KAPITEL 1

1934. Die junge Frau in einem ärmellosen weißen Seidenkleid stand am Fenster einer kleinen Wohnung. Ihr Blick fiel auf das warme Licht Roms, die von der Antike durchwehte Stadtlandschaft und die Steinmauern. Es war Abend. Über die Dächer hinweg sah sie eine andere Frau am Fenster, auf gleicher Höhe mit ihr. Auch sie sah hinaus. Die Frau saß ganz still, vielleicht las sie ein Buch, denn sie schaute hin und wieder auf ihre Hände, als blättere sie eine Seite um. Ihr Haar war zu einem Knoten hochgesteckt. Aus der sicheren Haltung ihrer Schultern schloß Jean, daß sie eine dieser eleganten älteren Frauen war, die man auf dem Weg zu den Geschäften in Trastevere sah. Jean wünschte, daß sie aufblickte, ihr zuwinkte, obwohl man das hier in Rom vielleicht unpassend fände. Nur ein kleines Zeichen, das hätte ihr gefallen. In diesem Augenblick sehnte sie sich nach ihrer Mutter; die Fremde hatte die gleiche ihr so vertraute gebieterische Kopfhaltung.

Die Wohnung, in der sie sich befand, gehörte Jack Reason, dem Sekretär des Luftwaffen-Attachés in Rom. Die Wände waren kahl, tagsüber flutete Sonnenlicht das Zimmer. Ansonsten war es ein einfacher Ort mit wenig mehr Dekor als ein oder zwei Vasen, einem leidlich schönen Teppich, ein paar leichten Rattanmöbeln, als wären die Besitzer es gewohnt, oft umzuziehen und ihre Habe ohne großen Aufwand zu verschicken. Zuerst hatte es sie überrascht, daß sie, trotz der alten Gebäude in der Umgebung und der Andersartigkeit dieser Stadt, von dem Geruch von Tabak und ­Talkumpuder, Bratfett und Desinfektionsmittel umhüllt war, den Ausdünstungen, an die sie und ihre Mutter in billigen Unterkünften in London gewöhnt gewesen waren.

Die Probleme hatten am ersten Tag des Fluges in Marseille begonnen.

Genau ein Jahr zuvor hatte sie ein Flugzeug in Belutschistan zerstört, eine Maschine, die ihr nicht gehörte. Das war Pech gewesen, glaubte sie, ganz einfach, aber dieses Mal – da gab es kein Vertun – war es ihr Fehler. Die Gipsy Moth hockte am Ende auf einer Wiese am Ufer des Tiber, das Fahrwerk gebrochen, die Flügel zerdrückt. Als sie kreisend und taumelnd wie ein Glühwürmchen durch die Nacht geflogen war, mit nichts als einer Taschenlampe, die ihr notdürftig den Kurs zeigte, hatte sie es irgendwie geschafft, die hohen Rundfunkmasten auf beiden Seiten zu umschiffen.

Es war schon nach Mitternacht gewesen, als sie zum Pronto si Corso gebracht wurde, eine Art Rote-Kreuz-Station. Der Benzintank war leer gewesen, und das hätte nicht geschehen dürfen. Wie konnte sie so furchtbar dumm sein? Wie hatte sie nur ihre Mutter, die sie über alles liebte und die ihr so viel gegeben hatte, so enttäuschen können?

Es war kaum auszuhalten, daran auch nur zu denken. Da war dieser schwarze Vogel, der auf ihrer Schulter saß, dieser Alptraum, der sie in manchen Nächten aufschreien ließ, dieses Ungeheuer, das sie töten mußte. Ihre Mutter wußte, daß der Vogel da war, und nur ihre Mutter konnte ihn verjagen. Aber sie war nicht hier, sie war in London und wartete auf die Meldung, daß Jean die nächste Etappe ihrer Reise geschafft hatte. Am Morgen würde sie die Nachricht von einem Desaster erhalten, einem, das sich leicht hätte vermeiden lassen, wenn Jean auf die Männer in Marseille gehört hätte. Vielleicht war es die Stadt Marseille selbst, unberechenbar und gefährlich, voller Seeleute und Zigeuner. Sie hatte nicht eine Nacht in der alten Hafenstadt verbringen wollen. Doch nein, das war nicht die Wahrheit. Eigentlich hatte sie vor sehr wenigen Dingen Angst, wenn sie Boden unter den Füßen hatte, nur in der unendlichen Weite des Himmels spürte sie manchmal die Gefahren. Das hatte sie sich selbst zuzuschreiben. Sie hätte es besser wissen können.

Hinter ihr betrat Molly Reason das Zimmer. Sie war eine rundliche Frau Ende Vierzig, mit krausem, in der Mitte gescheiteltem Haar und ängstlichen Augen, als ob ihr Gast sie nervös machte. Sie trug ein geblümtes Kleid, das über ihrem Busen auf eine Art plissiert war, die ihn mächtig hervortreten ließ. Ihr Ehemann war gleich nach der Bruchlandung herbeigerufen worden. Jetzt hatte er die Verantwortung übernommen und Jean in ihrer Wohnung untergebracht.

»Entschuldigung, Miss Batten«, sagte Molly. »Der Doktor ist hier, um nach Ihnen zu sehen.«

Jean drehte sich um und versuchte ihr Bedauern darüber zu verbergen, daß ihre Gedanken unterbrochen wurden. »Der Doktor? Welcher Doktor?«

»Der Arzt, der Sie gestern abend untersucht hat. Er will schauen, ob es Ihnen besser geht.«

Als hätte Jean schon zugestimmt, ihn zu empfangen, kam der Arzt hinter Molly herein.

»Herr Doktor!« Jean streckte die Hand aus. »Das ist sehr nett von Ihnen, aber Sie werden sehen, es geht mir wunderbar. Ganz ­sicher viel besser als gestern abend. Oder war es gestern morgen? Es tut mir sehr leid, daß Sie so spät geweckt wurden, um ein ­törichtes Mädchen wie mich zu behandeln.« Sie lächelte ge­zwungen.

