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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung

Mittelweg 36

20148 Hamburg

www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2015 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-648-4

© 2015 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-292-9

© der Originalausgabe 2015 by Polity Press, Cambridge, UK

Titel der Originalausgabe: »The End of Represantative Politics«

Umschlaggestaltung und Grafik: Wilfried Gandras

Satz aus der DTL Albertina ST von Dörlemann Satz, Lemförde

Inhalt

Einführung

1 Konturen einer »Krise«

2 Die »repräsentative Politik« verorten

3 Werden wir unrepräsentierbar?

4 Ist die Partei am Ende? – Is the party over?

5 Bürger gegen Repräsentation

6 Demokratie nach der Repräsentation

Danksagung

Literaturverzeichnis

Zum Autor

Simon Tormey

Vom Ende der
repräsentativen Politik

Aus dem Englischen von
Sonja Schuhmacher und
Bernhard Jendricke

Hamburger Edition

Einführung

In der Politikwissenschaft gibt es nicht viele Binsenweisheiten, doch die Ansicht, die Repräsentation gehöre zum Wesenskern eines jeden Systems demokratischer Herrschaft, gilt vermutlich als Selbstverständlichkeit. Manche Menschen sprechen und handeln im Namen einer Gruppe, eines politischen Anliegens oder Ziels und repräsentieren damit die Gruppe und das Anliegen; andere verstehen sich in diesem Diskurs als Objekt und fühlen sich von ihm repräsentiert. Manche haben als Repräsentanten Macht inne; andere werden repräsentiert. »Für andere zu sprechen« und »vertreten zu werden« ist laut Hanna Pitkin, Autorin des Grundlagenwerks zu diesem Thema, The Concept of Representation, fundamental für das Verständnis des politischen Geschehens. In Pitkins Worten: »In der Moderne möchte fast jeder von Repräsentanten regiert werden […]; jede politische Gruppe oder jedes politische Ziel wünscht sich Repräsentation; jede Regierung beansprucht zu repräsentieren.«1

Nur wenige Leser Pitkins sahen einen Grund, ihre Analyse infrage zu stellen, als sie 1967 veröffentlich wurde. Inzwischen jedoch erscheint sie zunehmend problematisch. Der Behauptung, fast jeder wolle »von Repräsentanten regiert werden«, steht eine anwachsende Fülle von Belegen entgegen, die darauf schließen lassen, dass viele Menschen von der Politik und den Politikern desillusioniert oder im Begriff sind, es zu werden – desillusioniert von unseren Repräsentanten und der Repräsentation.2 Im Vergleich mit den 1960er Jahren gehen wir seltener zur Wahl, wenn überhaupt. Immer weniger Menschen treten einer politischen Partei bei, immer weniger sind an Staatsbelangen und an der politischen Klasse interessiert (es sei denn, sie produziert einen Skandal). Die Bürger der fortgeschrittenen Demokratien trauen Politikern weniger über den Weg als jedem anderen Berufsstand, einschließlich Gebrauchtwagenhändlern. Angesichts solch alarmierender Indikatoren wollte der britische Guardian kürzlich in einer Umfrage wissen, ob die repräsentative Demokratie im »endgültigen Niedergang« begriffen sei.3

Was den zweiten Teil von Pitkins Feststellung betrifft (»jede politische Gruppe oder jedes politische Ziel wünscht sich Repräsentation«), stellen viele neu entstehende politische Gruppen und Initiativen explizit und implizit in Abrede, das Erbe der repräsentativen Politik antreten zu wollen. Occupy zum Beispiel weist ähnlich wie andere kürzlich entstandene Bewegungen die Vorstellung von sich, repräsentieren zu wollen, auch wenn sie behauptet: »Wir sind die 99 Prozent.« Lassen wir vorläufig die Frage beiseite, ob und in welchem Maße solche Erklärungen erfüllen, was sie beanspruchen: Repräsentation zu vermeiden, sie infrage zu stellen und hinter sich zu lassen. Zunächst einmal wollen wir uns mit dem Repertoire der Mittel, Manöver und Gesten beschäftigen, die Gruppen zu ihrer Distanzierung von der »repräsentativen Politik« verwenden. Anstelle einer Politik, die auf der Praxis des Sprechens und Handelns für andere basiert, finden wir eine Vielzahl von Formen und Stilen, die man als unmittelbare oder nicht vermittelte Politik bezeichnen könnte: direkte Aktionen, Flash-Mob-Proteste, über Twitter mobilisierte Bewegungen, Klingeldemonstrationen, Hacking, Sitzblockaden, Boykotte, Buycotts, Besetzungen und andere Interventionen direkter und praktischer Art. Politisch engagierte Bürger gehen in steigendem Maße nicht mehr zur Wahl, sondern handeln selbst. Sie treten keinen Massenparteien mehr bei, die um die Macht konkurrieren, sondern gründen Initiativen, Mikroparteien, Netzwerke, Nachbarschaftsgruppen, Runde Tische und erproben partizipatorische Experimente. Sie warten nicht auf Wahlen, sondern versuchen, ihre Ansichten, ihre Wut und ihr Missfallen unmittelbar zu äußern, hier und jetzt. Sie ignorieren die Medien, sie sind (um Indymedia zu zitieren) die Medien.

Selbst wer nicht besonders politisch aktiv ist, teilt das Misstrauen der Aktivisten gegenüber den Politikern und der politischen Klasse (den »Pollies«, wie sie hier in Australien wenig schmeichelhaft genannt werden). Wie es scheint, hören viele lieber auf Leute wie Bono, Slavoj Žižek, Jeremy Clarkson, Zac de La Rocha, System of a Down, Russell Brand, Glenn Beck und Michael Moore – nicht zuletzt, weil diese sich von der Welt der Politik und der Politiker distanzieren. Die Tatsache, dass Prominente, darunter so mancher Millionär, als authentische Stimmen einer entrechteten Bevölkerung verstanden werden können, während ihr Leben weiter von dem eines Durchschnittsbürgers entfernt ist als das vieler Politiker, verdeutlicht, wie verzweifelt die Lage bereits ist. Dasselbe gilt für den Erfolg antipolitischer und Protestparteien. Tatsächlich scheint sich eine Wechselwirkung zwischen der Antihaltung einer politischen Partei, ihrem Bestreben, sich vom politischen Mainstream abzugrenzen, und ihrer Popularität abzuzeichnen. Zurzeit ist die Tea Party ein klassisches Beispiel hierfür. Doch der Erfolg der Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) des Beppe Grillo bei den italienischen Parlamentswahlen 2013 ist vielleicht noch symptomatischer für den Selbst-Widerspruch unserer Zeit: ein reicher Prominenter, der gegen die Korruption und Dekadenz der politischen Klasse lästert, während er selbst in relativem Luxus lebt. Die gegenwärtige Politik hallt zunehmend wider vom Klang der antipolitischen Politik und der antirepräsentativen Repräsentation.

