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Tina Soliman

Funkstille

Wenn Menschen den
Kontakt abbrechen

Klett-Cotta

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Klett-Cotta

© 2011 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung eines Fotos von © Torsten Lapp,

soliman lapp doukumentation

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96273-4

E-Book: ISBN 978-3-608-10073-0

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Meiner Mutter Gisela Soliman
und
G. H. gewidmet

Vorwort und Dank

Als Journalistin und Filmemacherin habe ich mich immer wieder mit Themen und Erfahrungen befasst, bei denen sich in einem Bruchteil einer Sekunde das Leben verändert: schwere Krankheiten, Suizid oder auch Krieg. Selten habe ich jedoch eine solche Fassungslosigkeit erlebt wie bei Menschen, die plötzlich und ohne Erklärung von jemandem verlassen wurden, der ihnen nahestand. Die Frage nach dem Warum lässt sie nicht los – auch dann nicht, wenn die Funkstille schon viele Jahre andauert.

Ich entschied mich, dem Phänomen nachzuspüren, indem ich einen Film darüber machte. Erfreulicherweise fand ich beim Norddeutschen Rundfunk einen Redakteur, der sich des Themas annehmen wollte: Werner Grave. Er hat ein außerordentliches Gespür für zwischenmenschliche Dramen, diskutiert sie, aber ohne zu dramatisieren. Er ist mir mit seiner Ruhe und Entschlossenheit eine große Hilfe gewesen. Die Funkstille ist nämlich ganz und gar kein Fernsehthema, alles spielt sich unsichtbar ab und – das ist ja das Verrückte – auch unausgesprochen. Inhaltlich gab es unendlich viele Überlegungen und Fragen. Plötzlich hatte jeder in meinem Umkreis schon einmal eine Funkstille erlebt oder gar ausgelöst. Und so habe ich mich mit Menschen getroffen, die auf diese Weise verlassen wurden – und mit jenen, die gegangen sind.

Die so entstandene Dokumentation »Für mich bist du gestorben«, die im NDR ausgestrahlt wurde, zog eine ungeahnte Resonanz nach sich. Unglaublich viele Menschen fühlten sich durch den Film angesprochen und waren von der Funkstille betroffen. So entwickelte sich die Idee, ein Buch über dieses offensichtlich weit verbreitete und dennoch unbesprochene Thema zu schreiben. Das Resultat halten Sie in Händen.

Ich möchte mich an dieser Stelle bei den Menschen bedanken, die den Mut hatten zu reden und bei denen, die schwiegen. Ihre Namen wurden geändert und sollen daher auch an dieser Stelle unerwähnt bleiben. Mein Dank gilt darüber hinaus den Experten, ohne die dieses Buch undenkbar gewesen wäre: Prof. Dr. med. Hans Wedler, Dr. Marianne Wedler, Prof. em. Dr. Helmut Dubiel, Prof. em. Dr. rer. nat. Udo Rauchfleisch, Dr. Robert Stracke, Prof. Dr. Martin Teising, Trin Haland-Wirth und Prof. Dr. Hans-Jürgen Wirth.

Ich danke auch meinem Lektor Dr. Heinz Beyer, Judith Mark, Johann Meiner, Katharina Wilts, Katharina Arnold und Monika Riedlinger vom Klett-Cotta Verlag. Ohne sie würde dieses Buch noch mehr zügellose Ausschweifungen enthalten. Alles, was davon übriggeblieben ist, geht auf mein Konto.

Dank geht vor allem auch an meine Mutter Gisela Soliman für die Korrekturen, für bereichernde Impulse und für so vieles mehr.

Meinolf Fritzen, der mir mit wertvollen Überlegungen schon bei vielen ZDF-Filmen zum Thema Verlust zur Seite stand, danke ich einmal mehr für seine unverzichtbare gedankliche Mithilfe.

Armin Peter hat mich zu mehr Exaktheit in den Formulierungen angeregt und mich mit seiner Genauigkeit immer wieder herausgefordert.

