Das Buch Whuon: Nebelwelt

Alfred Bekker

Published by Cassiopeiapress Extra Edition, 2017.

Inhaltsverzeichnis

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NEBELWELT - Das Buch Whuon | Fantasy Roman von Alfred Bekker

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Die Stadt der Magier

Thagon

Wüstenstaub

Yarum

Aworn

Schwarze Reiter

Erwachen

Straßen

Ein Heerzug

Morgen

Weiter

Himora

Das Schattenwesen

Further Reading: Rote Schwerter - dunkle Magie: 1500 Seiten heroische Fantasy

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NEBELWELT - Das Buch Whuon

Fantasy Roman von Alfred Bekker

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Der Umfang dieses Buchs entspricht 217 Taschenbuchseiten.

Thagon, der Magier von Aruba, beschwört die Schattenkreaturen der Hölle. Grausige, orkähnliche Schattenkreaturen und Wolfskrieger stehen in seinem Dienst. Schonungslos greift er nach der Macht in den Reichen der Menschen, indem er deren Herrscher durch willfährige Doppelgänger zu ersetzen versucht. Der Barbar Whuon und seine Gefährten treten ihm entgegen - und werden bald selbst zu Gejagten...

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Copyright

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author , Cover: Hubert Schweizer durch Agentur Munsonius

© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

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Die Stadt der Magier

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Die Karawane war endlos.

Langsam schleppte sie sich durch die große Wüste Tykiens. Gorich saß müde auf seinem Rappen und ließ sich  daherschaukeln. Unbarmherzig brannte die Sonne auf die Erde herab. Der Wüstensand wurde durch den Hufschlag der Pferde aufgewirbelt.

Neben Gorich ritt Whuon, der, wie Gorich, nicht aus Tykien, sondern aus Thyrien stammte. Zusammen waren sie aus ihrem Heimatland ausgezogen, um ferne Länder kennenzulernen.

Die Karawane war von Himora, der Stadt am Rande der Wüste, aufgebrochen und ihr Ziel war Sorgarth, an der hügeligen Küste Tykiens.

„Hast du schon von den Wolfsmenschen gehört, Whuon?“, wollte Gorich wissen. Der andere nickte.

„Ja! Sie sollen angeblich in der großen Wüste leben. Aber gesehen hat sie noch niemand!“

„Die Geschichte der Wolfsmenschen wird wohl nur reine Dichtung sein, Whuon.“

Whuon nickte wieder.

„Es gibt so viele Mythen und Legenden über dieses Land. Eine Legende besagt zum Beispiel, dass der ganze Kontinent, auf dem die bekannte Welt liegt, vor Jahrtausenden einmal eine Eiswüste war.“

Gorich blinzelte in die Sonne.

„Eine Eiswüste, sagst du?“

„Ja! Auch so ein Märchen, das man sich in der Gegend von Himora seit Jahrhunderten erzählt.“

„Aber die meisten Legenden enthalten einen Kern Wahrheit!“

„Es ist bei dieser kaum anzunehmen, Gorich.“

„Der Mensch neigt dazu, das Phantastische und ihm Ungewohnte abzulehnen.“

Langsam begann sich ein heftiger Wind zu erheben, der den Sand hoch emporschleuderte.

„Hoffentlich gibt es keinen Sturm“, meinte einer der anderen Männer. Gorich zuckte mit den Schultern. Er hatte einen Sandsturm in der tykischen Wüste noch nie erlebt, aber aus Berichten von Einheimischen wusste er, wie wild und zerstörerisch sie sein konnten.

„Wir dürfen uns auf keinen Fall verlieren!“, rief Yarum, der Führer der Karawane. Der Wind wurde rasch heftiger. Schon konnte man kaum noch etwas erkennen. Wie ein dichter Nebel hüllte der aufgewirbelte Sand Gorichs Umgebung ein. Sein Pferd galoppierte, wild zerrte der Wind an seinen Kleidern. Vor sich vermochte er gerade noch Whuon zu erkennen. Gorich durfte auf keinen Fall den Kontakt zu den anderen verlieren. Wer den Kontakt verlor, für den gab es kein Überleben. Verzweifelt versuchten Gorichs Augen den aufgewirbelten Sand zu durchdringen.

Und dann war er allein.

Er konnte niemanden mehr sehen.

„Whuon!“, schrie er verzweifelt.

„Whuon! Wo bist du?“

Aber seine Schreie wurden vom Wind verschluckt.

Unbarmherzig gab er seinem Rappen die Sporen, in der Hoffnung, doch noch auf die anderen zu stoßen.

Gorich hielt den Arm vor das Gesicht, um sich vor dem Sand zu schützen, der auf ihn herniederprasselte.

Sein Pferd galoppierte noch immer vorwärts.

Wenn er die anderen nicht wiederfand, dann war es mit ihm vorbei!

„Whuon!“, schrie er in höchster Verzweiflung.

Brutal trieb er seinen Rappen weiter.

Mit aller Kraft krallte er sich an seinem Reittier fest, denn der Wind war so heftig geworden, dass er ihn fast aus dem Sattel riss. Er sah und hörte nichts mehr. Er spürte nur noch den Schweiß seines Rappen, an den er sich mit letzter Kraft klammerte.

Gorich wusste nicht, wohin er ritt. Wenn der Sturm zu Ende war, dann würde er sich irgendwo in der Wüste wiederfinden.

Er wusste nicht, ob er vielleicht die ganze Zeit im Kreis geritten war. Der Gedanke ließ ihn erschauern. Er versuchte, an etwas anderes zu denken.

Da erkannte er vor sich das Hinterteil eines Pferdes und wenig später den ganzen Reiter. Es war Yarum, der Karawanenführer.

„Yarum!“, rief Gorich. Der Karawanenführer drehte sich zu dem Thyrer um. Gorich trieb seinen Rappen zu noch größerer Eile an und hatte Yarum bald eingeholt. Da sah er auch Whuons hagere Gestalt. Aber sonst sah er niemanden mehr.

„Wo sind die anderen?“, rief er zu Yarum hinüber.

„Ich weiß es nicht! Wir haben sie verloren!“

„Wohin reiten wir?“

„Ich weiß es nicht! Vielleicht nach Himora zurück, vielleicht in Richtung Sorgarth oder direkt in die Wüste hinein. Vielleicht aber auch im Kreis!“

Angst ergriff Gorich. Sollte ihre Lage wirklich so aussichtslos sein?