In Anbetracht dieser Entwicklungen sollte es vielleicht kaum überraschen, dass die Frage der Repräsentation – was sie ist, wie sie funktioniert – von einem ziemlich vernachlässigten Aschenputtel-Thema zu einem, wenn nicht dem Gegenstand der heutigen politischen Debatte geworden ist. Nach dem Ruhen der wissenschaftlichen Debatte um das Konzept der Repräsentation (zweifellos zum Teil als Ergebnis der herausragenden Arbeit von Pitkin) erschienen in rascher Abfolge mehrere wichtige Texte, die sich mit einer Neubewertung des Wesens der Repräsentation beschäftigen: Bernard Manins Kritik der repräsentativen Demokratie, Nadia Urbinatis Representative Democracy: Principles and Geneaology, Mónica Brito Vieiras und David Runcimans Representation und Mike Sawards The Representative Claim, um nur einige zu nennen.

Neben diesen Arbeiten zur Bedeutung der Repräsentation hat sich ein akademischer Zweig etabliert, der sich mit der Krise der Repräsentation beschäftigt, mit Erklärungen und Empfehlungen, wie die repräsentative Politik zu erneuern oder zu regenerieren sei. Viele dieser Studien behandeln die Frage, wie man den einen oder anderen Aspekt des Systems der Repräsentation wieder instand setzen könnte. Sollte das Wahlsystem proportionaler werden? Sollten wir Minderheiten oder Frauen mehr ermutigen, sich zu engagieren? Sollten mehr Versammlungen stattfinden oder anders gestaltete Versammlungen oder mehr Möglichkeiten der Teilnahme geschaffen werden? Nach Ansicht vieler Experten sind junge Menschen besonders unempfänglich für Wahlen und die Mainstream-Politik. Sollten wir also politische Bildung in Schulen anbieten? Vielleicht liegt die Antwort im Beispiel Australiens oder Belgiens, wo eine Wahlpflicht besteht, durch die sich mit einem Streich ein Symptom unseres sinkenden Interesses beseitigen ließe. Auch über die staatliche Finanzierung politischer Parteien findet eine lebhafte Debatte statt.4 Wenn politische Parteien der Ort des demokratischen Lebens in repräsentativen Systemen sind, sollten wir dann nicht mehr tun und mehr Finanzmittel aufwenden, um sicherzustellen, dass die politischen Parteien angemessen funktionieren? Sollten wir nicht neue politische Parteien ebenso fördern wie die etablierten?

Andere Experten sehen jedoch das Kind bereits im Brunnen liegen. Der sorgenvolle Titel von Donatella Della Portas Buch Can Democracy Be Saved? spricht ebenso für sich wie Colin Hays Werk Why We Hate Politics. Wie aus den Analysen der beiden hervorgeht, mögen wir weder die Politik noch die Politiker und wünschen ihnen die Pest an den Hals. Mehr noch, wir geben den Politikern die Schuld an den meisten Übeln, die uns heimsuchen, sei es die Verarmung des öffentlichen Lebens oder die steigende Zahl von Immigranten im Zuge der Globalisierung. Die Politiker haben unsere Welt ins Chaos gestürzt, und jetzt bekommen sie ihre Quittung. John Keanes The Life and Death of Democracy, eine monumentale Geschichte der Demokratie von der Antike bis zur Gegenwart, benennt das Problem unverblümt: Die Demokratie scheint tot zu sein, ein Opfer der zunehmenden Unfähigkeit der Politik und der Politiker, die entscheidenden Fragen unserer Zeit anzupacken, geschweige denn zu lösen. Uns bleibe nur zu hoffen, dass man mithilfe von unabhängigen Beobachtern in irgendeiner Form jene, die Macht ausüben, zur Verantwortung ziehen kann gegenüber jenen, die unter den Launen der im Übrigen entrückten Politiker und Technokraten zu leiden haben. Wie es scheint, war der Guardian auf der richtigen Spur: Der endgültige Niedergang ist eine Einbahnstraße, die am Friedhof endet. Wir leben heute in »postdemokratischen« oder »postpolitischen« Zeiten. Die Vorstellung von Politik oder genauer gesagt Demokratie als einer Herrschaftsform »des Volkes, durch das Volk und für das Volk«, wie es Abraham Lincoln in seiner Rede zu Gettysburg so brillant formulierte, ist angesichts von Globalisierung, Reprivatisierung, Public-Choice-Theorie, Neoliberalismus, Apathie und einer Vielzahl anderer Miseren verkümmert.

Was also tun? Systeme der Repräsentation dergestalt zu reparieren, dass sie besser funktionieren und vielleicht erneuert werden können, leuchtet als Ansatzpunkt sofort ein. Auch könnte man die Grundlagen des demokratischen Lebens insgesamt überdenken. Die Regale in unseren Buchhandlungen ächzen unter dem Gewicht all der Ratgeberliteratur, die sich damit beschäftigt, wie man die Demokratie durch ergänzende Repräsentation verbessern oder sogar das repräsentative Element ersetzen könnte durch die eine oder andere Form der direkten oder partizipativen Demokratie. Die schiere Vielfalt der angebotenen Modelle, von der »starken Demokratie« und der »assoziativen Demokratie« über die »agonistische« oder »radikale Demokratie« bis hin zur »deliberativen Demokratie« bezeugt an sich schon das von vielen geteilte Empfinden, das bestehende Paradigma für unsere Regierungsform sei verbraucht. Wenn wir die politischen Institutionen nicht dahingehend erneuern, dass sie eine weit stärkere Einflussnahme auf den politischen Prozess durch den Durchschnittsbürger erlauben, wird sich der Trend Richtung Politikverdrossenheit fortsetzen. Wir, das Volk, werden von der erstarkenden Technokratie ins Abseits gestellt werden.

Angesichts der umfangreichen Arbeiten, in denen eine Vielzahl von Experten bereits versucht hat, dieses Problem zu lösen – was kann ich da noch hinzufügen, was nicht schon irgendwo anders detailreich abgehandelt wurde?

Vielleicht ist es unter diesen Umständen hilfreich zu erläutern, warum meiner Ansicht nach die vorherrschenden Denkansätze in die Irre gehen. Meiner Vermutung nach verfolgen jene, die sich mit der normativen Seite der Frage beschäftigen, die richtige Spur. Das Argument, wonach repräsentative Stile oder Methoden der Politik eine recht blasse oder dünne Basis für Demokratie darstellen, erscheint mir überzeugend. Es wird zurecht kritisiert, dass eine Definition von Demokratie, der zufolge nur relativ wenige Menschen im Namen aller anderen handeln, uns nicht zu der Art von politischer Gemeinschaft verhilft, die Lincoln mit seiner sprachmächtigen Definition im Sinn zu haben schien – vor allem verhilft sie uns nicht zu einer Demokratie »durch« das Volk. Unsere Ansicht, was Demokratie ist – oder besser, was sie sein sollte –, ist durch die Praxis der Demokratie verkümmert. Es ist daher für die politische Theorie eine lohnenswerte – und manche würden sagen: notwendige – Aufgabe, aufzuzeigen, wie andere Formen der Demokratie gestaltet werden könnten und wie das, was wir jetzt haben, verbessert werden könnte.

Normative Theorien sind jedoch weniger ein Allheilmittel für die untergehenden Gepflogenheiten der Repräsentation als ein weiteres Feld, auf dem die Auswirkungen der Repräsentationskrise sichtbar werden. Unter anderem zeichnet sich die Krise im Verfall dessen ab, was Jean-François Lyotard als »Metanarrative« bezeichnet.5 Gemeint sind Geschichten oder Modelle einer gerechten Gesellschaft und einer besseren Welt. Lyotard bezog sich im Grunde auf den Kommunismus, als er seine Analyse vorlegte; aber seine Überlegungen reichen weiter, bis hin zu ehrgeizigen »modernen« Theorien im Allgemeinen. Unter den herrschenden Bedingungen hat die Vorstellung einer normativen Gültigkeit, eines Denkens, das uns besondere Einsicht in eine gerechtere, mehr auf Gleichheit bedachte oder demokratische Welt bietet, ihre Strahlkraft verloren. Wissenschaftler, politische Beobachter und einfache Bürger sind offenbar gegenüber den Ansprüchen der Theorie und den theoretischen Unternehmungen insgesamt skeptischer geworden. Das Vertrauen in die Klugheit und Weitsicht von Intellektuellen ist auf einem Tiefstand, untergraben zweifellos durch die Neigung vieler Vertreter der Wissenschaft und des öffentlichen Lebens, Erlösungsvorstellungen sowie emanzipatorischen und normativen Modellen eine kalte Dusche zu verpassen. Viele dieser Modelle waren ohnedies ein Produkt des Vertrauens in die Richtung und den telos der modernen Gesellschaft. Soziologen wie Ulrich Beck und Zygmunt Baumann behaupten seit Langem, diese seien ersetzt worden durch die Beschäftigung mit Komplexität, Risiko und dem zunehmenden Gefühl, die Gegenwart sei bedroht, anstatt dass man sich mit der Möglichkeit befasst, eine bessere Zukunft zu erschaffen.6 Wie Žižek es so einprägsam formulierte, glauben wir am »Ende der Zeiten« zu leben, und der »Endismus« ist kein fruchtbarer Boden für die Beschäftigung mit Entwürfen oder Versprechen einer künftig besseren Welt.7

Dieses Buch ist nicht aus der Absicht heraus entstanden, ein explizites normatives Projekt zu entwickeln, sondern aus dem Verdacht, dass die Umgangsweise mit der »Krise« und die Empfehlungen zu deren Lösung, ob normativ oder politikzentriert, nicht richtig sind. Es ist keineswegs falsch, sich mit normativen Theorien, Wunschdenken, Utopien oder Entwürfen für eine andere oder bessere Welt zu beschäftigen. Aber wir sollten uns auch dafür interessieren, wohin die Reise geht, denn ihre Route wird von den Trends und Tendenzen vorgezeichnet, die die Prozesse der Repräsentation ebenso unterminieren wie die Politik in der Form, wie sie die letzten beiden Jahrhunderte praktiziert wurde – einschließlich der normativen Theorie, der Utopien und allem Übrigen. Mir scheint, dass das Bild vom Niedergang und Zerfall der Politik, wie es in den zeitgenössischen Kommentaren vorherrschend gemalt wird, mehr verschleiert als enthüllt. Vor allem blendet es offenbar eine Menge aus, was wir als Politik bezeichnen sollten, was aber meist als nebensächlicher Aktivismus, als Protest oder Bewegung abgetan wird, wenn von realer Politik die Rede ist, von der »Politik der Politiker«, der Wahlen und der politischen Parteien. Jenseits dieser begrenzten Sphäre findet jedoch eine Menge Politik statt. Es gibt die Politik der sozialen Bewegungen, die »unterirdische« Politik, die Politik der indigenen Völker, der Straße, die Politik der – wie Frances Fox Piven und Richard Cloward sie nannten – »Bewegungen der Armen«.8 Es gibt die Politik an der und für die Peripherie, eine Politik der Unsichtbaren und Vergessenen, die nur wahrgenommen wird, wenn sie im Fernsehen spektakuläre und dramatische Bilder liefert. Vielen Spielarten dieser Politik mangelt es an charismatischen Leitfiguren, denkwürdigen Schlagworten und Parolen. Dabei kann es sich um etwas Routinemäßiges oder Alltägliches handeln, um eine kleine Initiative zur Abwehr einer absurd falschen Entwicklung, wie etwa in meinem Viertel, wo sich Anwohner gegen den Bau eines scheußlichen, bombastischen Projekts mit Händen und Füßen wehren. Aber es kann auch um ehrgeizigere Ziele gehen: den Kampf gegen den Klimawandel, gegen die Korruption der Eliten, gegen Konsumismus, Militarismus und die Omnipräsenz des Marktes.

Die inoffizielle, nicht dem Mainstream folgende Politik der Straße ist gesund und munter. Um nur einige Beispiele aus der Zeit zu nennen, während ich an diesem Buch schrieb: Ganz Hongkong wurde durch die Mobilisierung Tausender gewöhnlicher Menschen lahmgelegt. In Brasilien kam es auf den Straßen zu massenhaften Protesten gegen die aufgeblähten Budgets für Prestigeprojekte und Fußballstadien. In der Türkei und in Bulgarien, die bis dato als »gefestigte Demokratien« galten, in denen die normale Politik funktioniert, gingen die Menschen zu Tausenden auf die Straße. In Spanien, Griechenland und Portugal demonstrieren kontinuierlich Hunderttausende gegen den drohenden Zusammenbruch ihres Lebensstandards. Man könnte zudem die zahlreichen Aufstände und Proteste nennen, die gegenwärtig in Teilen Chinas, Nordafrikas, vielen Regionen Lateinamerikas, Indiens und in Bangladesh zu beobachten sind.

Politik ist jedoch nichts, das nur in weit entfernten Winkeln der Welt stattfindet. An Politik ist nichts Exotisches. Ein höchst beeindruckendes Merkmal unserer gegenwärtigen Welt ist die Bereitschaft und Leichtigkeit, mit der sich gewöhnliche Menschen zur Verteidigung von etwas oder zur Abwehr eines Unrechts mobilisieren. Als ich heute über den Campus ging, wurde ich gebeten, eine Petition zu unterschreiben, die sich gegen das von Tony Abbott geplante Vorhaben richtet, das »Boat-People-Problem« dadurch zu lösen, dass Flüchtlinge in Lager auf Papua-Neuguinea verfrachtet werden. An Infoständen wurde für verschiedene Richtungen des revolutionären Sozialismus geworben. Eine Gruppe demonstrierte gegen die Verwendung von nicht fair gehandeltem Kaffee in den Cafeterien der Universität, eine andere versuchte Mitglieder im Kampf gegen den Klimawandel anzuwerben. Ein Universitätscampus ist natürlich ein Ort, an dem man erwartet, Leidenschaft für die Politik zu erleben. Wer jedoch mit der einschlägigen Literatur vertraut ist, weiß, dass in den Arbeiten zur Krise der Repräsentation immerzu von der Verdrossenheit und Apathie der jungen Menschen die Rede ist; eine Umschreibung für die Abneigung der Jugend, Repräsentanten zu wählen oder ihnen das Mandat zu erteilen, in ihrem Namen zu handeln.

Angesichts dessen muss die Behauptung, unsere gegenwärtige Welt sei durch Entpolitisierung gekennzeichnet, in den richtigen Zusammenhang gestellt werden, damit daraus nicht geschlossen wird, Auseinandersetzung, Widerstand, Erfindung und Experiment der einfachen Bürger gebe es nicht.9 Selbstverständlich findet da und dort und vermutlich überall Politik statt. Ich denke nicht, dass wir die Politik hassen. Wir hassen vielleicht eine bestimmte Art von Politik, die repräsentative Politik, die Politik »der Politiker«. Aber andere Arten der Politik, vor allem jene, die uns direkt als Akteure und Teilnehmer mit einschließen, gewinnen im Gegenteil Stärke und Schwungkraft, wie die oben genannten Beispiele zeigen. Die Bürger lassen sich immer weniger von der Politik der Eliten, von Autorität und dem Staat beeindrucken und sind eher bereit, selbst zu handeln, wenn sie etwas als Unrecht oder Unfairness wahrnehmen. Im politischen Diskurs existiert jedoch die Neigung, das politische Engagement der Bürger als Randphänomen des etablierten Politikgeschäfts abzutun. Die Medien konzentrieren sich nach wie vor auf die »Politik der Politiker«, auf die Wahlen und die Vorgänge auf dem Capitol Hill, in Westminster oder im Deutschen Bundestag. Es ist schließlich viel einfacher, mit ausgewählten Repräsentanten zu sprechen als mit den Massen anonymer Individuen draußen auf der Straße bei Demonstrationen oder an Infoständen und Tischen, wo Unterschriften für eine Petition gesammelt werden. Andererseits lässt sich angesichts des schwindenden Interesses und der nachlassenden Strahlkraft der repräsentativen Politik leicht der Schluss ziehen, dass die Politik vor ihrem Ende steht, wenn alles, was an ihr interessiert, das ist, was auf dem Capitol Hill geschieht oder wie unsere Repräsentanten aufgenommen werden. Um diesen Eindruck zu zerstreuen, müsste man, wie man so sagt, genauer hinsehen. Das würde womöglich ein anderes Bild von Politik vermitteln. Es könnte die Ansicht revidieren, dass etwas langsam verschwindet. Denn vielleicht blüht die Politik im Gegenteil geradezu auf?

Doch was bedeutet all das? Ist die Krise der repräsentativen Politik ein vorübergehendes, zufälliges Phänomen, das womöglich durch die globale Finanzkrise oder die Dekadenz der gegenwärtigen Politikerkaste verursacht wurde? Oder ist hier etwas auf tieferer Ebene im Gang, das die repräsentative Tätigkeit unterminiert? Falls dem so ist, wohin steuert dann diese Entwicklung? Sollen wir, was die Richtung angeht, die die Politik nimmt, pessimistisch oder optimistisch sein?

Ich teile die Ansicht von Historikern wie Frank Ankersmit und Pierre Rosanvallon, die der Hoffnung auf eine Erneuerung der repräsentativen Demokratie skeptisch gegenüberstehen.10 Ankersmit und Rosanvallon ziehen meiner Meinung nach zu Recht die Behauptung in Zweifel, die Krise der Repräsentation sei ein kontingentes Phänomen und infolgedessen durch Maßnahmen zu lösen, die uns dorthin zurückführen würden, wo wir in den 1960er Jahren standen, mit einem massenhaften Interesse und massenhafter Beteiligung an einer Demokratie der großen Parteien. Meiner Ansicht nach kann die Schuld an der Krise nicht der globalen Finanzkrise zugeschrieben werden oder den Austeritätsmaßnahmen, die Politiker zur wirtschaftlichen Stärkung notleidender Länder ergriffen haben, oder den Mängeln des Finanzkapitalismus oder den Kavaliersdelikten und der Dekadenz der heutigen Politiker. Zweifellos verschärfen diese kontingenten Faktoren das Krisenempfinden; aber der Niedergang der repräsentativen Politik hat seine Wurzeln in etwas Tieferem, das schwerer zu handhaben ist: die anhaltende Transformation der Moderne, der politischen Subjekte, des Wesens und der Form unserer Interaktionen mit anderen. Etwas verändert sich hinsichtlich der Beziehung zwischen den Bürgern und der Politik. Die Bedürfnisse der politischen Subjekte verändern sich ebenso wie die Koordinaten der politischen Systeme. Die repräsentative Politik erscheint zunehmend als die politische Gestalt der ersten Moderne11 und der Nationalstaaten mit ausgeprägt homogenen Bevölkerungen, souveränen Territorien und säuberlich errichteten Hierarchien der Macht und der Menschen. Die zeitgenössischen Entwicklungen verändern die Koordinaten des Alltagslebens und dadurch wiederum die Art unserer Bindungen als politische Subjekte.

