Aufgabe 10 der Zweiten Juristischen Staatsprüfung 2009/2

(Arbeitszeit: 5 Stunden)

Auszug aus den Akten des Bayerischen Verwaltungsgerichts München Az. M 27 K 09.246

 

Marion Glaser-May

(…) Bad Tölz

(…) München

In der Verwaltungsstreitsache

der Eheleute Hannelore und Hans Holzer,

gegen

die Stadt Bad Tölz

vertreten durch die erste Bürgermeisterin Dr. Franziska Fradinger

wegen Erhebung eines Erschließungsbeitrags

erhebe ich unter Vorlage einer Vollmacht (Anlage 1) namens und im Auftrag der Kläger

Klage

gegen die Stadt Bad Tölz und beantrage:

Der Bescheid der Stadt Bad Tölz vom 2. Juni 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids des Landratsamtes Bad Tölz – Wolfratshausen vom 14. August 2009 wird aufgehoben.

Begründung:

Unter dem 2. Juni 2009 erließ die Stadt Bad Tölz gegenüber den Klägern einen Erschließungsbeitragsbescheid über 4 500,– € für deren Grundstück Flurstück Nr. 140 der Gemarkung Gaißach (Anlage 2). Der Beitragserhebung ging der Erlass des Bebauungsplans „Westlich der B 13“ durch die Beklagte im Jahr 2005 voraus, gegen dessen Wirksamkeit keine Bedenken bestehen. Das vorgenannte Grundstück der Kläger liegt nicht in dessen Geltungsbereich, sondern schließt unmittelbar an der östlichen Geltungsbereichsgrenze des Bebauungsplans an. Östlich wird das Grundstück von der Bundesstraße B 13 begrenzt. Westlich der Bundesstraße ist es das einzige Grundstück, das zur Gemeinde Gaißach gehört. Es ragt wie ein Keil in das Gebiet der Stadt Bad Tölz. Ansonsten befindet sich das Gebiet der Gemeinde Gaißach östlich der Bundesstraße B 13.

Das klägerische Grundstück ist unbebaut und hat eine Größe von ca. 2 000 m2. Im Sommer halten die Kläger dort drei Pferde. Die Kläger betreiben im Ortsteil Moosen der Gemeinde Gaißach einen landwirtschaftlichen Vollerwerbsbetrieb auf einer Fläche von insgesamt 15 ha.

Am 20. März 2007 haben die Stadt Bad Tölz und die Gemeinde Gaißach vereinbart, dass die Stadt Bad Tölz berechtigt sein soll, für das Grundstück der Kläger einen Erschließungsbeitrag zu erheben, weil das Grundstück durch die im oben genannten Bebauungsplan festgesetzte Gaißacher Straße mit erschlossen wird.

Gegen den Erschließungsbeitragsbescheid vom 2. Juni 2009 haben die Kläger Widerspruch erhoben (Anlage 3). Der Widerspruch wurde, nachdem die Beklagte die Abhilfe abgelehnt hat, mit Bescheid des Landratsamtes Bad Tölz – Wolfratshausen vom 14. August 2009 zurückgewiesen (Anlage 4). Gleichzeitig ist der zu zahlende Erschließungsbeitrag vom Landratsamt von 4 500,– € auf 5 250,– € erhöht worden.

Die Klage ist erfolgreich, weil die Beitragserhebung aus mehreren Gründen rechtswidrig ist.

Zum einen kann es nicht rechtmäßig sein, dass Miteigentümer – das betreffende Grundstück Flurstück Nr. 140 steht im Miteigentum der Kläger – nur einen Bescheid gemeinsam erhalten. Wenn schon beide zur Zahlung verpflichtet sind, muss auch jeder dazu eigens herangezogen werden. Zum anderen durfte der Widerspruch nicht als verfristet zurückgewiesen werden. Unabhängig von der Frage, ob angesichts der Neufassung des Art. 15 AGVwGO seit 1. Juli 2007 überhaupt noch ein Vorverfahren durchgeführt werden musste, und unabhängig von der im angefochtenen Bescheid enthaltenen alternativen Rechtsbehelfsbelehrung, hätte mit Blick auf die besondere Situation der Kläger, die diese auch dargelegt haben, Nachsicht gewährt werden können, wie es etwa auch im Rahmen des Art. 31 Abs. 7 BayVwVfG praktiziert wird.

