hatte: Gemäß dieser »Ersten« oder auch »Germanischen Lautverschiebung« hatte sich eine ganze Reihe von Lauten verändert, und so waren die Wörter patér im Griechischen, pater im Lateinischen, aber father im Englischen und vatar im Althochdeutschen entstanden, alle aus einer gemeinsamen, vergessenen Wurzel heraus. Ganz offensichtlich waren diese (allerdings nicht alle) Sprachen miteinander verwandt, und diese Verwandtschaft konnte man analysieren; darüber hinaus konnte man durch die Vergleiche Teile einer gemeinsamen Ursprache rekonstruieren – des Indogermanischen, einer Sprache aus lang vergangenen Zeiten, von der es keinerlei Überlieferung gab. All dies war zwar keine leichte Kost, wirkte jedoch auf den Jungen geradezu berauschend und sollte ihn sein ganzes Leben prägen.

Zu eben dieser Zeit, als er über die Erste Lautverschiebung las, hatte Tolkien damit begonnen, eigene Sprachen zu erfinden. Zum einen reizte ihn der Spaß an einer Geheimsprache, zum anderen war es ihm ein ästhetisches Vergnügen. Auf Nevbosh, ein Potpourri aus verfremdeten lateinischen und altgriechischen Wörtern, das ursprünglich ein Cousin initiiert hatte, folgte 1907 das sorgfältiger konstruierte Naffarin, das vom Spanischen inspiriert worden war (und damit von dem halb walisischen und halb anglospanischen Pater Francis). Während seiner letzten vier Jahre an der King Edward’s School besuchte Tolkien die Oberstufe, die vom Schulleiter Robert Cary Gilson unterrichtet wurde, der ihn dazu anregte, sich mit der Geschichte des Lateinischen und Griechischen zu beschäftigen. Tolkiens eigenwillige Vorlieben führten ihn jedoch bald wieder weg von der Welt der Klassiker. Ein früherer Klassenlehrer, George Brewerton, lieh Tolkien eine Einführung ins Altenglische, die er in seiner Freizeit studierte. In der Schule glänzte er im Deutschen und gewann im Juli 1910 in diesem Fach den ersten Preis, doch 1908 hatte er Joseph Wrights Primer of the Gothic language (Einführung in die Gotische Sprache) entdeckt, und diese längst ausgestorbene germanische Sprache aus den Frühzeiten der Geschichtsschreibung eroberte sein linguistisches Herz im Sturm.

Andere hätten vielleicht solche schwer vermittelbaren Interessen eher für sich behalten, Tolkien dagegen machte aus seiner Begeisterung für die Philologie keinen Hehl. Rob Gilson beschreibt ihn als »eine ausgesprochene Autorität auf dem Gebiet der Etymologie – ein Enthusiast«, und vor der obersten Klasse hielt Tolkien einmal einen Vortrag über die Ursprünge der europäischen Sprachen. Entgegen der strikten Orientierung an den Klassikern, die an der King Edward’s School vermittelt wurde, ging er völlig in der Rolle des Außenseiters auf. Kämpferisch verkündete er der literarischen Gesellschaft, in der Völsunga saga, der Geschichte vom Drachentöter Sigurd, offenbare sich »größtes Genie, ein Genie, das sich aus einer barbarischen Welt zur vollkommenen und gänzlich bewussten Humanität emporkämpft«. Und während einer der jährlichen Debatten, die auf Latein abgehalten wurden, sprach er sogar einmal Gotisch.

Das bekannte gotische Vokabular war beschränkt, und das stellte Tolkien vor eine schwierige, aber reizvolle Aufgabe. Er versuchte, sich das nicht überlieferte Gotische vorzustellen. Er erfand gotische Wörter; nicht willkürlich, sondern basierend auf dem, was er über die Gesetzmäßigkeiten der Lautverschiebung wusste. Ausgehend von den überlebenden, verwandten germanischen Sprachen extrapolierte er die »verlorenen« Wörter – eine linguistische Methode, die an die Triangulation erinnert, mit der Landvermesser auf die Höhe von entfernt liegenden Landmarken schließen. Diese »Privatsprache« erwähnte er abgesehen von Eintragungen in seinem Tagebuch nur selten, denn sie hielt ihn oft von der »richtigen« Arbeit für die Schule ab, doch er gewann für sein Gotischprojekt in Christopher Wiseman einen Mitstreiter. Wiseman erinnerte sich später selbstkritisch:

Zusammen mit Cary Gilson Homer zu lesen, das entfachte in mir eine Leidenschaft, die bei Tolkien bereits hell brannte – das Interesse an der Sprachwissenschaft. Tatsächlich war John Ronald schon so weit, dass er eine Sprache L und dazu eine Sprache LL erdacht hatte, zu der sich L in einigen Jahrhunderten entwickelt haben würde. Er wollte mir diese erfundenen Sprachen beibringen und schrieb eine Postkarte. Er hat später behauptet, ich hätte in derselben Sprache geantwortet, doch ich glaube, in diesem Punkt hat er sich geirrt.

Die beiden führten leidenschaftliche Debatten, die sich häufig um Sprachwissenschaft drehten, und Wiseman sagte viele Jahrzehnte später, das Erfinden von Sprachen sei ein Grundstein für ihre Jugendfreundschaft gewesen. Es mag seltsam erscheinen, dass Jugendliche auf diese Weise ihre Zeit verbringen; Tolkien empfand das jedoch nicht so und betonte später: »Das ist nichts Ungewöhnliches, müssen Sie wissen. Viele Jungen tun so etwas … Wenn es bei einem Großteil des Schulstoffs um Sprache geht, dann werden auf diesem Gebiet auch schöpferische Versuche gemacht, selbst wenn es an Talent mangelt.« Das Erfinden von Sprachen befriedigte einerseits einen schöpferischen Drang, zugleich hatte man damit aber auch eine Art von Gaunersprache, »wie sie eine geheime und verfolgte Gemeinschaft benötigen würde«, oder zumindest konnte man sich so fühlen – wie im Fall der Great Twin Brethren –, »als würde man einer solchen angehören«.

Es ist nicht bekannt, ob Wiseman auch an einem anderen von Tolkiens Projekten beteiligt war – der Erfindung von »Gautisk«, einer »nicht überlieferten« germanischen Sprache, und es ist unwahrscheinlich, dass sich sonst jemand aus der TCBS an seinen Sprachschöpfungen beteiligte.[4]Der FriedenDie Wolken.