„Können wir denn nichts tun?“, rief er.

„Wir können nur hoffen“, meinte Whuon lakonisch.

Hoffen, was war das schon. Was konnte Hoffen nützen?

Ein Schrei gellte. Man konnte ihn kaum hören, denn der Wind verschluckte ihn. Es war ein Todesschrei! Jemand musste von seinem Reittier abgeworfen worden sein – für ihn würde es keine Rettung mehr geben.

Aber der Schrei beruhigte Gorich eigentümlicherweise auch. So wusste er wenigstens, dass die anderen noch in der Nähe waren. Sie alle ritten dahin – ohne Sinn und ohne Ziel.

Gorich hoffte nur eines: Dass diese Spuk bald ein Ende hätte.

„Wir müssen langsamer werden!“, rief Whuon.

„Warum?“, wollte Gorich wissen.

„Weil wir doch nicht wissen, wohin wir reiten!“

Yarum nickte und zügelte sein Pferd. Die anderen folgten seinem Beispiel. Aber die Pferde ließen sich nicht wirklich beruhigen.

Sie waren jetzt etwas langsamer, aber noch immer schnell genug. Mit fliegenden Mänteln hetzten sie durch die endlose Wüste. Von den anderen vernahmen sie kein Lebenszeichen mehr.

Und dann – es war wie ein Wunder – ließ der Wind auf einmal nach. Es vergingen nur wenige Minuten, und der Spuk war ebenso schnell vergangen, wie er gekommen war. Die Wüste war wieder glatt. Blutrot leuchtete am Horizont die Sonne.

„Die Stürme Tykiens sind nur kurz in der Dauer – dagegen umso heftiger in der Wirkung“, meinte Yarum. Gorich nickte matt.

„Das habe ich zu spüren bekommen. Weißt du, wo wir sind?“

„Ich glaube, dass wir direkt in die Wüste hineingeritten sind.“

Die Vermutung des Karawanenführers wirkte auf Gorich nicht gerade ermutigend.

„Seht! Dort hinten!“ Whuon deutete zum Horizont. Dort waren die verwitterten Ruinen einer Stadt zu sehen.

„Ob dieser Ort noch bewohnt ist?“, fragte Gorich.

Yarum zuckte mit den Schultern.

„Hier bin ich noch nie gewesen“, bekannte er.

Gorich blickte zur Sonne, die blutrot am Horizont stand.

„Bald wird es Nacht sein! In den Ruinen könnten wir übernachten“, meinte der Thyrer.

Yarum machte ein besorgtes Gesicht. Seine Stirn legte sich in Falten.

„Man erzählt sich so allerhand über die Ruinen in der Wüste“, brachte Yarum schließlich heraus.

„Was denn zum Beispiel?“, fragte Whuon mit einem spöttischen Unterton, den Yarum nicht bemerkte.

„Man sagt, dass es dort Zauberer und Monstren gäbe!“

„Und du glaubst es, nicht wahr?“, lachte Whuon.

„Egal! Wir übernachten in den Ruinen. Dort sind wir vor wilden Tieren sicher“, sagte jetzt Gorich.

Wenig später hatten sie die Stadt erreicht. Sie war vollkommen verfallen und es sah nicht so aus, als würde hier noch jemand leben. Dennoch machte Yarum einen zunehmend unruhigeren Eindruck.

Er schien die Legenden, die man sich in der Gegend um Himora erzählte, wirklich ernstzunehmen.

In einem halb verfallenen Gebäude schlugen sie ihr Lager auf. Vor der Tür zündeten sie ein Feuer an.

Schweigend aßen sie ihre mitgebrachten Vorräte.

Langsam versank die Sonne am Horizont und es wurde dunkel. Nur der Mond strahlte hell und unnatürlich.

„Wir sollten uns nun hinlegen. Morgen haben wir einen anstrengenden Ritt vor uns“, mahnte Whuon. Aber Yarum schüttelte den Kopf.

„Ich bin dafür, dass wir eine Wache einteilen“, sagte der Karawanenführer.

„Vollkommen unnötig!“, entfuhr es Whuon und Gorich nickte. Yarum zuckte mit den Schultern.

„Wie ihr meint ...“

Er wickelte sich in seine Decke. Auch die anderen legten sich zurecht und schliefen ein.

Etwas hatte Whuon geweckt!

Er sah unter seiner Decke hervor: Es war nichts zu sehen, aber etwas zu hören. Er vernahm ein Geräusch, wie menschliche Schritte es verursachten.

Whuon warf die Decke zur Seite und griff nach seinem Schwert. Schweigend blickte er auf seine Gefährten hinab – sie lagen schlafend zu seinen Füßen.

Wer konnte außer ihnen das Geräusch verursacht haben? Befand sich am Ende doch noch jemand außer ihnen hier in dieser verfallenen Wüstenstadt?

Da! Da war es wieder!

Ja, es waren eindeutig Schritte. Doch sie waren schneller. Und was war das? Huschte da nicht eine schwarze Gestalt zwischen den Ruinen umher?

Whuon weckte die anderen.

„Was ist, Whuon?“, schimpfte Gorich ungehalten.

„Wir sind nicht allein in den Ruinen“, gab Whuon zur Antwort.

„Dann sind die alten Legenden also doch wahr!“, entfuhr es Yarum.

„So ein Unsinn!“, rief Gorich.

„Ich habe sie gehört – und einen von ihnen gesehen!“

„Du hast geträumt, das wird alles sein!“

„Still, Gorich!“

Die drei schwiegen. Im Hintergrund hörte man leise Schritte.

„Wahrhaftig!“, entfuhr es Gorich. Er sprang auf und griff nach seinem Schwert. Er nickte Whuon zu, was dieser mit Genugtuung zur Kenntnis nahm.

„Du hattest doch recht, Whuon. Was tun wir nun?“

„Wir satteln unsere Pferde. Im Notfall müssen wir schnellstens von hier verschwinden können.“

Yarum nickte heftig und packte seine Sachen zusammen. Die anderen folgten seinem Beispiel.

Whuon schwang sich dann auf sein Pferd.