Als sie sich kennenlernten, war ihr linkes Auge geschwollen und veilchenblau, ihre Lippe hing herunter. Der Doktor war zu der Ambulanz gerufen worden, wohin sie von einer Gruppe Männer gebracht worden war, die sie völlig durchnäßt gefunden hatten, als sie durch das verregnete Marschland stolperte. Als er ihre Lippe nähte, tat das sehr weh, aber weder weinte sie, noch schrie sie. Das war ihr Abend der Torheit, und was auch immer sie fühlte, sie wollte es nicht offenbaren. Sie wußte, was ihre Mutter sagen würde: »Kopf hoch, Darling. Augen zu und durch.« Nellie hatte keine Zeit zu jammern. Sie hatte, wie sie sagte, zu ihrer Zeit genug gelitten, und damit war jetzt Schluß. Sie und Jean konnten zusammen die Welt erobern.

»Sie wird im Nullkommanichts wiederhergestellt sein, nicht wahr?« fragte Molly Reason den Arzt in besserem Italienisch, als Jean erwartet hatte.

Er schaute mit hochgezogener Augenbraue auf seine Patientin und sprach sehr schnell. Die ältere Frau hob die Schulter und schien unsicher.

»Was hat er gesagt, Mrs. Reason?« fragte Jean. Sie war sich darüber im klaren, daß sie zumindest verpflichtet war, seinen Rat anzuhören, denn er war die ganze Nacht aufgeblieben und hatte kalte Kompressen auf ihr Auge gelegt und dafür gesorgt, daß die Schwellung zurückging.

Molly zögerte. »Er sagt, die Signorina ist sehr hübsch, und wenn sie auf sich aufpaßt, wird sie bald wieder so schön sein wie zuvor. Er sagt, ihr Haar sei schwarz wie Ebenholz, ihre Haut weiß wie Schnee. Er rät, Miss Batten, sich einige Wochen auszuruhen, und hofft, Sie bleiben in Rom, während Sie sich erholen.«

»Ein paar Wochen! Das ist lächerlich! Ich muß mein Flugzeug reparieren und nach Australien fliegen.«

»Tja, die Welt ist voller schöner Pläne.« Mrs. Reason wirkte streng. »Aber es ist kaum das erste Mal, daß Sie sich auf den Weg nach Australien gemacht haben, nicht wahr? Ich schlage vor, Sie legen sich ins Bett und ruhen sich aus. Der Doktor sagt, Sie stehen noch unter Schock.«

Mit diesen Worten wandte sie sich um.

»Mrs. Reason«, sagte Jean, »haben Sie heute noch nicht mit Ihrem Mann gesprochen?« Sie wählte ihre Worte sorgfältig, wohl wissend, daß die Frau über ihren unerwarteten Gast gar nicht glücklich war. Sie hatte die Wohnung sehr früh verlassen, um zur Messe zu gehen, und war erst viel später zurückgekommen.

Molly machte eine Pause. »Er ist heute morgen nicht zur Kirche gegangen«, sagte sie mit fester Stimme.

»Weil wir höllisch gearbeitet haben. Die italienische Luftwaffe hat mein Flugzeug heute nachmittag zum Flugplatz transportiert. Sie erstellen schon eine Liste der Ersatzteile, die nötig sind, um meine Maschine zu reparieren. Mr. Reason war sehr hilfsbereit.«

»Mein Mann hat mich nach dem Lunch angerufen. Soweit ich weiß, gibt es in ganz Rom keine Flügel für Ihre Maschine. Ohne Flügel werden Sie aber nicht weit kommen.«

Jean blickte an ihrem hübschen Kleid herunter und lachte wieder, dieses Mal richtig. »Glauben Sie das nicht! Ich weiß, daß es Flügel gibt. Ich habe im Hangar welche gesehen.«

»Die haben Sie aber noch nicht«, warnte Molly.

Eigentlich hatte der Ärger schon in der Woche davor begonnen. Es war ein ungünstiger Start gewesen. Sie und ihre Mutter saßen beim Frühstück in der kleinen Pension in Kent, wo sie vor Jeans Abflug vom Flugplatz Lympne wohnten. Nellie ermahnte sie, tüchtig zu essen, weil, wie sie sagte, sie nicht wisse, wo sie ihre nächste vernünftige Mahlzeit bekäme. Sie müsse bei Kräften bleiben. Ihre Mutter war eine sehr attraktive Frau, groß und stattlich. Sie aß, was sie wollte, und sah immer so aus, als fühle sie sich sehr wohl in ihrer Haut. Wenn sie gemeinsam über die Straße gingen, reichte die kleine, zierliche Jean ihrer Mutter kaum bis zur Schulter. Die Leute schauten diesem Paar hinterher, das sich ähnelte und doch so verschieden war. Nellie Batten hatte regelmäßige Gesichtszüge, die ihre Tochter geerbt hatte, einen großen sensiblen Mund, schwere Augenlider, ein starkes Kinn, das sie leicht vorstreckte, wenn sie mit sehr geradem Rücken umherging. Wenn man sie ansah, hatte man das Gefühl, sie müsse Humor haben, aber sie lachte selten. Es gab eine Zeit, in der sie auf der Bühne gestanden hatte – in sehr kleinen Theatern, erzählte sie mit einer Spur Wehmut, die von ihrer normalen Haltung abwich. Neuseeländischen Theatern. Als ob das alles sagte. Kleine Theater in kleinen Städten.