Jedenfalls ist der Beitragsbescheid inhaltlich rechtswidrig. Zutreffend ist zwar, dass nach § 127 BauGB Erschließungsbeiträge erhoben werden müssen. Allerdings darf das eine Gemeinde selbstverständlich nur auf ihrem Gemeindegebiet. Allenfalls im Rahmen des § 203 Abs. 1 BauGB kann eine Aufgabe, die nach dem Baugesetzbuch einer Gemeinde obliegt, auf eine andere Gemeinde übertragen werden. Notwendig für eine entsprechende Aufgabenübertragung ist allerdings der Erlass einer Rechtsverordnung, die es vorliegend nicht gibt. Angesichts der bundesrechtlichen Regelung des § 203 Abs. 1 BauGB, die sich speziell auf Aufgaben nach dem Baugesetzbuch bezieht, dürften etwaige landesrechtliche Regelungen mit vergleichbarem Regelungsinhalt ausgeschlossen sein.

Darüber hinaus ist das Grundstück unbebaut und wegen seiner Lage außerhalb des Bebauungsplans auch dauerhaft nicht bebaubar. § 133 BauGB ist deshalb nicht einschlägig.

Für die Kläger überhaupt nicht nachvollziehbar ist schließlich die Verschlechterung durch den Widerspruchsbescheid. Zwar waren sie zuvor auf diese Möglichkeit hingewiesen worden, dennoch fühlen sie sich – so haben sie es mir gegenüber geäußert – in einer Weise bestraft, die mit ihrem Verständnis vom Rechtsstaat nicht vereinbar ist, zumal ihnen die Möglichkeit Widerspruch zu erheben nach der Rechtsbehelfsbelehrung ausdrücklich eingeräumt wurde.

Marion Glaser-May

Rechtsanwältin

Bei Anlage 1 handelt es sich um eine ordnungsgemäße Prozessvollmacht für Rechtsanwältin Marion Glaser-May.

Anlage 2 (auszugsweise):

(…) Bad Tölz

Hannelore und Hans Holzer

(…) Gaißach

Sehr geehrte Frau Holzer, sehr geehrter Herr Holzer,

als Miteigentümer des Grundstücks Flurstück Nr. 140, Gemarkung Gaißach, das an der neu errichteten Gaißacher Straße liegt, werden Sie jetzt, worüber Sie wie alle anderen betroffenen Eigentümer schon im Februar 2009 informiert worden sind, auf Grundlage der Satzung über die Erhebung von Erschließungsbeiträgen durch die Stadt Bad Tölz vom 2. Oktober 2006 zu einem Erschließungsbeitrag in Höhe von 4 500,– € herangezogen.

Der beitragsfähige Erschließungsaufwand und dessen Verteilung errechnen sich wie folgt:

(…)

Zur Erhebung des Erschließungsbeitrags für Ihr oben genanntes Grundstück sind wir aufgrund einer Vereinbarung mit der Gemeinde Gaißach vom 20. März 2007 berechtigt, die Sie gerne bei uns einsehen dürfen.

Den festgesetzten Betrag überweisen Sie bitte innerhalb von vier Wochen nach Bekanntgabe dieses Bescheids auf nachfolgendes Konto der Stadtkasse: (…)

Mit freundlichen Grüßen

Fürst

Verwaltungsamtmann

Rechtsbehelfsbelehrung:

Gegen diesen Bescheid kann jeder von Ihnen innerhalb eines Monats nach seiner Bekanntgabe entweder Widerspruch einlegen oder, wenn die übrigen Adressaten dieses Bescheids zustimmen, unmittelbar Klage erheben.

1. Wenn Sie Widerspruch einlegen:

Der Widerspruch ist schriftlich bei der Behörde einzulegen, die über den Widerspruch entscheidet, hier das Landratsamt Bad Tölz – Wolfratshausen, (…). Sollte über den Widerspruch ohne zureichenden Grund in angemessener Frist nicht sachlich entschieden werden, so können Sie Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München, (…) erheben. Die Klage ist (…).

2. Wenn Sie unmittelbar Klage erheben:

Die Klage müssen Sie innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe dieses Bescheids bei dem Bayerischen Verwaltungsgericht München (...) schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Gerichts erheben.