Werner Grave gab mir die Möglichkeit, für den NDR (auch den Verantwortlichen beim Norddeutschen Rundfunk, Patricia Schlesinger und Dirk Neuhoff, sei an dieser Stelle gedankt) die TV-Dokumentation zum Thema Funkstille zu realisieren und begleitete mich dabei umsichtig und professionell.

Torsten Lapp danke ich für das wunderschöne Umschlagfoto und seine immerwährende Inspiration.

Gabor Harrach danke ich für die Reise in parallele Realitäten.

Dank geht auch an folgende Menschen, die dem Buch Impulse und der Autorin noch einiges mehr gaben: Barbara Stützer, meine Geschwister Maria Soliman und Michael Soliman, Markus Gerhardt, Baldur Hellwinkel, Jens Peter Meier, Silke Stürmer-Kilschautzky, Gaby Adora, Meinhild Jach, Nicole Foltys, Waltraut Peter, Inge Altemeyer, Monique Wernbacher, Kurt Pongruber, Michael Best, Marc Hoffmann, Wolfgang Kukla, Beate Frenkel, Wolfgang Beecken, Barbara Biemann, Anna Demisch, Felix Kuballa, Reinold Hartmann, Mark Seeburger, Ulla Mikosch, Birgit Wuthe, Felix Lauscher, Raoul Ulitsch und Harry Owens.

Ich danke darüber hinaus auch allen, die ich hier vergessen habe und die dieses abenteuerliche Projekt – etwas zu erklären, was man nicht erklären kann – unterstützt haben.

Einleitung

Funkstille – von einem Tag zum nächsten ohne jede Nachricht

FUNKSTILLE – ein Wort aus der Schifffahrt.

Es beschreibt die Einstellung des Funkverkehrs, um den Empfang von Notsignalen sicherzustellen.

FUNKSTILLE – in der menschlichen Beziehung ein Wort wie ein Donnerschlag. Es beschreibt den plötzlichen und wortlosen Abbruch einer Beziehung.

FUNKSTILLE – Es ist ein wissenschaftlich noch unerforschtes Phänomen, von dem noch keinerlei Zahlenmaterial vorliegt – und doch sind mehr Menschen betroffen, als bislang vermutet. Ein plötzlicher Kontaktabbruch, ohne jegliche Begründung, kann das gesamte Weltbild eines Menschen erschüttern. Die Last des Verlustes wiegt schwer. Die Abwendung und Abwesenheit des zuvor nahen Menschen schmerzt. Ratschläge wie »verzeih’ doch!«, »fang’ neu an!« oder »vergiss endlich!« sind gut gemeint, aber völlig nutzlos und gehen an der viel schwierigeren Realität vorbei. Ein Abschluss ist nicht möglich, weil es keinen Abschied gab. Ein Abschied hätte Antworten geben können, Antworten, die einen Kontaktabbruch nachvollziehbar machen.

Zu Beginn meiner Recherche sprach ich mit über hundert Betroffenen, davon waren etwa ein Drittel Abbrecher. Bald zeigte sich: Weil der Kern des Problems in einem radikalen Abbruch der Kommunikation besteht, ist auch die Kommunikation mit den Betroffenen über das Thema schwierig. Die Abbrecher taten sich schwer damit, überhaupt über die Funkstille zu sprechen. Die Verlassenen wiederum, deren Gedanken oft seit vielen Jahren um dieselben Fragen kreisten, konnten kaum ein Ende finden. Nein, bekam ich immer wieder zu hören, man habe keine Ahnung, warum es zur Funkstille gekommen sei. Und fast immer kam irgendwann die Frage: Gibt es die Chance, sich wieder zu begegnen? Gibt es Paare und Familien, die wieder zusammenfinden – auch nach einer langen Zeit der Funkstille? Und: Müssen »Abbrecher« und »Verlassene« sich nicht grundlegend ändern, um einander wieder begegnen zu können? Kann der Verlassene dem Abbrecher nach einer langen Zeit des Schweigens überhaupt noch trauen?