»Darling«, hatte Jean gesagt, »du weißt, daß mein nächstes Mahl in Rom sein wird. Ich werde sicher fabelhaft gut essen.«

Zu diesem Zeitpunkt waren sie, später als erwartet, in Gesellschaft von Jeans Verlobtem Edward Walter, der aus London gekommen war, um sich zu verabschieden und um ein letztes Mal zu versuchen, sie zu überreden, nicht zu fliegen. Er rieb sich noch die Augen, entschuldigte sich, den Wecker überhört zu haben. Jean beobachtete ihn über den Tisch hinweg, wie er sich durch einen Berg von gebackenen Bohnen und drei Eiern hindurcharbeitete, jedoch genügend lange Pausen einlegte, um sie daran zu erinnern, daß er ihr die Not-Axt gekauft hatte, damit sie, wenn sie ins Meer stürzte, die Flügel ihrer Maschine abhacken konnte, um ein Floß daraus zu machen.

»Ich habe sie eingepackt, Ted«, sagte sie.

»Na, Gott sei Dank. Du weißt, ich wollte, daß du ein Rettungsfloß mitnimmst.«

»Die Axt wird mir gute Dienste leisten, wenn ich wirklich in Seenot bin. Du weißt, wie wenig Platz im Cockpit ist – du bist oft genug selbst geflogen. Ich habe das Nötigste.« Sie unterließ es, ihn daran zu erinnern, daß er ein Sonntagsflieger war, eher ein Enthusiast als ein echter Pilot, und daß er, obwohl er sogar selbst eine Gipsy Moth besaß, nie weiter als bis zur nächsten Stadt geflogen war, geschweige denn über den Ärmelkanal. Und sie beschrieb auch nicht näher, was das Nötigste war, obwohl ihre Mutter ihr ein feines konspiratives Lächeln zugeworfen hatte, als Jean es erwähnte. Sie hatte ihre Tochter beim Einkaufen begleitet: Gesichtscreme und Talkumpuder, mehrere Garnituren Unterwäsche, ein weißes Seidenkleid für die Abende nach der Landung. In ihrer Brusttasche hatte sie Puder und Lippenstift, eine kleine Flasche Parfum und ihren Kamm. »Achte darauf, daß deine Haare immer gut frisiert sind, wenn du landest«, hatte Nellie ihr geraten. »Du mußt aussehen, als wäre das alles gar nicht anstrengend.«

»Ich möchte, daß du den Revolver nimmst, den ich dir angeboten habe«, sagte Edward. »Er ist im Auto.«

»Nein, Ted. Ich habe es ohne Waffe in Belutschistan geschafft. Wenn ich anfange, auf Leute zu schießen, werden sie eher zurückschießen als mir zu Hilfe kommen. Du dramatisierst das.«

»Das hatte ich nicht vor. Wenn du ins Meer stürzt, und da sind Haie, was dann?«

Jean betrachtete ihn genau, und sie bemerkte die kahle Stelle an seinem Hinterkopf, die sich auszubreiten begann. Er sah schon gut aus, mit diesem Flair eines noblen Engländers, das sie anfangs attraktiv fand. Aber obwohl sein Gesicht glatt war, sammelten sich weiche Falten an seinem Kinn, die ihn älter aussehen ließen als dreiunddreißig. »Du meinst, dann sollte ich Selbstmord be­gehen?« fragte sie.

Er schob seinen Teller mit einer ärgerlichen Geste zur Seite. »Jetzt bist du die Theatralische.«

Jean stand auf. Nicht zum erstenmal kam ihr der Gedanke, daß dieser Mann, dem sie die Ehe versprochen hatte, ihr zum Erbrechen langweilig werden könnte. Seine erste Frau schien ihn sehr schnell satt gehabt zu haben. Was würde ein alternder Börsenmakler wohl von ihr erwarten? Dinner-Partys zu veranstalten und über Beteiligungen und Rentenpapiere zu sprechen? Sie drehte den an der Oberseite mit sehr guten Brillanten besetzten Ring an ihrem Finger.

»Wir sollten aufbrechen, es dämmert fast schon«, sagte sie.

Nellie nickte. »Ja, laß uns gehen, Darling. Du willst heute nach Australien starten. Wenn du nur schneller hinkommst als Mrs. Mollison!«

Jean spürte, daß ihre Mutter jeden Moment anfangen konnte, ein Loblied auf Amy Johnsons Leistung zu singen, die in neunzehneinhalb Tagen von England nach Australien geflogen war. Nellie nannte die Rekordfliegerin immer mit ihrem Ehenamen, als wollte sie damit ausdrücken, daß ihr seit der Heirat die Flügel gestutzt worden waren; dabei setzte Jeans Rivalin weiterhin Rekordmarken. Der Rekord für den Alleinflug einer Frau von einer Seite der Welt zur anderen – und gleichzeitig der einzige derartige Flug – bestand seit 1930, seit vier Jahren also. Nellies Augen funkelten wie im Vorgriff auf den kommenden Triumph. »Wie lange wirst du brauchen?« fragte sie Jean gewöhnlich, obwohl die Frage immer rhetorisch war. Und darauf antwortete ihre Tochter immer, daß sie hoffe, wenn alles gut ginge, würde es zehn oder zwölf Tage dauern.

Und jetzt war sie, statt Rekorde zu brechen, hier in Rom, mit Molly Reason, die wegen ihrer Misere herumstichelte – allein mit allen Plänen und Zielen.

»Mein Mann sagt, daß Signor Savelli, dem die Gipsy Moth gehört, nicht scharf darauf ist, die Flügel seiner Maschine mit Ihnen zu teilen.«

Jean sah über die vom Sonnenuntergang rosa gefärbten Dächer. Für einen Moment meinte sie, daß die Frau am Fenster gegenüber ihr ein wenig zunickte. »Ich versichere Ihnen«, sagte sie, ihr Kinn senkend, »ich werde Flügel haben, bevor der Tag zu Ende ist.«

KAPITEL 2

1909. Als Jean geboren wurde, pinnte ihre Mutter, Ellen Batten, genannt Nellie, ein Zeitungsphoto von Louis Blériot und seinem Flugzeug über ihre Wiege. Acht Monate vorher war der Franzose in einem zweisitzigen Eindecker über den Kanal geflogen, der erste Mensch, dem dieses Bravourstück gelang, in sechsundreißig Minuten und dreißig Sekunden. Ein denkwürdiges Jahr, sagte die Familie – Blériots Triumph und die Geburt von Jean.