„Wir werden jetzt die Stadt durchreiten und nach diesen oder dem Wesen suchen.“

Langsam durchritten sie verfallene Straßen, die an sich schon ein geisterhaftes Bild lieferten.

Auf einer Sanddüne am Rande der Stadt sahen sie dann schließlich eine Gruppe von Reitern. Sie waren in schwere Mäntel gewickelt und in den Händen hielten sie gefährliche Schwerter und Lanzen. Langsam bewegten sie sich auf die Stadt zu.

Ihre Köpfe! Whuon erschrak! Sie besaßen Köpfe wie sie Wölfe besaßen!

Die Wolfsmenschen!

„Was machen wir nun?“, wollte Gorich von Whuon wissen, doch dieser wusste es auch nicht.

„Ihren Gebärden nach kommen sie nicht in friedlicher Absicht“, meinte Whuon schließlich.

„Verschwinden wir!“, rief Yarum in panischer Angst. Whuon nickte. Die drei sprengten also in entgegengesetzter Richtung zurück. Doch auch von dieser Seite kam ein Trupp Wolfsmenschen langsam auf sie zu. Es gab kein Entrinnen mehr.

„Wir werden uns wehren!“, rief Yarum wütend.

„Nein“, erwiderte Whuon. „Es wäre zwecklos!“

„Was sollen wir dann tun? Uns vielleicht ergeben?“, rief Yarum spöttisch. Whuon zuckte mit den Schultern.

„Kämpfen ist auf jeden Fall zwecklos, Yarum!“

Die unheimlichen Wolfsmenschen kamen immer näher.

„Ich möchte nur wissen, was die von uns wollen?“, meinte Gorich.

Whuon blickte stumm zu den unheimlichen Gestalten hin.

„Ergebt euch!“, hallte eine gewaltige Stimme durch die Ruinen.

„Es ist die einzige Möglichkeit“, meinte Gorich und Whuon nickte zustimmend.

„Wir ergeben uns!“, rief Whuon zu dem Monstrum.

Einige der Monstren stiegen von ihren Pferden herab und entwaffneten die drei. Dann nahmen die Wolfsköpfigen sie in die Mitte und führten sie in die Wüste. Es war erstaunlich, wie gut sie sich trotz der Dunkelheit zurechtfanden. Sie schienen den Weg genau zu kennen. Whuon fiel auf, dass keiner der Wölfe sprach. Sie wankten alle stumm auf ihren Reittieren dahin und gaben keinen Laut von sich. Auch die Pferde gaben nichts von sich. Sie wieherten nicht, sie schnaubten nicht. Sie setzten einfach stur ein Bein vor das andere – sie bewegten sich wie Maschinen, nicht wie lebende Wesen. Schweigend zog diese Karawane des Grauens daher. Stunden vergingen. Am Horizont ging die Sonne langsam auf – in wenigen Augenblicken würde es wieder drückend heiß sein.

Aber am Horizont tauchte auch noch etwas anderes auf!

Es war eine riesige Kuppel. Sie mochte so groß wie eine ganze Stadt sein.

„Das ist Aruba!“, rief Yarum aus.

„Was ist das?“, wollte Whuon wissen.

„Die Stadt des Magiers. Sie spielt in den tykischen Sagen eine große Rolle.“

„Bist du dir sicher?“

„Ja, Whuon! In der Sage wird sie stets als großer Kuppelbau beschrieben. Ich hätte es kaum für möglich gehalten, dass sie tatsächlich existiert!“

In der Kuppel öffnete sich ein großes Tor, als der Trupp der Wolfsmenschen sie erreichte.

Whuon und seine Freunde wurden hineingeführt. Das Tor schloss sich blitzschnell. Der Raum, in dem sie sich nun befanden, war in einem Halbdunkel gehalten. Hell loderten Fackeln an den Wänden. Whuon und die anderen wurden angewiesen, von ihren Pferden zu steigen. Gespenstisch anmutende Wolfsmenschen führten sie eine schmale Treppe hinauf.

Eine Tür wurde aufgestoßen, ein dunkles Verlies offenbarte sich. Die Tür wurde zugemacht und verschlossen – die drei befanden sich jetzt allein in ihrem Gefängnis.

Dieser Raum war düster – nur einige Fackeln spendeten etwas Licht.

„Das haben wir nun davon, dass wir uns ergeben haben!“, schimpfte Yarum.

„Wenn wir ihnen Widerstand geleistet hätten, dann hätten sie uns schon in der Stadt umgebracht“, gab Whuon zu bedenken.

Gorich ging ratlos hin und her.

„Es ergibt sich die Frage, was wir jetzt tun“, meinte er zu Whuon.

„Ich würde sagen, dass wir erst abwarten, bevor wir etwas tun!“

„Abwarten! Abwarten! Wir müssen etwas tun!“, rief Yarum.

„Und was soll deiner Meinung nach getan werden, Yarum?“, erkundigte sich Whuon ruhig. Aber der Karawanenführer zuckte mit den Schultern.

Gorich klatschte wütend seine Hände zusammen.

„Wir können wirklich nichts tun“, sagte er leise, wobei er sich in die Lippe biss.

„Da wir jetzt nichts zu tun haben, können wir uns in unserem Gefängnis ja ein wenig umsehen. Wer weiß, ob es uns später einmal nützlich sein kann, wenn wir uns hier zurechtfinden“, meinte Whuon. Gorich und Yarum nickten langsam.

Whuon nahm eine Fackel von der Wand und ging vorne weg – die anderen folgten.

Aus der Ferne hörten die drei eine Musik erklingen. Sie war nur sehr leise, aber dennoch deutlich zu hören.

Whuon leuchtete auf einen Haufen menschlicher Gebeine.

„Wir waren offenbar nicht die ersten, die man hierher brachte und ermordete“, meinte er kaum hörbar.

„Woran mögen sie gestorben sein?“, erkundigte sich Gorich.

Whuon zuckte mit den Schultern.

„Wir werden es wohl bald erfahren“, prophezeite er.

Sie gingen weiter. Und wieder war diese Musik da – es war eine geheimnisvolle, mystische Melodie, die man aus weiter Ferne hören konnte. Die Melodie schien immer gleich weit entfernt zu sein.

„Diese Musik – woher kommt sie?“, fragte Gorich.

„Es ist der Gesang der Gorgosch“, sagte Yarum abwesend.

Whuon blickte den Karawanenführer erstaunt an.

„Wer sind die Gorgosch?“, fragte er.

„In den Sagen sind die Gorgosch eine Rasse von Ungeheuern und Monstren, die von den Magiern von Aruba gezüchtet worden ist – genau wie die Wolfsmenschen. Sie erzeugen diesen Gesang.“

„Hoffen wir, dass die alten tykischen Sagen diesmal unwahr sind“, sagte Gorich.

Da ertönte plötzlich ein Brüllen!

Aus dem Dunkel trat ein gigantisches Monstrum!

Es besaß sechs riesige Arme und zwei stämmige Beine.

Der Kopf war im Verhältnis zum Körper sehr groß.

Riesige gelbe Zähne guckten aus dem Maul hervor.

Whuon kam es so vor, als ob die Musik lauter und heftiger geworden war. Aber das konnte natürlich Einbildung sein.

Schweigend wichen die drei vor dem grauenhaften Monstrum zurück, während es Schritt für Schritt näherkam. Es war unverkennbar, dass dieses Wesen nicht in friedlicher Absicht kam.

Da blieb Whuon stehen.

Mutig hielt er dem Untier die Fackel entgegen und berührte es mit ihr. Schmerzerfüllt zuckte das Monstrum zurück und ließ ein markerschütterndes Brüllen hören.

Whuon trat einen Schritt vor und berührte das Untier wieder mit der brennenden Fackel.

Zuerst war es sehr erschrocken, doch dann schlug es wild um sich. Whuon musste sich Mühe geben, der gefährlichen Pranke des Monstrums auszuweichen.

Gorich und Yarum sahen gebannt zu, wie Whuon mit dem Untier Katz und Maus zu spielen begann.

Der Thyrer wurde immer tollkühner und wagte sich immer dichter und dichter an seinen Gegner heran.

Dann fing der Arm des Untiers Feuer.

Wütend und brüllend und sich verzweifelt windend lief der Gorgosch in die Dunkelheit hinein.

„Ihm nach!“, rief Whuon.

Die drei rannten dem Gorgosch in die Dunkelheit nach.

Sie folgten dem Gebrüll und der Musik, die stets aus der gleichen Entfernung zu kommen schien.

Man sah den brennenden Arm als Fackel in der Dunkelheit zucken. Der Gorgosch rannte in einen Stollen hinein, der mitten in der Wand seinen Eingang hatte.

„Wir müssen ihm folgen! Vielleicht weiß er, wie man aus diesem Verlies herauskommt“, meinte Whuon. Es schien jetzt alles sehr einleuchtend: Man hatte sie offensichtlich in dieses Verlies gesperrt, damit sie als Frischnahrung für das Monstrum dienen konnten.

Der Gorgosch rannte den langen Gang entlang – und die drei Menschen ihm nach. Doch das Ungeheuer wurde immer langsamer, bis es zusammenbrach. Erbarmungslos wurde es von den Flammen verzehrt.

Schweigend gingen Whuon und die anderen an dem brennenden Kadaver vorbei. Ein übler Geruch verbreitete sich in dem nun plötzlich hell erleuchteten Gang.

„Vielleicht gibt es noch mehr von ihnen“, meinte Yarum. Whuon wagte gar nicht, daran zu denken. Schweigend wandten sie sich ab und gingen den Gang weiter. Es blieb abzuwarten, welche Überraschungen noch in diesen finsteren Gängen auf sie warteten. Der Gang endete dann schließlich mit einer verschlossenen hölzernen Tür. Vorsichtig versuchte Whuon sie zu öffnen. Was mochte sich hinter ihr befinden? Ein Nest der Gorgosch? Oder noch etwas viel Schlimmeres, das selbst diese Monstren in den Schatten stellte?

Jedenfalls ließ sich die Tür nicht öffnen. Sie brachen, ohne viel Geräusch, das Schloss heraus – und traten in einen gigantischen Saal!

Die drei befanden sich auf einem riesigen Balkon in diesem Saal. Von dem Balkon führte eine schmale Treppe hinunter. Whuon spähte nach unten. Er sah, wie sich einige Dutzend Männer an einem Tisch versammelt hatten. Sie wurden von Wolfsmenschen bewirtet.

„Das müssen die Magier sein!“, flüsterte Yarum.

„Es gab vor langer Zeit einmal einen Magier, und es spricht alles dafür, dass es ihn heute auch noch gibt. Sein Name war Thagon. Zunächst führte er ein ganz normales Leben. Er heiratete und hatte Kinder und ging seinen Geschäften nach. Aber dann – er war rund 40 Jahre alt – bemerkte er seine außergewöhnlichen Fähigkeiten und auch die seiner Kinder, die einen Teil seiner Fähigkeiten geerbt hatten. Die Leute trieben ihn in die Wüste, als sie seine Fähigkeiten bemerkten. Zunächst zog er mit seinen Kindern dann in der Welt herum und scharte andere Magier um sich, die sich ihm gern anschlossen, da auch sie auf Unverständnis stießen. Mit ihnen zog er dann in die abgelegene tykische Wüste und gründete die Stadt Aruba!“

Whuon blickte auf die Schar von merkwürdigen Gestalten unter ihm. Es schien zu stimmen, was der Karawanenführer ihm da erzählte. Die alten Mythen waren wahr!

Whuon hatte den Mythen nie geglaubt, und vielen Menschen musste es wie ihm gehen. Aber nun musste er wohl an sie glauben und ihren Wahrheitsgehalt anerkennen.

„Nun hört mir zu!“, brüllte ein ausgesprochen langer und dürrer Mann. Er war in einen schweren Kapuzenmantel gehüllt wie die Wolfsmenschen ihn trugen.

Die anderen hörten auf, sich untereinander zu unterhalten. Ihre Blicke waren auf den Dürren gerichtet.

„Das muss Thagon sein!“, murmelte Yarum zu Whuon gewandt.

„Ich habe nun einen Weg gefunden, wie wir den tykischen Staat unter unsere Kontrolle bringen könnten!“, rief Thagon. Er wandte seinen Blick von einem Magier zum anderen.

„Aber das setzt voraus, dass wir zusammenhalten!“

Thagons Züge drückten eine maßlose Gier aus.

„Wie willst du das schaffen, Thagon?“, fragte ein anderer laut.

Thagon sah ihn scharf an.