Redebedarf über das »Nicht-reden-Können« oder »Nicht-reden-Wollen« gab es also genug, Mutmaßungen zuhauf, aber auch mindestens so viele offene Fragen. Ich versuchte, ein Muster in den Verhaltensweisen der Betroffenen zu erkennen, teilweise mithilfe von Fachleuten, teilweise, indem ich die Geschichten miteinander verglich. Ich fragte mich: Warum können einige Menschen über Konflikte, Verletzungen und unterschiedliche Sichtweisen reden und andere nicht? Oder ist die stille Beschäftigung mit einem Beziehungsproblem vielleicht gar die wirkungsvollere Methode, es zu lösen? Und ich fragte mich: Warum reagieren die Betroffenen bei dieser Problematik schamvoller als beispielsweise Menschen, die ein Kind durch Suizid verloren haben, wie ich es bei meinen Recherchen zu einem Film über den Freitod erlebt habe?

Die Verletzungen sitzen offenbar tief. Schuld, Scham und Versagensgefühle spielten in meinen Gesprächen mit den Betroffenen eine wichtige Rolle. Überraschend war für mich: Der Verlassene ist nicht per se das Opfer, und dem Abbrecher kann nicht einfach die Täterrolle zugeschoben werden. Vielmehr leiden beide Seiten. Der Abbrecher sieht sich zu seiner Handlung gezwungen, sieht keinen anderen Ausweg. »Wir haben beide geblutet darin«, erklärte eine Abbrecherin, die den Kontakt zur verlassenen Person wieder aufgenommen hat.

Ich versuchte, mich in die Gefühls- und Gedankenwelt beider Parteien hineinzuversetzen. Beide vertreten ihre subjektive Wahrheit. Wie sich der Kontaktabbruch angebahnt hat, kann im Nachhinein keiner der Betroffenen mehr so genau sagen, nur in vagen Grundzügen umreißen. Auf der Suche nach den Ursachen der Funkstille habe ich mit Psychoanalytikern und -therapeuten gesprochen. Auch sie werden im Folgenden zu Wort kommen.

Zwei Erkenntnisse beeinflussten schon zu Beginn der Gespräche mein Denken, und sie bestätigten sich mit jedem Wort oder Erklärungsversuch der Abbrecher: Schweigen ist auch Kommunikation! Denn man kann nicht nicht kommunizieren. Es gibt Gründe, die vielleicht nonverbal kommuniziert wurden, und es gilt, dieses Schweigen zu entschlüsseln. Genau das will ich in diesem Buch versuchen. Und ich ahne: Der Moment des Bruchs ist im Nachhinein kaum noch nachzuvollziehen – es ist eine lautlose Explosion, die in dem Moment, in dem sie sich ereignet, unbemerkt bleibt. Die Loslösung fand oft schon vor dem Abbruch statt!

Maja, eine Abbrecherin, mit der ich gesprochen habe, hat den Kontakt zu ihrer Mutter abgebrochen. Sie erklärt: »Ich hatte die Liebe schon vorher verloren, konnte sie nicht mehr fühlen, spüren, und das machte es für mich an dieser Stelle unaushaltbar, deshalb bin ich aus dem Kontakt rausgegangen, um diese Verletzung und den Verlust nicht permanent zu fühlen. Ich ertrug es nicht mehr, konnte aber mein Dilemma nicht verständlich machen. Alles hat mit einer tiefen Verletzung zu tun. Ich fühlte mich von meiner Mutter nicht geliebt und verstanden, sonst hätte ich mich ihr ja anvertrauen können. Ich habe dann den Kontakt abgebrochen, um innerlich nicht ganz zu zerbrechen«, so Maja.