Angesichts dessen ist es angebracht, die Implikation zu bedenken, die in den Arbeiten von Wissenschaftlern wie Rosanvallon, Ankersmit und Bang schlummert, und zwar, dass wir die Aura der Repräsentation und der repräsentativen Politik schwinden sehen. Wenn wir uns in Anlehnung an Thomas Kuhns Paradigmenbegriff12 die repräsentative Politik als eine Art Paradigma vorstellen, dann wird deutlich, dass dieses Paradigma in Auflösung begriffen ist. Das stellt für Politikanalytiker und jene, die vom Ende des Paradigmas bedroht sind, eine große Besorgnis dar: für Politiker, politische Parteien und Politologen, die die Gesundheit der Demokratie daran messen, inwieweit wir unseren Repräsentanten noch zutrauen, dass sie in unserem Namen regieren, und inwieweit wir sie respektieren. So viel ist klar, doch wenn wir das Problem unter dem Aspekt des Paradigmas betrachten, eröffnet dies eine ganz andere Perspektive – nicht nur auf einen Verlust, sondern auch auf einen Wandel und eine Transformation in eine neue und vielleicht unvorhergesehene Richtung.

Ein Paradigmenwechsel geht nicht ohne Schmerzen vonstatten, ist aber vielleicht eine notwendige Bedingung der Möglichkeit, zu einer Verfahrensweise zu gelangen, die besser zur Weltsicht, zu den Erwartungen, Theorien und Gepflogenheiten der Gegenwart wie der Zukunft passt und nicht vergangenheitsbezogen ist. Meiner Ansicht nach müssen wir untersuchen und beachten, was hier und jetzt erschaffen wird, wie sich die politischen Subjekte der Krise anpassen, ja wie sie sogar die Krise beschleunigen auf der Suche nach etwas Neuem, nach einer neuen Umgehensweise mit der Politik. Doch wenn das Paradigma wechselt, welche Gestalt wird es annehmen? Bewegen wir uns in Richtung einer neuen Demokratie-Variante? Hin zur »mahnenden Demokratie« (monitory democracy) oder zur »Post-Demokratie«? Vielleicht, obgleich ich denke, dass Rosanvallon, Brito Vieira und Runciman und sogar Keane besser treffen, worum es geht, wenn sie die gegenwärtigen Entwicklungen als »Post-Repräsentation« beschreiben.13 Der Begriff »Post« trifft es sehr gut, da er das fragliche Objekt nicht als überflüssig erklärt, sondern infrage stellt. Das ist meiner Ansicht nach ein sinnvoller Ausgangspunkt, um über die gegenwärtige Sachlage nachzudenken: weniger die Repräsentation als überholt zu erklären, als erst einmal zu problematisieren, wodurch Unmut entsteht, aber ohne einen klaren Bruch oder eine Alternative vorauszusetzen.

Auch wenn es schwierig sein mag vorauszusagen, was »nach« der repräsentativen Politik kommen wird, kristallisieren sich aus den Aktionen, Prototypen und Forderungen der gegenwärtigen Bewegungen, Bürgeraktionen, Organisationsformen und -stilen bestimmte Themen heraus. Das Gesamtbild sieht demnach so aus: Die repräsentative Politik stellt etwas dar, was zuweilen als vertikale Form der Politik bezeichnet wird. Jemand an der »Spitze« vertritt jene, die »unten« sind – spricht für sie, handelt für sie und regiert sie. Dies spiegelt wiederum die Gesellschaftsformen, aus denen heraus die repräsentative Politik erwachsen ist. Die frühen modernen Gesellschaften waren streng hierarchisch strukturiert: kleine Eliten an der Spitze, Massen von Individuen unten, zusammengehalten von einer Arbeitsteilung zwischen denjenigen, die über Besitz und über die Produktionsmittel verfügten sowie die soziale Reproduktion kontrollierten, und jenen, die für sie arbeiteten. Die neu entstehenden Formen von Politik sind hingegen oft horizontal angelegt, das heißt, sie kommen oft ohne Leitfiguren aus, sind von unten nach oben strukturierte Bewegungen oder Initiativen, die selbstbewusst permanente oder feststehende Bürokratien, Verwaltungen und alles übrige Zubehör vermeiden, das zu den repräsentativen Formen von Politik gehört. Auch hier spiegeln sich einige der Veränderungen wider, die in der Gesellschaft stattfinden; viele dieser Veränderungen werden durch die Revolution in der Informations- und Kommunikationstechnologie vorangetrieben, was weitreichende Auswirkungen auf die Arbeitswelt, auf die Erzeugung von Nachrichten und Medien, auf den Zugang zu Informationen sowie auf Formen und Muster der sozialen Interaktion hat. Der Bürger von heute nimmt sich viel stärker vor den repräsentativen Mitteln und Strategien »der Politik« und »der Politiker« in Acht. Der politisch Aktive möchte zunehmend direkt und unmittelbar einbezogen sein. Er will mehr Kontrolle und Transparenz im Hinblick auf seinen Aktivismus. Auch das ist ein Symptom für größeren sozialen Wandel. Diese Veränderungen veranlassen Vertreter der normativen Theorie zu tiefschürfenden Überlegungen: Wie bedeutsam kann angesichts des globalen Kapitalismus, der seinem Charakter entsprechend einer kleinen Gruppe von Akteuren zu beispiellosem Reichtum und enormer Macht verhilft, Horizontalität in einer Welt werden, in der mächtige Eigeninteressen den Status quo zu erhalten versuchen? Ist angesichts einer Welt der vertikalen Strukturen, politischen Systeme und wirtschaftlichen Möglichkeiten der gegenwärtige Zustand der Machtkonzentration Teil des Problems oder Teil der Lösung beim Ausbruch aus dem alten Paradigma? Man könnte noch mehr anführen.