(…)

Hinweis: Widerspruch oder Klage haben wegen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO keine aufschiebende Wirkung, so dass die Zahlung auch im Falle ihrer Erhebung fällig ist.

Anlage 3:

(…) Gaißach

(…) Bad Tölz

Sehr geehrte Damen und Herren,

gegen das Schreiben der Stadt Bad Tölz vom 2. Juni 2009, das uns zur Zahlung von 4 500,– € verpflichtet, erheben wir Einspruch. Es ist uns nicht erklärlich, warum wir für unser landwirtschaftlich genutztes Grundstück Flurstück Nr. 140 einen Erschließungsbeitrag bezahlen sollen. Das Grundstück ist nicht, nicht einmal mit einem Pferdeunterstand für die Pferde, die wir im Sommer dort halten, bebaut.

Leider war es uns erst jetzt möglich, den Einspruch zu erheben. Wegen der Heuernte ab dem 25. Juni 2009, die immer ca. drei Wochen dauert, sind wir vorher einfach nicht dazu gekommen. Sofort nach der Erntezeit haben wir den Einspruch geschrieben. Deshalb bitten wir es zu entschuldigen, dass unser Schreiben erst jetzt eingeht.

Mit freundlichen Grüßen

Anlage 4 (auszugsweise):

Hannelore und Hans Holzer

(…) Gaißach

Aufgrund Ihres Widerspruchs vom 17. Juli 2009, eingegangen am 20. Juli 2009, gegen den Erschließungsbeitragsbescheid der Stadt Bad Tölz vom 2. Juni 2009 betreffend das Grundstück Flurstück Nr. 140, Gemarkung Gaißach, ergeht folgender

Widerspruchsbescheid:

1. Der Widerspruch wird zurückgewiesen.

2. In Abänderung des Bescheids der Stadt Bad Tölz vom 2. Juni 2009 wird der für das Grundstück Flurstück Nr. 140, Gemarkung Gaißach, zu zahlende Erschließungsbeitrag auf 5250,– € (statt bisher 4 500,– €) festgesetzt.

3. (…)

Begründung:

Das Landratsamt ist gemäß § 73 Abs. 1 VwGO zuständig zur Entscheidung über den Widerspruch.

Der Widerspruch ist schon unzulässig, weil verfristet. Nach § 70 Abs. 1 VwGO ist der Widerspruch innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des entsprechenden Verwaltungsakts zu erheben. Der Erschließungsbeitragsbescheid wurde von der Stadt Bad Tölz am 2. Juni 2009 erlassen. Ihr Widerspruch ging aber erst am 20. Juli 2009 beim Landratsamt ein und damit deutlich außerhalb der Frist des § 70 Abs. 1 VwGO. Gleichwohl ist – unabhängig von der Verfristung – eine Entscheidung in der Sache geboten. Die Widerspruchsfrist dient primär dem Schutz des Landratsamts, das aufgrund seiner Sachherrschaft über den Streitstoff zu einer Sachentscheidung befugt ist.

Wie die Stadt Bad Tölz zutreffend ausführt, durfte sie ausnahmsweise auch einen Erschließungsbeitrag für ein Grundstück in der Nachbargemeinde Gaißach erheben. Zu diesem Zweck ist am 20. März 2007 eine Vereinbarung getroffen worden, die vom Landratsamt genehmigt wurde. Allerdings ist der Stadt Bad Tölz bei der Ermittlung des beitragsfähigen Erschließungsaufwands ein Fehler unterlaufen, da eine Rechnung übersehen wurde. Wegen der gesetzlichen Pflicht zur Erhebung von Erschließungsbeiträgen konnte der Fehler durch die Widerspruchsbehörde selbst korrigiert und der entsprechend höhere Betrag festgesetzt werden.

(…) [Es folgt eine ordnungsgemäße Rechtsbehelfsbelehrung.]