Der Abbrecher hat oft das Gefühl, ungeliebt zu sein und hat auch oft selbst die Fähigkeit zu lieben verloren. Der andere fordert etwas von ihm, von dem er selbst nicht genug hat. Und der Verlassene versteht nicht, dass der Abbrecher unter Liebesmangel leidet. Er war doch schließlich immer da. Dass die Loslösung oft schon vor dem eigentlichen Kontaktabbruch erfolgte, kann der Verlassene nicht erkennen. Er leidet unter der Kränkung des Zurückgelassen-Seins. Das Gefühl der Verletzung trübt auf beiden Seiten die Wahrnehmung. Das Bedürfnis, das Verhalten und die Beweggründe des jeweils anderen zu verstehen, und das Vermögen, ihm auch »negative« Gefühle zuzugestehen, sind in Mitleidenschaft gezogen. Wenn ein Familienmitglied den Kontakt abbricht, erschüttert es damit die Grundsicherheit der ganzen Familie, sagen Experten. Es fehlte in dieser Familie vielleicht das Handwerkszeug, um Konflikte zu lösen. Fest steht, dass die Funkstille als »Lösungsmittel« in Familien, in denen sie schon einmal praktiziert wurde, immer wieder auftaucht. Die Funkstille wird so zum Verhaltensmuster. »Wir werden verlassen oder wir verlassen, ungerecht behandelt und betrogen. Und immer wieder scheint das Szenario sich zu wiederholen. Wir erleben erneut die gleichen Dramen, weil wir uns immer wieder gleich verhalten«, beobachten Verhaltenstherapeuten. Trifft eine Kränkung auf einen wunden Punkt, werden auch unverarbeitete Verletzungen der Vergangenheit reaktiviert. Aber: »Man kann nicht auf Dauer vor sich selbst weglaufen. Man kann die Baustellen der Vergangenheit nicht schließen, indem man sie umfährt«, sagt einer der von mir befragten Psychologen. Man muss den Schmerz über Dissonanzen aushalten können. Aber wie stellt man sich schmerzhaften Auseinandersetzungen, wenn man verunsichert und verletzt ist, nicht weiß, was man wirklich fühlt, keine Kraft für den Konflikt hat, sich schämt oder enttäuscht ist? Bietet es sich da nicht an, das Schweigen als Mittel zu wählen, um gehört zu werden?

Sind Funkstille und Beziehungsabbruch möglicherweise auch Zeichen einer Zeit, in der enge Bindungen durch die stetige Beschleunigung des Lebens und das Primat der Selbstbestimmung, der Mobilität und Flexibilität in besonderer Weise auf dem Prüfstand stehen? »Konflikt = Stress – die Anstrengung spare ich mir lieber«, scheinen viele Menschen zu denken.

Wie aber kann man sich von den Problemen der Gegenwart befreien, ohne den Bezug zur Vergangenheit zu verlieren? Den Erscheinungsformen der Funkstille, ihren Ursachen und Folgen soll in diesem Buch nachgegangen werden. Es wird um Verletzungen gehen, um Angst und um die Suche nach einem Schutzraum, um die Unmöglichkeit der Kommunikation und letztlich darum, sich vielleicht doch wieder begegnen zu können. Die Erfahrungen der Menschen, die bereit waren, mit mir über die Funkstille in ihrem Leben zu sprechen, haben vieles erhellt. Manche von ihnen sind inzwischen wieder miteinander in Kontakt. Für sie war die Funkstille kein endgültiger Schlussstrich unter die Beziehung. Bei anderen sieht es so aus, als müssten sie eine Zukunft hinnehmen, in der der Abbrecher dauerhaft fehlt. Wie hängt das Verhalten des Abbrechers mit dem des Verlassenen zusammen? Wie sieht die Lebenswelt des Verlassenen aus, der von einem Tag auf den anderen ohne den einst nahen Menschen – und ohne Antworten – weiterleben muss? Wie ergeht es den Abbrechern? Im Folgenden sollen beide Seiten eingehend beleuchtet werden und Betroffene zu Wort kommen.