„Das wirst du gleich zu sehen bekommen!“ Er lachte leise in sich hinein und rief einem der Wolfsmenschen einige unverständliche Worte zu. Das Monstrum nickte hierauf höflich und verließ den Saal.

„Es ist vermessen, gegen den König in Tyk ankämpfen zu wollen! Er ist der mächtigste Herrscher der bekannten Welt. Was sollen wir mit unserem Zauber gegen ihn tun? Wir könnten seine Gedanken lesen und ähnliche Scherze mit ihm treiben, aber ...“

Thagon unterbrach selbstgefällig den Redner.

„Ja, ihr Schwachköpfe! Ihr könnt wirklich nur unnütze, naive Scherze treiben, die mit wirklicher Macht noch nichts zu tun haben. Und das ist auch gut so! Wer weiß, was ihr mit dieser Macht anstellen würdet? Aber ich bin mit euch auch nicht zu vergleichen! Ich habe Macht! Ich habe mehr Macht, als ihr euch auch nur vorstellen könnt! Seht die Wolfsmenschen an! Wärt ihr in der Lage, so etwas herzustellen und zu steuern? Und die Gorgosch! Für sie gilt das Gleiche! Und ich bin noch zu viel mehr imstande! Ich kann noch ganz andere Monstren erschaffen! Allein durch meine Phantasie kann ich zum Beispiel Trugbilder herstellen, die für jeden, der sie nicht erkennt, absolut tödlich sein können.“

Der Wolfsmensch kam mit einer großen, schwarzen Kiste zurück, die er auf dem Boden absetzte.

„Und nun seht! Hiermit will ich die Macht in Tykien übernehmen!“ Thagon deutete auf die Kiste.

Der Magier wies einen der Wolfsmenschen an, die Kiste zu öffnen. Vorsichtig wurde der Deckel von ihr genommen und ein menschlicher Körper wurde sichtbar. Es war ein weißhaariger Mann. Er trug die Kleider eines Königs – die Kleider des Königs von Tykien!

Einer der anderen Magier beugte sich über den Körper.

„Kein Zweifel“, sagte er, „es ist Rakiss, der König von Tykien. Aber er ist tot!“

Der Magier stand auf und wandte sich an Thagon.

„Du hast ihn umbringen lassen!“, rief er aus. Heftig schüttelte er den Kopf.

„Und damit willst du uns helfen? So willst du die Macht übernehmen – mit einem Mord? Ich glaube, du hast dich verrechnet!“

„Du irrst, Lugolo!“, sagte Thagon kalt. „Zunächst will ich euch gar nicht helfen. Ich helfe immer nur mir selbst. Und zweitens habe ich König Rakiss nicht ermorden lassen!“

„Aber er ist tot!“, schrie Lugolo.

„Soll ich ihn zum Leben erwecken?“

Lugolo wurde bleich.

König Rakiss stieg nun aus der Kiste.

„Sein Herz war bestimmt tot!“, rief Lugolo.

„Es schlägt auch jetzt nicht. Es wird nie schlagen!“

„Aber ...“

„Dies ist nicht König Rakiss, sondern eine Kopie von ihm. Ich gedenke, sie gegen das Original in Tyk auszutauschen.“

„Wie willst du die Kopie in den schwerbewachten Hof von Tyk bringen?“, fragte eine Stimme, aber Thagon ging nicht auf den Frager ein.

Der Magier stellte sich statt dessen großmächtig auf.

„Ich werde noch weitere Kopien von anderen wichtigen Personen des tykischen Staates produzieren und sie gegen die Originale eintauschen. So werde ich die Kontrolle über Tykien bekommen!“

„Und woher weißt du, dass deine Kopien in deinem Sinne handeln?“, fragte jemand.

Thagon grinste.

„Ich lenke sie direkt durch geistige Befehle. Was diese Kopien sehen, sehe ich mit. Was sie wissen, weiß ich auch.“

Thagon hörte abrupt zu reden auf. Alle starrten ihn gespannt an. „Ich spüre die Anwesenheit von jemandem, der nicht in diesen Saal gehört“, sagte Thagon ganz leise.

Whuon erstarrte. Der Thyrer blickte auf den zunächst ratlosen Magier herab.

„Wir müssen weg!“, flüsterte Yarum. Whuon nickte nur.

In diesem Moment trafen sich die Blicke des Magiers und die Whuons. Es war ein hasserfüllter Blick, den Whuon empfing.

Hastig sprangen der Thyrer und seine Gefährten auf und wollten weg. Doch sie rannten gegen eine unsichtbare Mauer, die sie nicht zu bezwingen vermochten. Sie war hart wie Stein und doch unsichtbar.

„Kommt zu mir!“, rief Thagons befehlende Stimme an die drei Verzweifelten gewandt.

Langsam stiegen Whuon und die zwei anderen die schmale Treppe hinunter.

Die versammelten Magier blickten sie stumm an.

„Sie werden alles mitangehört haben“, meinte Thagon kaum hörbar.

„Wir müssen sie in die Tiefschlafkammern bringen!“, rief eine Stimme dazwischen. Und Thagon nickte grimmig.

„Ja! Da können sie uns keinen Schaden antun.“ Thagon wandte sich an die herumstehenden Wolfsmenschen.

„Bringt sie in die Schlafkammern!“, befahl er.

Die Wolfsköpfigen nahmen die drei in ihre Mitte und führten sie durch ein Labyrinth von Gängen und Türen in einen Raum, der vollkommen mit Glaskammern angefüllt war.

In diesen Glaskammern lagen Menschenkörper. Sie lagen starr da, als schliefen sie. Einige dieser Menschen hatte Whuon gekannt. Sie hatten ihn auf der Karawane begleitet.

Nein! Er wollte nicht eingeschläfert werden!

Brutal rannte Whuon den nächsten Wolfsmenschen neben sich um und entriss ihm sein Schwert. Mit einem gewaltigen Fußtritt schleuderte er dann diesen Wolfsmenschen gegen seine Artgenossen.

Zuerst waren die Monstren unentschlossen, aber dann stürmten sie mit vereinter Kraft auf Whuon ein, der sich nur mit Mühe ihrer Schwertstreiche erwehren konnte.

Wieder und wieder musste er ihre wütenden Hiebe parieren, doch er brauchte keinen Schritt zurückzuweichen.

Yarum und Gorich, die sich inzwischen auch bewaffnet hatten, versuchten nun Whuon zu helfen. Heftig wütete der Kampf, und keine Seite war bereit nachzugeben.

Dicht an Whuons Ohr zischte eine Lanze vorbei und über sich sah der Thyrer ein Schwert.

Mit letzter Kraft gelang es ihm, den furchtbaren Hieb abzufangen.

Seine Gegner ließen ihn nicht zur Ruhe kommen.

„Wir müssen hier heraus!“, rief Yarum. Der Karawanenführer blickte sich nach einer Tür um, und seine Augen fanden schließlich auch eine. Laut schreiend lief Yarum zur Tür – die anderen folgten ihm zögernd. Hinter der Tür eröffnete sich wieder ein langer Gang, den die drei nun entlanghasteten – immer gefolgt von den Wolfsmenschen. Whuons Geist wurde nur von einem Gedanken beherrscht.

Er musste nach Tyk, der mächtigen Hauptstadt Tykiens, gelangen und den echten König Rakiss warnen!

Hinter sich hörte er das wilde Brüllen der Wolfsmenschen und vor sich hatte er den Gang, von dem er nicht wusste, wohin er führte.

Schließlich erreichten sie eine Halle, in der Hunderte von Pferden standen. Ein Tor, welches nach draußen führte, stand weit offen. Ein Trupp Wolfsmenschen führte gerade einige Gefangene nach Aruba.

„Nehmen wir uns Pferde!“, rief Gorich. Whuon machte einen Satz und landete auf dem Rücken eines Schimmels. Auch die anderen nahmen sich Pferde. Mit ihnen preschten sie an den Wolfsmenschen vorbei in die Wüste. Blitzschnell schloss sich das Tor von Aruba – aber um den Bruchteil einer Sekunde zu spät.

Die drei Reiter trieben ihre Pferde der aufgehenden Sonne entgegen.

Nichts konnte sie aufhalten.

Whuon wusste, was sie als nächstes tun würden.

Sie mussten Rakiss von Tyk warnen.

Sie waren vermutlich die einzigen, die von dem Komplott gegen die Menschheit etwas wussten.

Hoffentlich war es noch nicht zu spät.

Hoffentlich erreichten sie die Stadt Tyk rechtzeitig.

Hoch wirbelte der Sand auf, als Whuon und die anderen daher eilten.

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Thagon

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Thagon ist in der letzten Zeit merkwürdig geworden“, meinte Lugolo zu Voilad.

„Ja! Er verbringt viel Zeit in seinen geheimen Räumen, von denen niemand weiß, was in ihnen ist“, seufzte Voilad.

„Ich habe das Gefühl, dass Thagon uns alle, die wir hier in Aruba sind, in der Hand hat.“

„Du übertreibst, Lugolo.“

„Nein, das tue ich nicht. Sieh dir doch nur diese Kopie von König Rakiss an!“

„Wer sagt denn, dass dies auch wirklich eine Kopie ist? Vielleicht ist es am Ende doch der echte König.“

„Das glaube ich nicht, Voilad!“

„Vielleicht hast du ja recht, aber, wenn er wirklich so mächtig wäre, wie er immer tut, dann frage ich mich, warum er sich unserer nicht schon lange entledigt hat.“

„Vermutlich braucht er uns noch!“

„Aber wozu? Bis jetzt hat er uns noch nie richtig in Anspruch genommen. Seine Pläne von der Eroberung Tykiens und so weiter sind ja ganz gut. Es fragt sich nur, für wen sie gut sind! Für Thagon auf jeden Fall. Aber wie steht es mit uns? Was springt für uns dabei heraus? Gar nichts, sage ich! Gar nichts!“

Lugolo zuckte mit den Schultern.

„Ich würde zunächst abwarten!“, sagte er wenig überzeugend.

Der Magier schüttelte den Kopf.

„Aber wir dürfen ihn nicht aus den Augen verlieren!“

„Ja!“, sagte Voilad bedächtig. „Eigentlich wäre es das Beste, ihn zu beseitigen!“

„Bis jetzt gäbe es keinen Ersatz für ihn. Er hat von uns allen die größten Kräfte. Ich weiß nicht, ob es uns überhaupt gelingen würde, ihn auszuschalten“, sagte Lugolo besonnen.

„Der Doppelgänger von Rakiss von Tyk darf auf keinen Fall in Tyk ankommen!“

„Warum nicht, Voilad?“

„Weil Thagon dann das Land von Tykien ganz allein unter seiner Kontrolle hätte. Es wäre für uns dann um so schwieriger, ihn zu erledigen. Mit dem Abwarten ist es also nichts. Wir müssen handeln. Jetzt müssen wir handeln, ehe es zu spät ist!“

Lugolo kratzte sich nachdenklich an seinem spitzen Kinnbart.

„So gesehen hast du recht. Aber was können wir schon gegen ihn tun? Er hat die Wolfsmenschen und die Gorgosch!“

„Das ist noch eine Schwierigkeit. Vielleicht geht Thagons Geist in einen der Wolfsmenschen über, wenn man ihn tötet. Wer weiß? Aber wir müssen natürlich sicher sein, dass es stimmt. Wir dürfen kein Risiko eingehen!“

„Nein, Voilad. Ein Risiko können wir uns nicht leisten. Und einen Fehlschlag noch viel weniger. Es muss absolute Sicherheit geben!“

„Absolute Sicherheit gibt es nie“, gab Voilad zu bedenken.

Lugolo lächelte. Aus seiner Kleidung holte er einen leicht gebogenen Stab mit einem Knopf daran.

„Hiermit werden wir ihn ganz sicher zur Strecke bringen können!“

„Was ist das?“

„Eine Waffe aus längst vergangener Zeit – aber äußerst wirksam. Wenn man auf den Knopf drückt, schießen vorne Feuerstrahlen heraus!“

„Das wird ihn zu Fall bringen! Einer solchen Waffe hat er nichts entgegenzusetzen!“

„Machen wir die Sache gleich ab!“

Voilad machte ein ernstes Gesicht.

„Wir dürfen nichts übereilen“, sagte er.

„Je länger wir zögern, desto größer die Möglichkeit, dass Thagon uns entlarvt. Wir müssen blitzschnell und völlig unerwartet handeln. Nur so können wir zum Erfolg kommen“, gab Lugolo zu bedenken. Dabei fuchtelte er mit der Waffe in der Luft herum.

„Nun gut“, gab Voilad nach. Mit dem Finger deutete er auf Lugolos Waffe.

„Aber du wirst schießen, Lugolo!“

„Ich?“, tat er erstaunt.

„Ja, du!“

„Oh nein, mein Freund. So einfach kommst du nicht davon. Jeder von uns muss seinen Teil beitragen. Mein Teil ist die Waffe.“

Voilad nickte düster.

„Gut! Dann werde ich es tun“, sagte er kaum hörbar.

Behutsam öffnete Voilad die Tür zu Thagons geheimen Zimmern. Lugolos Waffe hielt er unruhig in der Hand.

Voilad blickte in ein relativ kleines Zimmer.

Thagon saß auf einem Schemel und betätigte sich an einer merkwürdigen Maschine, die Voilads Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Der Magier sah Voilad scheinbar ahnungslos an.

„Was willst du, Voilad?“, fragte er mit einem Lächeln auf den Lippen. Voilad besann sich auf seine Aufgabe. Er hob Lugolos Waffe und hielt sie auf Thagon. Die Lippen des Magiers waren noch immer zu einem spöttischen Lächeln geformt.

Voilad drückte ab und der Strahl, der aus der Waffe geschossen kam, traf Thagon, der als verkohlte Leiche zu Boden fiel.

Zuerst war Voilad über seine Tat erschrocken.

Aber dann machte dieses Gefühl einer tiefen Befriedigung Platz.

Er hatte es geschafft!

In diesem Augenblick ertönte hinter ihm ein hässliches Lachen. Blitzartig drehte Voilad sich um. Vor ihm stand Thagons Gestalt.

„Nein!“, rief er.

Eine Hand legte sich von hinten auf seine Schulter.

Voilad zuckte zusammen.

Er drehte sich erneut um und blickte wieder in Thagons Augen. Voilad wich fluchtartig einige Schritte zurück, aber die beiden Thagon-Gestalten folgten ihm.

„Warum wolltest du mich umbringen?“, fragte einer der beiden Thagons.

Entsetzt blickte Voilad auf die verkohlte Leiche auf dem Boden.

„Warum wolltest du mich töten?“, wiederholte der andere Thagon die Frage.

„Ich ... ich wollte dich nicht töten, ich ...“

Wieder legte sich eine Hand auf seine Schulter. Sie war kalt – unmenschlich kalt.

Zuckend drehte Voilad sich wieder um und er sah einen weiteren Thagon.

„Warum lügst du mich an?“, fragte dieser ruhig.

„Es ... es stimmt doch, was ich ...“

„Du lügst schon wieder!“, rief einer der anderen Thagons.

Voilad beobachtete die verkohlte Leiche am Boden. Sie regte sich! Stolpernd und taumelnd stand sie auf.

Ihr Gesicht war vollkommen entstellt und kaum noch zu erkennen.

„Was habe ich dir getan?“, fragte der entstellte Thagon.

Voilad wollte zur Tür hinausstürmen, aber zwei der Thagons hielten ihn brutal fest.

„Du bleibst hier“, sagte der entstellte Thagon.

„Wer ... wer von euch ist denn nun Thagon?“, keuchte Voilad.

„Wir alle sind Thagon. Und doch ist niemand von uns Thagon“, sagte eine Stimme.

Unsichtbare Hände entrissen ihm Lugolos Waffe.

Eines wusste Voilad.

Diese Dinge, die er hier sah, waren keine Trugbilder, sonst hätte er sie als Magier sofort erkannt. Jeder dieser Thagons musste absolut echt sein.

„Was ... was habt ihr mit mir vor?“, fragte Voilad.

Er blickte von einem Thagon zum anderen. Seine Blicke blieben dann schließlich an dem Entstellten hängen.

„Ihr wollt mich töten!“, stellte er fest, wobei ihm gar nicht auffiel, dass er den Plural benutzte.

Angsterfüllt wollte er sich aus der Umklammerung der beiden Thagons losreißen, aber sie hielten ihn mit eisernem Griff. Langsam und unbeholfen trat der entstellte Thagon dicht an Voilad heran.

Der Magier roch den Geruch von verbranntem Menschenfleisch.

Zwei blinde Augen starrten ihn an.

„Wir wollen dich nicht töten. Wir verbannen dich!“

„Verbannen? Wohin?“

„In ein Land, aus dem du nie wieder zurückkehren kannst, da es in einer anderen Zeitstufe liegt. Lugolo wird dir in dieses Land folgen, denn er wollte mich auch töten.“

Vor ihnen materialisierte ein schwarzes Dreieck. Es stand im Nichts wie auf festem Boden.

Es schien eine Art Tor durch die Zeit und den Raum zu sein. Die beiden Thagons packten Voilad und warfen ihn in die Schwärze des Dreiecks. Wenige Sekunden später war von ihm keine Spur mehr zu sehen. Das Dreieck war wieder schwarz und leer. Langsam entmaterialisierte es.

*

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THAGON SAß IN SEINEM finsteren Raum.

Vor ihm stand die Reihe seiner Doppelgänger. Sie standen leblos da – Puppen gleich.

Thagon benötigte nur einen geistigen Impuls, um sie zum Leben zu erwecken.

Diese Doppelgänger standen immer unter Thagons direkter Kontrolle. Einem der Kunstmenschen dieser Reihe gehörte zur Zeit sein besonderes Augenmerk. Es war kein Doppelgänger, der ihn darstellte, sondern der Doppelgänger von Rakiss von Tyk.

Auf diese Puppe setzte er seine ganze Hoffnung.

Wenn sie in Tyk die Herrschaft übernehmen würde, dann würde damit er die Herrschaft übernehmen. Niemand würde etwas merken.

Aber da waren Whuon, Gorich und Yarum. Sie wussten über alles Bescheid. Sie konnten ihm eventuell gefährlich werden.

Allein schon ihr Wissen über die Stadt Aruba bedeutete für Thagon eine gewisse Bedrohung. Gegen sie musste er etwas unternehmen. Er wusste, wo sich die drei befanden, denn er konnte ihre Gedanken lesen. Er fragte sich, wie er sie bekämpfen sollte.

Vielleicht sollte er ihnen Trugbilder schicken.

Thagon überlegte. Stumm besah er sich die Reihen der Doppelgänger der verschiedensten Leute. Darunter befanden sich auch Doppelgänger seiner selbst.

Thagon lachte in sich hinein.

Es war immer wieder merkwürdig, sich selbst als Puppe zu sehen.

Und wenn er dann in seine eigenen Augen starrte, dann fragte Thagon sich immer wieder, ob seine Puppen auch wirklich kein eigenes Bewusstsein besaßen.

Er hatte Hunderte von Kontrollen durchgeführt, aber ganz sicher war er sich nie.

Was wäre nun, wenn diese Puppen eigene Seelen hätten?, dachte er. Es war ja möglich, dass sie nur unterdrückt existierten und er sie nicht wahrnehmen konnte.

Schaudern packte den Magier.

Welch unvorstellbaren Vergewaltigungen wären diese Bewusstseine ausgesetzt?

Würden sie sich dann nicht eines Tages gegen ihn auflehnen?

Thagon schüttelte diese Vision von sich.

Diese Puppen konnten kein Bewusstsein haben! Er hatte es so oft überprüft, es konnte kein Versehen geben.

Dennoch musste er vorsichtig sein. Besonders gegenüber seinen eigenen Doppelgängern, denn sie hätten ja (mit einem eigenen Ich) sein Wissen übernommen.

Zunächst gab es andere Gefahrenherde abzuwehren.

Einer dieser Gefahrenherde befand sich jetzt irgendwo in der Wüste zwischen Himora und Sorgarth ...

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Wüstenstaub

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Staub wirbelte auf, als die drei Reiter durch die Wüste preschten.

Brutal trieben sie ihre Pferde an – sie befanden sich in höchster Eile.

Whuon wusste, dass sie nicht weit kommen würden, wenn sie nicht bald auf eine Karawane oder eine Oase trafen. Er wusste dies, aber er wusste auch, wie aussichtslos die Hoffnung darauf war, dass sie tatsächlich auch nur irgendeinen Menschen trafen. Sie mussten so lange durchhalten, bis sie in Gebiete kamen, in denen Yarum sich sicher auskannte.

Aber in dieser Einöde wusste nicht einmal der Karawanenführer Bescheid.

Gnadenlos trieben die drei ihre Pferde in die Wüste.

Wie lange würden die Tiere noch durchhalten?

Die ganze Nacht und den ganzen Tag schon waren sie gehetzt worden. Die Männer hatten ihnen kaum eine Pause gegönnt, da sie fürchteten, dass die Wolfsmenschen ihnen in die Wüste folgen würden.

Whuon war klar, dass die Tiere bald am Ende ihrer Kräfte waren.

Zunehmend wurden sie langsamer, und immer öfter musste ihnen eine kurze Pause zugestanden werden.

Es war ein Wunder, dass sie überhaupt so lange mitgemacht hatten, dachte Whuon.

Aber sie mussten durchhalten!

Nach der Sonne bestimmten sie ungefähr die Richtung, in die sie reiten mussten, wenn sie Sorgarth erreichen wollten. Aber sonst hatten sie keine Möglichkeiten zur Orientierung.

Nicht nur bei den Tieren hatte der Ritt Spuren hinterlassen, sondern auch bei den Menschen.

Sie hingen müde im Sattel und ließen sich von ihren Pferden daherschleppen.

Gorich war der einzige unter ihnen, dem es gelang, ein wenig im Sattel zu schlafen.

Gewaltsam versuchte Whuon, seine Augen offenzuhalten.

Überall konnten Gefahren lauern. Schon im nächsten Moment konnten am Horizont Wolfsmenschen oder gar Gorgasch erscheinen.

Er durfte nicht schlafen, so sehr er sich auch danach sehnte. Leise fluchend trieb er sein Pferd zu noch größerer Eile an. Aber sein Reittier wurde von Schritt zu Schritt schwächer. Es würde nicht mehr lange dauern, und es würde zusammenbrechen und nie wieder aufstehen.

Müde blinzelte Whuon in die Sonne.

Niemand sagte ein Wort. Schweigend und zu Tode erschöpft zogen sie daher. Ohne Mut und ohne Hoffnung.

Da!

Whuon wollte seinen Augen nicht trauen!

Am Horizont tauchte eine Ruinenstadt auf.

Whuon rieb sich die Augen. Aber die Stadt blieb. Der Thyrer glaubte nicht daran, dass noch Menschen in ihr lebten. Aber vielleicht gab es noch einen Brunnen.

„Seht!“, rief er erfreut.

Jetzt erst bemerkten die anderen die Ruinen. Müde und mit einem Schimmer der Hoffnung in ihren Zügen blickten sie auf die verwitterten Ruinen.

„Wir sind in die falsche Richtung geritten!“, stellte Gorich bitter fest. Er wandte sich an Whuon.

„Dies wird die Stadt sein, in der uns die Wolfsmenschen gefangen nahmen.“

Whuon blickte misstrauisch zu den Ruinen.

„Da bin ich mir nicht sicher“, sagte er zuversichtlich.

Der Hoffnungsschimmer, der aufgeglimmt war, war nach Gorichs Bemerkung fast ganz wieder zertreten worden.

Rasch rückte die Stadt näher. Es musste früher eine große Stadt gewesen sein – gewiss so groß wie Himora.

„Nein, dies ist eine andere Stadt“, behauptete Whuon, als sie durch die öden und verkommenen Straßen ritten.

„Die könnte Gral-Syrrha sein. In den alten Schriften wird von dieser Stadt berichtet. Sie soll so groß wie Sorgarth gewesen sein. Eines Tages ist sie von einem Sandsturm verschlungen worden“, erklärte Yarum.

Gorich zuckte mit den Schultern.

„Dieses Schicksal scheint Gral-Syrrha mit vielen Städten in dieser Region zu teilen.“ Yarum nickte. „Die Wüste rückt unaufhaltsam vor. Nach und nach wird sie auch die letzten Inseln menschlicher Zivilisation, die sich bisher in diesem Meer des Chaos halten konnten, verschlingen.“

„Da! Ein Brunnen!“, rief Whuon.

Tatsächlich befand sich auf einem etwas größeren Platz ein Brunnen.

Whuon sprengte auf den Brunnen zu.