Wie bereits deutlich wurde, ist der Versuch einer Auseinandersetzung mit dem Wesen der repräsentativen Politik eine Sisyphusaufgabe. Ein schwieriger Begriff, der an verschiedenen Orten für verschiedene Menschen Unterschiedliches bedeuten kann. Er ist vielleicht sogar noch schwerer zu fassen als der Demokratiebegriff, weil er sich nicht allein darauf bezieht, wie Menschen regiert werden, sondern nach Pitkins Ausführungen, wie wir über Mobilisierung, über das Verhältnis zwischen Führern und Geführten und über Ideen und Aktionen denken. Er dreht sich nicht allein um Verfahrensweisen, Prozesse und Institutionen. Wir sprechen dabei auch über Beziehungen, Verständnis, Rollen und unsere Wahrnehmung davon, wer oder was Verantwortung trägt. Ein schwieriges Thema. Wie es anpacken?

Die von mir gewählte Herangehensweise ist suggestiv. Das muss so sein. Wir suchen nach Schlüsseln zum Verständnis der Krise, nach einer Interpretation oder Deutung, aber nicht nach einer Erklärung. Angesichts dessen, was auf dem Spiel steht, müssen wir dennoch mutig sein und einige Risiken eingehen im Hinblick darauf, weiterführende Gedanken und Überlegungen anzuregen. Wir müssen den Standpunkt aufgeben, wir hätten uns mit der Notwendigkeit und Unvermeidbarkeit der Repräsentation und der repräsentativen Politik abzufinden, und uns zu einer offeneren Haltung hinbewegen, die anerkennt, dass Gepflogenheiten, Diskurse und Vorgehensweisen in einem spezifischen historischen Kontext verortet sind. Wenn sich dieser Kontext verändert, ist zu erwarten, dass sich auch die besagten Gepflogenheiten ändern. Wir müssen überdies betrachten, was die Menschen bezüglich dieses Prozesses tun und sagen und – was sehr wichtig ist – wie sie in ihrer Beziehung zur Politik zu anderen Methoden greifen. In der Tat ein kniffliges Unterfangen. Wie wird es im Buch angepackt?

Im ersten Kapitel werden die Konturen der Krise der repräsentativen Politik untersucht, was sie bedeutet und wie sie von Experten wahrgenommen wird. Die Politikwissenschaft beschäftigt sich schon lange mit der Krise der repräsentativen Politik und hat Methoden entwickelt, die ihrem politologischen Verständnis entsprechen. Die dabei maßgeblichen Variablen zeigen einen Rückgang bürgerlichen Engagements und Interesses an der Mainstream- oder Wahlpolitik. Das dadurch vermittelte Bild ist somit das eines Mangels. Etwas verebbt und verursacht eine Krise. Bei dieser Betrachtungsweise ist schwerer zu erfassen, was anstelle dessen erschaffen wird und wie das, was erschaffen wird, mit dem erklärten Rückgang in Zusammenhang steht oder ihn vielleicht sogar verursacht. Wie gesagt, versuchen sich viele der heutigen Bewegungen, Initiativen und Politikformen diskursiv von der repräsentativen Politik zu distanzieren und eine andere Art von Politik zu praktizieren. Die Betrachtung dieser Initiativen kann uns vielleicht einen gewissen Einblick in das Wesen der Krise vermitteln. Vor allem könnte es dabei helfen, das Rätsel zu lösen, auf das Pitkin in der oben zitierten Äußerung anspielt. Wenn auf der einen Ebene die politische Repräsentation eine gegebene Tatsache ist, warum versuchen dann bestimmte Gruppen und Bewegungen, sich davon zu distanzieren? Es steht eindeutig mehr auf dem Spiel. Repräsentation ist von Bedeutung. Sie besitzt bestimmte Konnotationen. Auf eine besondere Weise findet sie vor allem am Rand Nachhall – am Rand der Politik, der Gesellschaft, der geopolitischen Welt, wo die repräsentative Politik oft mitten in Gesellschaften mit ganz anderer politischer Kultur eingepflanzt wurde. Wenn wir das Wesen der Krise verstehen wollen, ist es nützlich, nicht nur auf einen Mangel zu rekurrieren, sondern auch die Bemühungen jener in die Betrachtung einzubeziehen, die andere Formen politischen Handelns entwickeln wollen.

Das zweite Kapitel versucht, die repräsentative Politik zu verorten. Versteht man die repräsentative Politik als Paradigma, impliziert dies, dass sie eine spezifische Praxis ist, ausgeübt unter bestimmten Bedingungen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort. Wie wir von Keane, Manin, Brito Vieira und Runciman, John Dunn und vielen anderen wissen, ist die repräsentative Politik ein relativ neues Phänomen – im Verhältnis zum langen Entwicklungsweg der politischen Institutionen und Praktiken über das letzte Jahrtausend hinweg. In The Life and Death of Democracy ermutigt uns Keane, wir sollten nicht davor zurückschrecken, die repräsentative Politik und die repräsentative Demokratie als eigenständige Objekte der historischen Forschung zu betrachten. Diese Herangehensweise hat gegenüber den eher positivistisch orientierten Methoden in der Politikwissenschaft den Vorteil, dass sie uns die repräsentative Politik als eine Politikform erkennen lässt, die in Reaktion auf bestimmte historische Bedingungen entstanden ist. Besonders denkwürdig daran ist, dass der Diskurs der Repräsentation der Ausbreitung demokratischer Institutionen und Praktiken vorausging. Brito Vieira und Runciman weisen auf die beachtenswerte Tatsache hin, dass der absolutistische Denker Thomas Hobbes als einer der Ersten die Vorzüge der repräsentativen Politik gegenüber anderen Formen der Machtlegitimation formulierte, vor allem gegenüber dem Gottesgnadentum der Könige, das die Grundlage für die Herrschaft des Katholizismus in Europa bildete.14 Indem Hobbes den Souverän als Repräsentanten und nicht mehr als Herrscher definierte, versuchte er, das Verhältnis zwischen Herrscher und Beherrschten, oder wenigstens unsere Wahrnehmung davon, zu modifizieren. Das sollte uns auf einen wichtigen Aspekt der Repräsentation aufmerksam machen: Sie ist nicht dasselbe wie demokratische Politik. Repräsentation stellt eine Disjunktion dar zwischen jenen, die herrschen, und jenen, die beherrscht werden. Worauf geht diese Disjunktion zurück? Wer hat sie auf den Weg gebracht? Und zu welchem Zweck?

Im dritten Kapitel befassen wir uns mit den Erklärungen für die gegenwärtige Krise der repräsentativen Politik. Der vorherrschende Ansatz konzentriert sich vor allem auf temporäre, kontingente oder kurzfristige Faktoren als mögliche Gründe für den Rückgang des Interesses an der Mainstream-Politik und kritisiert dabei entweder bestimmte Akteure (Politiker, Bürger) oder das Meinungsklima, das zugelassen hat, dass der Neoliberalismus, der Markt und die Theorie der Öffentlichen Reformverwaltung das Gemeinwohl, den Kollektivismus und die Demokratie unterminieren konnten. Zwar kann gewiss jeder dieser Faktoren dazu beitragen, dem Wesen der gegenwärtigen Misere auf die Spur zu kommen, aber sie sind sowohl Auswirkungen als auch Ursachen der Krise. Um diese Faktoren richtig einzuordnen, müssen wir die längerfristigen und strukturellen Veränderungen innerhalb der modernen Gesellschaft untersuchen, insbesondere die Folgen der Globalisierung, den Zusammenbruch kollektiver Identitäten und das Aufkommen der Individualisierung als Faktor bei der Herausbildung der politischen Subjektivität und alles, was mit ihr verbunden ist. Welche Folgerungen hat diese sich entwickelnde Form der Subjektivität für die Politik?

Im vierten Kapitel betrachten wir den Niedergang der traditionellen Ausdrucksformen von Politik und vor allem der politischen Partei. Der Niedergang der politischen Partei ist eng mit der Individualisierung verbunden und der daraus entstehenden Politik, die weniger ideologisch, doktrinär und teleologisch ausgerichtet ist. Dabei liegt der Beweggrund des Handelns oft in einem Unrecht, sei es ein Unrecht spezifischer Art oder eines in Zusammenhang mit einem politischen System, einer bestimmten Elite oder mit Korruption oder Inkompetenz. Dieser Niedergang steht auch in direktem Zusammenhang mit dem Verfall von Hierarchien und mit der Arbeitsteilung, auf die sich in der ersten Moderne das organisatorische Leben stützte. Schwinden Respekt und Toleranz gegenüber der Hierarchie, suchen die heutigen Subjekte nach flacheren, angenehmeren Möglichkeiten der Organisierung, sei es in der Arbeit oder in der Politik. Viele der erfolgreichen Initiativen der letzten Jahrzehnte haben von ihrem horizontalen Charakter profitiert und dabei das Gefühl vermittelt, teilhaben zu können, anstatt nur vertreten zu werden. Dieser Wandel zu horizontalen Formen der Organisierung wird in hohem Maße durch die Entwicklungen in der Informations- und Kommunikationstechnologie und der sozialen Medien erleichtert. Paul Mason dokumentiert diesen erstaunlichen Wandel und die wachsende Befähigung gewöhnlicher Menschen, sich auf dem politischen Feld einzumischen, in seinem Buch Why It’s Kicking Off Everywhere, eine fesselnde, empirisch fundierte Darstellung einer Vielzahl dieser offensichtlich spontanen Eruptionen politischer Energie weltweit. Aber wie genau formt die soziale Technologie das Wesen der Politik um? Wie sehen die neuen Formen und Wege der Politik aus, auf denen sich Menschen organisieren und mobilisieren? Ist die politische Partei dem Untergang geweiht?

Angesichts der hier aufgestellten Behauptungen ist es hilfreich zu betrachten, wie ein solcher Wandel konkret vor sich geht. Deshalb beschäftige ich mich im fünften Kapitel mit der Mobilisierung der Indignados 2011 in Spanien. Diese Fallstudie vertieft das Verständnis für bestimmte Entwicklungen auf dem politischen Feld, vor allem im Hinblick auf die politischen Parteien, die bis heute für das Funktionieren repräsentativer Demokratien von entscheidender Bedeutung sind. Traditionelle politische Parteien stehen, wie hinreichend belegt wurde, unter großem Druck, ihre zentrale Stellung im Herzen des demokratischen Lebens zu rechtfertigen, wenn sie unter dem Aspekt ihrer Mitgliederzahlen nur mehr eine schwindende Macht darstellen. Die faszinierende Geschichte aus Spanien zeigt die Umgestaltung der politischen Partei zum Vehikel für Protestbewegungen, Bürgerplattformen und Aktivismus aller Art, Bewegungen, von denen manche erklärtermaßen Anti-Parteien sind. Diesen Wandel aus unmittelbarer Nähe zu dokumentieren, ist deshalb wichtig, weil er eine entscheidende Frage aufwirft, die sich beim Übergang von repräsentativen zu dezentralisierten, partizipativen und netzwerkartigen Formen der Politik stellt: das Verhältnis zwischen den durch die sozialen Medien erleichterten Mobilisationsformen und dem Instrumentarium von Herrschaft. Die sozialen Medien sind zweifellos ein fantastisches Mittel zur Organisierung von Protesten und Initiativen, aber können sie auch zur Schaffung von dauerhafteren Formen der Mobilisierung verwendet werden? Sind sie reine Mechanismen des Protests oder weisen sie die Richtung, in der sich eine demokratische Herrschaft entwickeln könnte?

Dies führt uns zum sechsten Kapitel, wo versucht wird, die Folgen des Niedergangs der repräsentativen Politik aufzuzeigen. Zu diesem Zweck gehe ich der Frage nach, worauf die Demokratie angesichts der besagten Entwicklungen zusteuern könnte. Selbst Experten, die einräumen, dass ein grundlegender Wandel stattfindet, betrachten diese Entwicklungen pessimistisch. John Keane hat, wie bereits erwähnt, reichlich Vorarbeit geleistet für die Beurteilung dessen, was uns erwartet. Doch selbst er ist bestenfalls ambivalent gegenüber den gegenwärtigen Entwicklungen, wie schon der Titel seines Buchs The Life and Death of Democracy signalisiert. Falls die Demokratie nicht schon tot sein sollte, steuert sie auf dem Weg von einer vollständig repräsentativen Form von Herrschaft hin zu einer »mahnenden Demokratie« (monitory democracy) auf unbekanntes Terrain zu.15 Pierre Rosanvallon bezieht gegenüber den gegenwärtigen Entwicklungen eine ähnliche Haltung und beschreibt die Ausbreitung neuer Formen der politischen Mobilisierung als »Gegen-Demokratie«.16 Er sieht sogar eine »negative Demokratie« im Entstehen begriffen, als wollte er bekräftigen, dass die Marschrichtung in einen finsteren Abgrund führt. Auch Zygmunt Bauman, ein Wegbereiter des Nachdenkens über die Entwicklungsrichtung der gegenwärtigen Gesellschaft, erkennt in seiner Analyse der aktuellen Szene nur wenig Positives.17 Wir sind von Gefahren, Risiken und Fallgruben umgeben. Überall tobt das Gezeter des Konsumismus, des Narzissmus, des Individualismus und der Antipolitik.