Bachler

Oberregierungsrat

der Stadt Bad Tölz

(…) Bad Tölz

(…) München

Betreff: Verwaltungsstreitsache Hannelore und Hans Holzer ./. Stadt Bad Tölz, Az. M 27 K 09.246

Sehr geehrte Damen und Herren,

zu der erhobenen Klage nimmt die Stadt Bad Tölz wie folgt Stellung:

Die Beitragserhebung für das Grundstück Flurstück Nr. 140 der Gemarkung Gai-
ßach ist in zulässiger Weise erfolgt. Zum einen hat das Grundstück mit der Erschließung durch den Bau der Gaißacher Straße einen Vorteil erlangt, da die Kläger jetzt auf einer ausgebauten, asphaltierten Straße zu ihrem Grundstück gelangen können, während dies bisher nur über Feldwege möglich war. Zum anderen dürfte nach hiesiger Einschätzung auch einer Bebauung des klägerischen Grundstücks nichts mehr entgegenstehen, sobald alle Grundstücke im Bereich des Bebauungsplans „Westlich der B 13“ bebaut sind.

Schließlich wurde mit der Gemeinde Gaißach am 20. März 2007 eine vertragliche Vereinbarung auf Grundlage des Gesetzes über die kommunale Zusammenarbeit darüber getroffen, dass die mit dem Bau der Gaißacher Straße zwangsläufig erfolgte Erschließung des klägerischen Grundstücks und der dadurch eingeräumte Vorteil von der Stadt Bad Tölz durch eine Beitragserhebung abgeschöpft werden dürfen. Ansonsten – die Straße wurde, wie bereits ausgeführt, von uns gebaut und die Gemeinde Gaißach kann dafür nichts verlangen – wäre das Grundstück dauerhaft beitragsfrei, was man unter dem Gesichtspunkt der Abgabengerechtigkeit nicht vertreten kann. An die Regelung des § 203 Abs. 1 BauGB hat niemand gedacht und auch nicht denken müssen, weil dafür zuerst noch eine Verordnung hätte erlassen werden müssen, während auf die Erteilung der Genehmigung einer Vereinbarung nach dem oben genannten KommZG ein Anspruch besteht. Weil das so ist, hat das Landratsamt Bad Tölz – Wolfratshausen die Vereinbarung auch ohne Weiteres genehmigt.

Der Widerspruchsbescheid hat den zu entrichtenden Beitrag richtigerweise erhöht, weil die Bauverwaltung der Stadt Bad Tölz bei der Aufwandsermittlung für den Bau der Gaißacher Straße eine Rechnung übersehen hat. Bei Umlegung dieser Kosten auf die erschlossenen Grundstücke ergibt sich für das klägerische Grundstück ein zusätzlicher Betrag in Höhe von 750,– €. Da eine Beitragserhebungspflicht besteht, durfte die Widerspruchsbehörde dies in eigener Kompetenz erledigen. Das hat uns einen ergänzenden Beitragsbescheid erspart. Alle anderen Eigentümer der durch die Gaißacher Straße erschlossenen Grundstücke sind von uns entsprechend behandelt worden.

Wir bitten daher, die Klage abzuweisen.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Franziska Fradinger

Erste Bürgermeisterin

Aus den beigezogenen Akten der Stadt Bad Tölz über den Erlass des Erschließungsbeitragsbescheids und den Akten über die Vereinbarung mit der Gemeinde Gaißach ergibt sich Folgendes:

1. Aus den jeweiligen Postzustellungsurkunden ergibt sich, dass der Erschließungsbeitragsbescheid vom 2. Juni 2009 den Eheleuten Holzner am 5. Juni 2009 zugestellt wurde und der Widerspruchsbescheid vom 14. August 2009 am 17. August 2009.

2. Zur Vereinbarung der Stadt Bad Tölz mit der Gemeinde Gaißach vom 20. März 2007:

Dem Vertragsabschluss ist jeweils ein Beschluss des Bauausschusses der Stadt Bad Tölz in der Sitzung vom 15. Januar 2007 und des Gemeinderats der Gemeinde Gaißach in der Sitzung vom 19. Januar 2007 vorausgegangen. Die Vereinbarung ist von den jeweiligen ersten Bürgermeistern am 20. März 2007 unterzeichnet worden. Die Genehmigung des Landratsamtes Bad Tölz – Wolfratshausen datiert vom 23. März 2007 und ging beiden Gemeinden am 26. März 2007 zu. Am 4. April 2007 wurde im Amtsblatt des Landratsamtes Bad Tölz – Wolfratshausen ausschließlich die Genehmigung der Zweckvereinbarung bekannt gemacht.Die Vereinbarung zwischen der Stadt Bad Tölz und der Gemeinde Gaißach enthält unter anderem nachfolgende Regelungen: