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Martin H. Geyer

Kapitalismus und
politische Moral in der
Zwischenkriegszeit

Oder: Wer war
             Julius Barmat?

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Für Dona

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung

Mittelweg 36

20148 Hamburg

www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2018 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-936-2

© 2018 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-319-3

Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras, unter Verwendung von

Ausschnitten aus einer Flugschrift der KPD von 1925. Landesarchiv Berlin, A Rep. 358 01 Nr. 245 B1 1 (Titelbild)

Inhalt

Einleitung
Julius Barmat – ein bekannter Unbekannter

Kapitel 1
Grenzüberschreitung: Der Ostjude, der aus dem Westen kam

Einwanderer mit wirtschaftlichen und politischen Ambitionen

Umstrittener Großlieferant von Lebensmitteln ins hungernde Deutschland

Korruptionsdebatten im Übergang vom Kaiserreich zur Republik

Kapitel 2
Grenzgänger des Kapitalismus in der Zeit von Hyperinflation und Währungsstabilisierung 1923/24

Ein charismatisches »Konzern-Genie«?
Die Expansion des Barmat-Konzerns 1923/24

Ein spekulationsbereiter Partner: Die Preußische Staatsbank

Reichspostminister Höfle auf Abwegen

»Zins- und Kreditwucher«: Der Fall Jakob Michael

»Luftgeschäfte«: Der Fall des Waffenhändlers Iwan Kutisker

Zwei Interpretationen des wirtschaftlichen Grenzgängertums

Kapitel 3
Grenzen der politischen Moral: Korruption und Koalitionspolitik 1925

Empörung

Politische Systemfrage: Bürger- vs. »Barmatblock«

Die Skandalisierung des Reichspräsidenten Friedrich Ebert

Kleine Geschenke und große Politik: Die »Korruption der SPD«

Kapitel 4
Das System schlägt zurück: Die Grenzen des republikanischen Rechtsstaates 1926–1929

Republikanische Empörungen und Gegenskandalisierungen

Die Disziplinierung der Staatsanwälte: Eine Kriminalgeschichte der besonderen Art

Vertrauenskrise der Justiz?

Bemühungen um politische Friedensschlüsse: Das Barmat-Urteil 1928

Kapitel 5
Grenzen der Repräsentation: Politisches Theater 1926–1930

»Unpleasant play«: Der Kaufmann von Berlin

»Politische Zeitstücke« und Kapitalismus

Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

Verfremdetes Berlin: Mahagonny und Panama

Kapitel 6
Grenzgänger der Vernunft: Die Aporien des politischen Aufklärungsradikalismus

»Der Michael Kohlhaas-Kampf des Bücherrevisors Lachmann«

Nationale Mobilisierungsstrategien des alldeutschen Verlegers Julius F. Lehmann

Gottfried Zarnow: Ein deutscher Émile Zola?

Das bittere Ende des Aufklärungsradikalismus

Kapitel 7
Schließungen: Krise des Kapitalismus, Maßnahmenstaat und Ausgrenzungen 1930–1939

Völkische Dialektik: »Enteignet die Fürsten. Barmat braucht Geld!«

Weltwirtschaftskrise: Misere des Kapitalismus und des Staates

Kampf gegen »Korruption« und »Volksschädlinge«

Radikalisierung des Maßnahmenstaates: Vermögenskonfiskation und Ausbürgerung

Kapitel 8
Ein grenzenloser Betrüger?
Eine transnationale Geschichte 1929–1934

Börsengeschäft mit großen Folgen: Die Schweizer »Affaire Appenzell«

Der Betrug an der Belgischen Nationalbank

Französische Verschwörungsfantasien: »Les deux heimatlos« Serge Alexandre Stavisky und Julius Barmat

Die belgisch-holländische Ausweisungsdebatte

Die Grenzen der sozial-moralischen Ordnung. Ein flämischer Barmat-Roman

Kapitel 9
Der Aufstieg der Rexisten und die belgische »Affaire Barmat« 1934–1938

Léon Degrelles Kampf gegen den »Hyperkapitalismus« und das System politico-financier