Die Geschichte des Fliegers wurde oft erzählt bei den Battens, als sie alle zusammen in Rotorua lebten. Das Thema kam jedesmal auf, wenn von einer neuen Heldentat eines Piloten berichtet wurde. »Das hat mich tief bewegt«, sagte Nellie dann. »Vielleicht war ich wegen meines Zustands zu dieser Zeit leicht zu beeindrucken. Aber weißt du, was ich über diesen Mann las, der sich genau bei Sonnenaufgang über das Meer aufmachte, und darüber, was er zu diesem Moment der vollkommenen Einsamkeit zu sagen hatte, traf mich ins Herz. Wie er beschrieb, war er allein, abgeschnitten, verloren über der riesigen Wasserfläche, er sah nichts am Horizont, nicht mal ein Schiff. Dieser Mut! Stell dir vor, seine Frau war auf einem Begleitschiff, und sie konnte ihn auch nicht sehen. Was sie wohl gedacht haben mag?« Dann machte sie eine Pause, voller Bewunderung. »Er hat es über den Kanal geschafft, und er hat überlebt.« Als ihre Tochter älter war, fügte sie hinzu: »Ich wünschte so sehr, das auch zu können.«

Während dieser Zeit in Rotorua dachten sie, sie seien glücklich: Fred, ein Zahnarzt mit sich prächtig entwickelnder Praxis, seine strahlende Frau Nellie, zwei kleine Söhne und das Baby, Jean. Sicher, es hatte auch Verlust gegeben, ein Sohn war gestorben. Später fragte sich Jean manchmal, ob damit die Probleme der Familie angefangen hatten, ob das vielleicht der erste Hinweis auf den Kummer war, der ihr Leben überschatten würde. Aber als sie geboren wurde, jubelten ihre Eltern über ein Mädchen, umhüllten sie liebevoll mit Windeln und permanenter Aufmerksamkeit, um sie ja nicht zu verlieren. Jean glaubte später, daß sie eine Frühgeburt war, denn nur zwei Tage vor ihrer Geburt hatte ihre Mutter bei einem Ball getanzt. »Niemand hat etwas bemerkt«, prahlte sie. »Sie konnten überhaupt nicht sehen, daß ich schwanger war.« In der Geburtsnacht spielte ihr Vater im Raum nebenan Flöte, während ihre Mutter in den Wehen lag. Sie nannten ihre Tochter Jane Gardner Batten, zur Erinnerung an Freds Mutter, aber irgendwann hieß sie einfach Jean, und dabei blieb es. So nannte sie sich selbst, sobald sie sprechen konnte.

Rotorua sah aus wie eine Grenzstadt, mit langen ungepflasterten Straßen, Pfosten zum Anbinden der Pferde, kleinen, blechgedeckten Holzhäusern. Was die Stadt allerdings grundsätzlich von anderen Ansiedlungen im Zentrum der Nordinsel unterschied, waren die heißen Quellen und der an unerwarteten Orten aus der unruhigen Erde aufsteigende Dampf. Geysire sprudelten, spuckten heißes Wasser in die Luft, und kochender Schlamm blubberte plötzlich an einer Straßenecke. Die Luft war von beißendem Schwefelgeruch erfüllt. Auch wenn Besucher der Stadt den Gestank von faulen Eiern in der Nase hatten, gewöhnten sich diejenigen, die dort hinzogen,schnell daran und bemerkten ihn nicht mehr. Wegen der heilenden Kraft des Wassers war am Ende der Stadt eine Bäderanlage gebaut worden, ein weitläufiges Bad in nachgeahmtem Tudor-Stil, dessen Rückseite einem See zugewandt war, und auch eine Anzahl großer Hotels,um die Erholungssuchenden unterzubringen. Unterhalb des charmanten Eingangs zum Bad mit seinem großzügigen Treppenaufgang und einer Bühne, auf der ein Kurorchester spielte, lag ein umfangreicher Souterrain-Bereich, wo die Patienten sich Therapien unterzogen.

Die Amohia Street, in der die Battens wohnten, lag ganz in der Nähe des öffentlichen Parks mit dem Bad und gleich um die Ecke vom Prince’s Gate Hotel, in dem Premierminister und königliche Hoheiten abgestiegen waren. Der Prince of Wales und seine Gemahlin Mary, die bald König und Königin werden sollten, hatten dort ihre Nächte verbracht, ihnen zu Ehren waren große Bogengänge aus Stahl am Eingang zum Park plaziert. Im Frühling überzogen violette Glyzinien diese Laubengänge, und Weinreben rankten sich im Sommer zu einem grünen Dach. »Denk nur«, flüsterte Nellie Jean ins Ohr, »wir wandeln auf den Pfaden Ihrer Majestäten.«

Das Haus in der Amohia Street war gemietet. Nellie hatte das Wohnzimmer ganz wie zur Zeit von Edward VII. ausgestattet; Bambus- und Korbmöbel mit zierlichen Beinen und kurvigen Rückenlehnen. Es gab nur einen stabilen dunkelgrünen Polstersessel mit bequemem Rückenteil, damit Fred sich nach Feierabend ausruhen konnte. Die Kissenbezüge aus Chintz waren bunt gemustert, die Wände mit einer dunkelgoldenen Tapete dekoriert, darauf ein tiefroter Blütenfries, keine Blumentapete, wie bei den meisten Leuten – das war so unglaublich modern, wie Nellie begeistert feststellte. Das Haus erschien dadurch einfach größer. In den Bodenvasen von Freds Mutter standen immer üppige Sträuße. Ein Klavier befand sich in der Ecke des Wohnzimmers. Fred, ein Mann mit dunklem Teint und lakritzfarbenen Augen, hatte Debussy für sich entdeckt, dessen Musik er als sinnlich beschrieb, Nellie fand sie disharmonisch. »Außerdem«, sagte sie, »führt dieser Mann ein lasterhaftes Leben in Paris, wenn man den Zeitungen glauben darf.« »Das mußt du gerade sagen«, hatte Fred sie ausgelacht, denn Nellie war bekannt für ihren Übermut. Ihr musikalisches Repertoire war vielseitig; etwas Klassik, aber sie spielte auch sehr gern alte Volkslieder, zu denen die Leute sangen, und für die Kinder hatte sie Stücke einstudiert wie The Teddy Bears’ Picnic, das war der letzte Schrei. Sie hielt Jean auf dem Schoß und half ihr, die Akkorde auf dem Klavier zu greifen.

Der nahe See, die Maori nannten ihn Rotorua-nui-a-Kahumatamomoe, für die Europäer hieß er Rotorua, strahlte im Sommer tief dunkelblau, im Winter eisig violett. In seiner Mitte lag eine Insel. Das andere Ufer war von der Stadt aus kaum zu sehen. An Sonntagen gingen die Battens am Seeufer spazieren und wedelten Schwaden von Schwefelgas zur Seite. Nie betraten sie das Pa, das Wohngebiet der Te Arawa, die Umhänge aus Federn webten und ihre Mahlzeiten in den heißen Quellen kochten. In der Nähe des Sees erhob sich eine anglikanische Kirche, von der exquisite Darbietungen bekannter Lieder in einer fremden Sprache herüberschallten. Jean hörte dieser fernen Musik sehnsüchtig zu, aber ihre Mutter sagte, obwohl die Maori es gut meinten mit ihren christlichen Bemühungen, hätten sie immer noch einen langen Weg vor sich, bis sie ihrem Heidentum entkämen. »Mein Vater hat in den Kriegen gegen sie gekämpft«, ergänzte sie kühl.

An manchen Samstagabenden im Winter machte die Familie eine Expedition ins Bad und mietete einen warmen Pool. Nellie glaubte fest an die Heilkraft der Natur. »Los geht’s!« kommandierte sie mit lauter, fröhlicher Stimme. »Das ist gesund für euch.«

Der Pool war so tief, daß er Jean bis zum Kinn reichte. An den Rändern waren Bänke, so daß sie alle sitzen konnten und ihre Füße in der Mitte schwebten. Wenn ihnen warm genug war, gingen sie in die Umkleideräume und tauschten ihre Badesachen gegen Pyjamas und Bademäntel. Danach huschten sie unter Gelächter und Geflüster die Straße hoch zum Haus und sprangen in ihre Betten.

Fred, ein Mann mit Charme, wurde in seiner Zahnarztpraxis ständig gebraucht. Er war Hauptmann in der Taranaki Territorial Army, in die er vor einigen Jahren eingetreten war, und konnte mit beiden Händen gleichzeitig Kanonenkugeln hochheben. Abends, wenn er in dem grünen Sessel saß, die Pfeife im Mund, massierte Nellie seine breiten Schultern. Seine Brustmuskeln wellten sich unter dem Hemd; sein sorgfältig gekämmtes, leicht lockiges dunkles Haar zog sich von dem spitzen Haaransatz an der hohen Stirn nach hinten. »Du hast die Wangenknochen deines Vaters«, sagte Nellie dann zu Jean, Vater und Tochter gleichermaßen bewundernd, während sie ihren Ehemann weiter massierte. Jean saß gewöhnlich zu Freds Füßen auf einem niedrigen Hocker. Seine Hand fiel auf ihren Kopf, wenn er döste, die Finger in ihrem Haar vergraben, sein Griff zuckte auf ihrem Schädel, wenn er aufwachte. »Sie ist so grazil, unser kleiner Däumling«, bemerkte er Nellie gegenüber. Däumling. Das war sein Name für sie damals. Sie gebrauchte das Wort, wenn sie an kalten Wintermorgen ihre Fäustlinge suchte. Es gab davon viele: In dieser Gegend war es klirrend kalt.

»War Mrs. Hardcastle wieder da?« fragte Nellie eines Abends.

»Wie kommst du denn darauf?« entgegnete Fred.

»Den Fresien-Duft ihres Parfums würde ich überall erkennen.«

»Ach so«, meinte Fred. »So was bemerke ich gar nicht. Wenn ich jemanden auf dem Behandlungsstuhl habe, rieche ich nur Desinfektionsmittel und Seife.«

»Sie hat das letztes Jahr auf ihrer Grand Tour durch Europa in Grasse gekauft. Es ist unverwechselbar. Sie trägt es bei Rendezvous. Ihre Zähne müssen in einem schlimmen Zustand sein, wenn sie dich so oft aufsucht. Untersteh dich, mit ihr anzubandeln! Sie ist keine unattraktive Frau.«

»Nächstes Mal werde ich darauf achten und ihr ein Kompliment machen, wenn ich dran denke«, gab Fred zurück.

Während ihr Mann arbeitete, war Nellie in der Stadt unterwegs. Sie ritt auf einer großen weißen Stute von einem Komiteetreffen zum nächsten, saß im Damensattel und trug eine grüne Jacke, ein kariertes Reitkostüm und einen Hut mit einer Feder in mutigem Rot. Die Komitees waren meist für Theatergemeinden tätig, aber auch für den Ruderclub. Sie und Fred ruderten beide auf dem See. Dann gab es noch das Organisationskomitee für den jährlichen Militärball und für die Blumenausstellung. Ihre Blüten gewannen jedes Jahr in der Abteilung Wicken. Sie züchtete auch Gemüse, Berge von Spinat und Salat, weil sie an gesunde Ernährung glaubte.

Aber eigentlich war das Theater Nellies größte Leidenschaft. Seit ihrer Kindheit in Invercargill. Sie trat regelmäßig am Theatre Royal auf, war schon mit vierzehn die Märchenprinzessin in Dornröschen.Dann gab es Musicals im Opernhaus in Wanganui, wo sie ordentlich auf den Putz haute, ihre Fesseln aufblitzen ließ und dabei ihrem Ehemann begegnete. Jetzt war sie am Lyric Theatre in Rotorua und spielte die Hauptrolle in Lady Frederick,eine Witwe mit Vergangenheit, und sie liebte es, wie die Rolle das Publikum zum Lachen brachte. Sollten die Leute doch denken, was sie wollten, sie ein Flittchen nennen und libertinär, wegen ihrer Art, sich auf jede Aktivität zu stürzen. Sie wußte: Es würde nie etwas geschehen, wenn nicht jemand mit Esprit die Dinge in die Hand nahm.

Louis Blériots Heldentaten standen für alles, wovon sie je geträumt hatte: die Kraft, sich selbst durch die Luft zu bewegen. Wie sie Jean anvertraute, fand sie sich in ihren Träumen manchmal in einem Raum, einer Bibliothek vielleicht, mit sehr hohen Bücherwänden, und sie las die Bücher auf den obersten Regalen, indem sie einfach durch die Luft ging. Nach Blériots Flug erzählte sie erstaunten Mitgliedern des Gartenzirkels, daß sie sich genau so sah wie er: allein in der Luft. Die andere Seite, die ferne Küste, blieb freilich unerreichbar.

Das Pferd, das sie ritt, wurde ihr von einem Amerikaner namens John Hoffman geliehen, einem dicken Mann mit schon ergrauendem Haarkranz. Er war um die Jahrhundertwende emigriert und ein Eingeborener geworden, wie man sagte, weil er eine Maori geheiratet hatte. Jedes Jahr kam ein Kind. Nellie fand das sonderbar, aber sie brauchte ein Pferd und sie mochte Hoffman. Er hielt zwei oder drei und ließ sie von Zeit zu Zeit an Rennen teilnehmen. Seine Pferde mußten bewegt werden, fand er. Die weiße Stute hatte weiche Flanken und zuverlässig gute Augen, genau richtig für eine Dame, insbesondere, da sie ihre kleine Tochter meistens bei sich hatte. Manchmal winkte er, wenn sie im Stall abstieg und flüsterte Nellie ins Ohr. »Ein bißchen wetten?« fragte er dann, und lachend gab sie ihm ein paar Münzen. Das nächste Mal, wenn er sie traf, drückte er ihre Hand. »Sie haben ein gutes Auge für Pferde«, sagte er in seinem weichen, gedehnten Südstaatenakzent.

»Und Sie führen mich auf Abwege«, antwortete sie dann. Einmal bat sie: »Erzählen Sie das bloß nicht meinem Mann. Er hält mich nämlich für klüger im Umgang mit Geld, als ich wirklich bin.«

»Oh, aber ich glaube, Sie sind es. Ich glaube, Sie studieren die Pferde genauer, als man Ihnen anmerkt.«

Als Jean vier war, hingen ihr wilde, ungebärdige Locken bis auf die Schultern. Sie und ihr zweitältester Bruder John waren ein­ander sehr ähnlich, feingliedrig und dunkelhaarig, mit der gleichen hellen, durchscheinenden Haut, die eher ein Erbe ihrer Mutter war. Harold, der ältere der beiden Brüder, war größer und, auf eine unerklärliche Art, schwieriger. Als wäre in ihm bereits etwas zerbrochen. Manchmal bemerkte Jean in der Stimme ihrer Mutter, wenn sie mit Harold sprach, ein Mißfallen, das niemals zum Ausdruck kam, wenn sie mit ihr und John redete. Viele Jahre später, nach Flügen um die ganze Welt, nach Ruhm, Verlusten und Verzweiflung, als Jean ihre Mutter in einem fremden Land beerdigte, enthüllten die Hochzeits- und Geburtsurkunden, die sie bei sich hatte, daß Harolds Geburt sich ein paar Monate zu früh nach ihrer Hochzeit ereignet hatte. Das war in einer Stadt unten im Süden gewesen, vor Freds und Nellies Umzug nach Rotorua. Nicht, daß das eine Begründung dafür geliefert hätte, wie Harold war. Höchstens könnte die Trostlosigkeit in seinem tiefsten Inneren, die Jean spürte, vielleicht von diesem Beginn herrühren, der Peinlichkeit, die er seiner Mutter verursacht hatte.

Dennoch, Harold war derjenige, der sich einen Atlas wünschte, um die Weltkarten zu studieren. Er wollte Entdecker werden wie Dr. Livingstone. Sein Vater bestellte einen Times Atlas, und als er ankam, lud Harold John und Jean ein, mit ihm gemeinsam mehr als hundert farbige Landkarten aus aller Welt zu studieren. Er fuhr mit dem Finger über jedes Land und hielt fest, wo es immer noch nicht genug Informationen für die Kartographen gab, um Wissens­lücken zu schließen. Afrika sah, dank Livingstone, gut eingefärbt aus. »Hier ist Rußland. Und Asien. Schaut, ich könnte nach China gehen, da gibt es noch eine Menge zu entdecken«, sagte er sehnsuchtsvoll. Er war seit kurzem im Stimmbruch, und seine Gliedmaßen schlackerten.

»In der Mitte von Australien ist ein Loch«, rief John.

»Ach, das ist nicht weit weg, das wird bald jemand erforschen, denke ich.« Harold hatte die Angewohnheit, beinahe allem, was sein Bruder von sich gab, zu widersprechen. Er »spielte« nie mit John, wie es seine Mutter hoffte. John und Jean waren eher in einer Altersgruppe als die beiden Brüder. Harold ließ Jean mit dem Finger über den Nil fahren. »Da könntest du nicht hin«, sagte er, »zu viele Krokodile, und außerdem können Mädchen keine Entdecker sein.« Nach einer Weile wurde ihm die Gesellschaft der kleineren Kinder langweilig, und er ging in sein Zimmer. Den Atlas nahm er mit. Er war ein Junge, der schnell keine Lust mehr hatte, jedenfalls sagte Nellie das in besorgtem Tonfall.

Eines Tages gelang es Jean, die Haustür zu öffnen und allein die Straße hinunterzulaufen. Harold fand sie, mitten in der Panik, die im Haushalt ausbrach, als ihr Verschwinden bemerkt wurde.

»Ich bin auf Entdeckungsreise gegangen«, sagte sie, »das klang wirklich interessant.« Harold griff sie fest am Arm und zog sie die Straße entlang, Jean jaulte wie eine streunende Katze.

»Untersteh dich, mir Ärger zu machen«, sagte er, als er Jean ihrer Mutter übergab.

Nellie übersah das geflissentlich, schickte Harold mit einer Handbewegung weg, ohne sich zu bedanken. »Jetzt hör auf zu knatschen, Jean«, schimpfte sie. »Wir sind britisch. Briten weinen nicht.«

Jean und John erfanden ihre eigenen Spiele. Nellie besaß einen Kabinenkoffer aus Blech, den sie benutzt hatte, als sie, noch vor ihrer Begegnung mit Fred, ihre Sachen von der Südinsel transportiert hatte. Ihre Mutter hatte ihn aus dem fernen Schottland mitgebracht, als sie frisch verlobt war, gerade mal 17 Jahre alt. Sie hieß Mary Anne Shaw, und sie heiratete einen Militärangehörigen mit Namen John Blackmore. Nellie sprach über ihre Eltern und ihre acht Brüder und Schwestern mit Stolz, obwohl die Familie in alle Winde zerstreut wurde, als sie noch ein Kind war. Sie hatte damals längst fast alle Spuren verloren. Aber Mary Annes Kabinenkoffer war ihr geblieben, und jetzt füllte sie ihn mit ihren und Freds alten Kleidern, seinen Regenmänteln und abgetragenen Zahnarztkitteln, einer ausgebeulten Hose, einer Krawatte, die er mit Tomatensuppe bekleckert hatte und die nicht sauber wurde, einem aus der Form gegangenen Filzhut, der ihm beim Forellenfischen vom Kopf gesegelt und auf dem See gelandet war; alten Petticoats und einigen Kleidern, die Nellie nach zwei Saisons aussortiert hatte, weil die Mode sich geändert hatte, einem Paar grüner Tanzschuhe mit gebrochenem Absatz, einem Band aus Perlen.

Das war der Fundus der Kinder, um sich zu verkleiden. »Nur keine Hemmungen!« rief Nellie. »Ich war nie verlegen wegen der Sachen, die ich als Kind trug. Wißt ihr, daß ich als Mädchen wegen einer Mutprobe mit einem Herrenrad die Hauptstraße von Invercargill heruntergefahren bin, in langen Damenunterhosen? Meine Brüder waren erschrocken, aber die Leute lachten und johlten. Sie fanden das wahnsinnig komisch.«

John war neun, als Jean vier wurde, aber er liebte das Verkleidungsspiel immer noch. Er hüllte seine Schwester in die abgelegten Schätze seiner Mutter, obwohl die Röcke hinter ihr über den Boden schleiften und sie auf die Säume trat. John zog die Anzüge seines Vaters an, spielte die Rolle des jungen Mannes, der ein Mädchen zum Tanzen ausführt, beugte sich zu ihr herunter und bot ihr den Arm, und sie hüpften zusammen vorwärts. Eines Tages sagte John, um mal abzuwechseln, könne sie die Kleidung ihres Vaters anziehen, und er würde ein Kleid tragen. Er zog das alte Ballkleid an, raffte die Röcke so hoch, wie er konnte, und sagte Jean, sie solle den Vater spielen und er wäre die Mutter. Als John gerade Nellies Perlenschnüre in einer Hand schwang, betrat Harold den Raum. Er stand da mit einem süffisanten Grinsen. Beim Abendessen erzählte er seinen Eltern, was er gesehen hatte.

Im Zimmer entstand eine unangenehme Stille. Fred warf ein: »Findest du nicht, daß John ein bißchen zu alt ist, um sich zu verkleiden?« Nellie zögerte einen Moment. »Ich denke, die Kinder sollten ihre Persönlichkeit ausdrücken dürfen, wie immer sie wollen. Männer spielen auf der Bühne alle möglichen Rollen. Stell dir Gilbert und Sullivan ohne Rüschen an den Handgelenken vor.«

»Typisch, daß du nicht auf Vater hörst«, entgegnete Harold heftig.

»Ich habe mich als Mädchen auch etwas albern benommen«, sagte Nellie.

»Kein Wunder, daß sie dich weggeschickt haben«, antwortete Fred ärgerlich.

»Fred, wo ist dein Humor?«

Fred hatte bloß die Achseln gezuckt und das Thema gewechselt. Später stand er auf und nahm seinen Hut. Er ginge am See spazieren, sagte er.

Hatte Jean sich das eingebildet, oder stieß ihre Mutter den Namen Mrs. Hardcastle hastig atmend hervor? Harold, der wütend war, behauptete es, aber seine Mutter drehte sich weg, als habe sie nichts gehört.