Ist das demokratische Glas tatsächlich halb leer? Sollten wir angesichts um sich greifender politischer Initiativen, vielfältiger Formen, in denen sich Normalbürger politisch engagieren, Initiativen in Bewegung setzen und viel leichter als früher neue Gruppen und Organisationen bilden können, wirklich den Schluss ziehen, die Demokratie sei tot oder liege zumindest im Sterben? Vielleicht sehen wir die Dinge völlig falsch. Sollte das der Fall sein, benötigen wir zweifellos neue Konzepte und müssen ein neues Verhältnis zur Demokratie gewinnen. Vor allem brauchen wir eine neue Sprache, um beschreiben zu können, wie sich diese Initiativen zum politischen Terrain, zu Herrschaft und zu den Aussichten der Demokratie selbst verhalten. Vielleicht müssen wir unsere Vorstellung davon, was politisch ist, umstülpen. Womöglich sollten wir Jacques Rancières Vorschlag folgen und die demokratische Komponente der heutigen Existenz als etwas sehen, das außerhalb des Herrschaftsinstrumentariums oder der Police, wie er es nennt, liegt.18 Die Demokratie umzuwandeln in eine Aktivität für »alle und jeden« und sie nicht unseren Repräsentanten zu überlassen, könnte – vielleicht durch eine seltsame Laune der Geschichte – dazu führen, dass wir nicht den Tod der Demokratie erleben, sondern vielmehr ihr Wiedererstarken, allerdings nach dem Ende der Repräsentation.

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Konturen einer »Krise«

Bei kaum einem anderen politischen Thema herrscht eine so breite Übereinstimmung wie bei der Frage, ob es eine Krise der Repräsentation gibt – und wenn schon nicht eine Krise, so zumindest etwas, das ernst genug ist, um intensiv darüber nachzudenken, wie sich die Qualität der Repräsentation, der repräsentativen Körperschaften und repräsentativen Verfahren verbessern ließe. Auf irgendeiner Ebene steckt die Repräsentation oder die Demokratie immerzu in der Krise. Es liegt an der DNA von Demokratien, dass ein fortwährendes Defizit besteht zwischen dem, was Politiker versprechen, und dem, was sie liefern, zwischen dem Bild, das die Theorie von einer wünschenswerten Demokratie zeichnet, und dem, was die Demokratie tatsächlich vermag. Das weckt Enttäuschung. Manche Experten sind der Ansicht, die repräsentative Politik stecke mindestens seit den 1880er Jahren in der Krise.19 Höchst ungewöhnlich jedoch, dass über das ganze ideologische und methodologische Spektrum hinweg die Auffassung geteilt wird, es existiere eine Krise. Nicht allein Politologen und Politische Ideengeschichtler, Konservative, Liberale und Marxisten sehen das repräsentative System in der Krise; praktisch jeder, der eine Meinung dazu hat, tut dies. Wahr ist aber auch, dass nicht jeder dasselbe meint, wenn er von einer Krise der Repräsentation spricht. Man könnte das als Politik des Krisen-Verständnisses bezeichnen: Wie man die Krise deutet, oder besser: wie man die Krise narrativ darstellt, hat erhebliche Folgen für die Überlegungen zu ihrer Bewältigung und zu den Maßnahmen, die ergriffen werden sollten, um der Politik wieder auf die Beine zu helfen – oder aber zu Neuüberlegungen zu einer Politik nach der Repräsentation.

Eine wichtige Aufgabe besteht also darin, die Konturen der Krise zu erkunden. Damit sind die unterschiedlichen Herangehensweisen bei der narrativen Darstellung und Erforschung der Krise gemeint. Politologen sind daran interessiert, Krisen anhand von messbaren Daten zu betrachten, deshalb ist es wichtig, eine dementsprechende Bestandsaufnahme zu machen: Was sind die Zeichen oder Symptome einer Krise? Welche Daten haben dabei Bedeutung? Welche Schlüsse folgen daraus? Grafiken und Daten sind jedoch nur ein Teil des Ganzen. Sie zeigen uns zweifellos, was fehlt – und wie sich die Krise konkret auswirkt, vor allem was die Wahlen betrifft. Doch die Politik hat sich nicht dadurch in Luft aufgelöst, dass es eine Krise der Repräsentation gibt. Ganz im Gegenteil. Meiner Ansicht nach leben wir offensichtlich in äußerst politisierten Zeiten und erfahren gerade eine, wie Ulrich Beck es nannte, »Erfindung des Politischen«.20 Dabei geht es auch um das Wesen der Repräsentation – wer repräsentiert wen und wie. Demnach wird die Krise der Repräsentation auch durch die Aktionen von Bewegungen und gewöhnlichen Menschen hervorgerufen oder verursacht, von Menschen, die nicht nur das infrage stellen, was Repräsentanten oder Politiker in ihrem Namen tun, sondern das System anzweifeln, das ihnen den Zugang zu Macht, Einfluss und Ressourcen versperrt. Daher empfiehlt es sich, nicht nur die Daten zu betrachten, sondern auch den Diskurs zu untersuchen, der über die Krise geführt wird, und zu analysieren, wie Aktivisten und Politiker sich der Krise anpassen. Warum lehnen Menschen die repräsentative Politik ab? Was sagen jene, die sich politisch engagieren, über sich selbst? Wie praktizieren sie eine Politik nach der Repräsentation, falls überhaupt?

Konturen einer Krise I: Der Blick von oben

Wie gesagt, sieht die politische Analyse die repräsentative Politik in der Krise. Dennoch trösten sich viele Politologen mit der Tatsache, dass die repräsentative Demokratie in gewisser Hinsicht höchst erfolgreich ist, ja sogar derart erfolgreich, dass Francis Fukuyama den berühmten Satz prägte, die Demokratie habe sich als höchste Form der politischen Organisation erwiesen, daher könnten wir mit Fug und Recht »das Ende der Geschichte« ausrufen.21