Wie dem auch sei, im Sommer wurden die Kinder öfter nach draußen geschickt. Nellie bestand darauf, daß Harold John und Jean zu Picknicks begleitete, obwohl er schon dreizehn war und die Gesellschaft der Kinder mied. Seine Eltern wußten nicht immer, wo er war, und wenn er abends zu spät nach Hause kam, tauschten sie ängstliche Blicke. An einem dieser Abende hatte er einem Picknick widerwillig zugestimmt. Nellie war müde, hatte sie gesagt. War das tatsächlich so? Jean war zu klein, um zu wissen, was an diesem Tag mit ihrer Mutter wirklich nicht stimmte, sie verstand nur, daß sie sich im Dunkeln hinlegen wollte.

Die Luft war drückend, als Harold und John mit Jean losgingen, Nellies klare Anweisungen im Ohr, auf die Schwester aufzupassen.

Sie gingen an den See mit einem Picknickkorb, der Sandwiches enthielt und in einer Papiertüte Brotkrusten, um die Enten und Schwäne zu füttern, die sich am Ufer versammelten. Als sie gegessen hatten, schlug Harold vor, am Ufer entlang weiterzugehen bis zu der Stelle hinter dem Bad, die sie Schwefel-Punkt nannten. Hier kämen die Leute hin, um geheime Dinge zu tun. Als John ihn fragte, was das denn wäre, wich Harold merkwürdig aus. »Dinge«, raunte er. Sie könnten vielleicht etwas beobachten. Sie gingen zu einer Stelle, wo eine von Gestrüpp überwucherte Pflanzung in den See ragte und Bänder von rauhen gelblichen Mineralien die Wasserlöcher der Felsen säumten. Das war weiter, als sie je vorgedrungen waren, aber Harold wollte sie noch weiter führen.

John sagte: »Ich glaube, wir sollten zurückgehen.«

Vorher hatten sie all ihre Brotreste an die Vögel verfüttert. Jetzt kam eine Gruppe von Schwänen aus dem Wasser und begann das Trio einzukreisen.

»Sie sind uns hinterhergekommen«, stellte John kleinlaut fest. »Sie wollen mehr Brot.«

Einer der Schwäne bog den Hals, hob die Flügel und flatterte wütend auf Jean zu. Der harte Schnabel des Vogels schien direkt auf ihre Augen zu zielen.

Sie schrie und hob ihre Hände, um sich zu schützen, während John zu ihr rannte und mit den Armen wedelte. Harold stand einfach da, als wäre er hilflos, unfähig, sich zu bewegen. Dann riß Jean sich zusammen und schrie den Schwan an, aus dem Weg zu gehen, die Finger geradeaus vor sich gestreckt. Das Tier stoppte in seiner Bewegung, die Flügel schwebten für einige Sekunden in der Luft, dann legte es sie an und zog seinen langen Hals zurück.

Kurz danach war es verschwunden. Nun, da die Gefahr vorbei war, schluchzte Jean kurz auf, Johns Arm lag auf ihrer Schulter. Harold schien sich zu erholen und steckte die Hände in die Taschen.

»Was willst du jetzt tun, Kleine, heulen?« fragte Harold.

»Nach Hause«, befahl Jean. Sie wußte nicht, woher ihr Mut gekommen war, aber sie fürchtete sich noch immer, ob vor dem Vogel oder ihrem Bruder, war sie sich nicht sicher.

»Mutter und Vater spielen?« stichelte Harold, und ein seltsames Grinsen umspielte seine Mundwinkel.

John sagte, nein, das sei es nicht, was sie tun wollten; seine Stimme war leise und flehend.

»Ich könnte ja heute den Vater spielen«, bohrte Harold weiter, und jetzt lachte er.

John und Jean waren ganz still geworden. Sie sah noch einmal den Schatten des Schwanenflügels, wie ein schwarzes Cape gegen das von Wolken verschleierte Sonnenlicht. Als sie zu Hause ankamen, rannte John hinein und rief nach ihrer Mutter, Jean sei sehr mutig gewesen. Aber es blieb ruhig, Nellie war nicht da.

Die beiden Jüngeren warteten still im Wohnzimmer, bis sie zurückkehrte, obwohl keiner von beiden das Gefühl der Angst erklären konnte. Es war nicht viel geschehen, sie waren nur nach Hause gelaufen, dann war Harold verschwunden, und irgendwie hatten sie das Gefühl, das sei ihre Schuld. Er blieb bis kurz vor Mitternacht weg. Nellie kam nach Hause, aber sie und Fred sprachen nicht miteinander. Am Morgen ging ihr Vater mit einem Gürtel zu seinem Ältesten, und seine kräftigen Arme sausten mit einer solchen Wucht auf ihn herunter, daß es im ganzen Haus zu hören war.

Ob Harolds Vergehen etwas mit Nellies Unpäßlichkeit zu tun hatte, war schwer zu sagen. Das brisante Wort »Ficken« stand im Raum, aber Jean wußte nicht, was es bedeutete.

Ficken. Das war Harolds Problem. Er habe versucht, mit den Zimmermädchen im Prince’s Gate Hotel herumzuficken. Dabei sei er erst dreizehn, schimpfte der Manager, als er den Battens ihren Sohn zurückbrachte. Er verstand nicht, was die Mädchen in diesem Kind sahen, so, wie sie ihn anbaggerten. Dazu war er in seinem eigenen Interesse zu überheblich.

Fred fickte auch herum. Wie der Vater, so der Sohn, schrie Nellie. Sie hatte Fred erwischt, als er am Freitagnachmittag eine Patientin auf dem Fußboden seines Behandlungsraums fickte.

»Noch weitere Behandlungen durchgeführt?« schleuderte sie ihm mit galliger Stimme entgegen, als sie nach Hause kamen.

Ficken war etwas, das Leuten richtig Ärger einbrachte, etwas, das Familien zerstörte. Genau das würde ihnen schon bald passieren, jedoch in einer anderen Stadt. Fred und Nellie würden getrennt leben, Harold wäre weg, im Ausland verschwunden und sein Atlas mit ihm. Und dann wäre auch John fort. Doch Jean und Nellie wären zusammen.

So würde es sein. Jean und Nellie.