Die Anatomie eines Skandals

Ein kurzer Prozess

Kapitel 10
Radikalisierung und Grenzüberschreitungen 1933–1945

Ausmerzung des »Barmat-Geistes«

Jud Süß und Der ewige Jude

Gewalt und Vernichtung

Nachbetrachtungen
Über das Verschwinden von Julius Barmat

Anmerkungen

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Archive

Zeitungen

Literaturverzeichnis

Personen- und Sachregister

Dank

Zum Autor

Einleitung

Julius Barmat – ein bekannter Unbekannter

Wer war Julius Barmat? Diese Frage stellte sich nicht nur das Berliner Publikum, als am Silvestertag des Jahres 1924 erste Pressemeldungen über die Verhaftung des Unternehmers erschienen und in den folgenden Tagen dann auch noch die jüngeren Brüder Herschel (Henry) und Salomon Barmat sowie Manager des Barmat-Konzerns und Beamte der Preußischen Staatsbank festgenommen wurden. Ort des polizeilichen Großeinsatzes war nicht etwa ein anrüchiger Stadtteil Berlins, sondern die im Westen der Hauptstadt idyllisch gelegene Havelhalbinsel Schwanenwerder mit ihrer Villenkolonie. Neben der Villa, in der Julius Barmat zusammen mit seiner Frau Rosa und seinem minderjährigen Sohn Louis Izaak lebte, durchsuchte die Polizei die Zentrale und verschiedene Betriebe des Barmat-Konzerns sowie die Berliner Wohnungen seiner Brüder. Die Wasserschutzpolizei und die Grenzpolizei waren ebenfalls alarmiert worden, denn es bestand der Verdacht, dass die staatenlosen Barmats, die man als ukrainische Russen mit Wohnsitz in Amsterdam, Berlin und Wien identifizierte, sich durch eine Flucht ins Ausland der Verhaftung entziehen könnten.1

In der Presse zirkulierte bald der Vorwurf des Betrugs und der Bestechung, ja der Korruption im großen Stil, in die nicht nur Banker und andere Unternehmer, sondern auch Politiker verwickelt sein sollten. Letzteres hatte die erstaunlich gut informierte radikale Opposition, namentlich die kommunistische Rote Fahne und Zeitungen wie der völkisch-konservative Fridericus, schon seit Längerem kolportiert. Verkehrten nicht der Berliner Polizeipräsident Wilhelm Richter und viele einflussreiche Sozialdemokraten in den »Gemächern« des Unternehmers? Stand etwa »Ebert junior« als Privatsekretär in den Diensten Julius Barmats, oder war gar der Reichspräsident Friedrich Ebert selbst in die ganze Affäre verwickelt? Darüber hinaus gerieten die am Gendarmenmarkt gelegene Preußische Staatsbank sowie die Reichspost in den Verdacht, der »Groß-Schieberfirma Barmat« unbesehen hohe Kredite in Millionenhöhe zu »Wucher und Spekulationszwecken« gegeben zu haben.2 Neben Korruption und aktiver sowie passiver Bestechung war von einem Kreditbetrug großen Ausmaßes die Rede. Und nicht zuletzt: In all die umstrittenen Geschäfte sollten ganz maßgeblich sogenannte Ostjuden involviert sein.3

Die Verhaftung der Barmats war das Resultat einer merkwürdigen, fast schon abenteuerlich zu nennenden Verkettung von Ereignissen, an denen diverse Akteure beteiligt waren. Auf die Barmats stieß die Staatsanwaltschaft erst über den Umweg anderer Ermittlungen, die auch in die Amtsstuben der Berliner Fremdenpolizei führten. Deren Leiter hatte den aus Litauen stammenden Geschäftsmann Iwan Kutisker, der auf die Verwertung von Militärbeständen aus dem Ersten Weltkrieg spezialisiert war, erpresst. Hierfür hatte der Beamte Informationen genutzt, die ihm wiederum Michael Holzmann, ein zweifelhafter russischer Unternehmer, zugespielt hatte. Dieser war Kutiskers früherer Geschäftspartner, stand bei ihm mit hohen Summen in der Kreide und versuchte ihn ebenfalls zu erpressen. Kutisker zeigte Holzmann jedoch an, worauf dieser seine Haut retten wollte, indem er seinerseits schwere Vorwürfe vorbrachte: Der litauische Unternehmer und Jude Kutisker habe die Preußische Staatsbank systematisch um Millionen betrogen. Nachforschungen bestätigten, dass in der Tat höchst dubiose Geschäfte getätigt worden waren. Das führte noch vor der Verhaftung der Barmats zur Festnahme Iwan Kutiskers sowie seiner beiden Söhne und mehrerer Komplizen. Nicht zu Unrecht witterte die Presse einen Skandal rund um die Staatsbank. »Wie muß es da stinken?«, mutmaßte Die Rote Fahne.4

Die staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen waren jedoch weder in der Sache Kutisker noch in der Barmats durch eine Anzeige der Preußischen Staatsbank ins Rollen gekommen. Im Gegenteil: Die Leitung der Bank spielte von Anfang an eine passive Rolle, womit sie Verdächtigungen und Mutmaßungen befeuerte, die konservativen Beamten des altehrwürdigen Instituts seien in die Sache verstrickt. Zentrale Akteure bei der Aufklärung waren die Berliner Presse sowie die Wirtschaftsabteilung der Berliner Staatsanwaltschaft, die sich mit Rückendeckung des preußischen Justizministeriums in Form eines »Sonderauftrags« der Sache annahm, wohl wissend, dass es sich um eine politisch brisante Angelegenheit handelte.5 Empörte und dementsprechend auskunftsfreudige Bankbeamte aus dem mittleren Dienst äußerten den alarmierenden Verdacht, dass es sich bei dem »Betrug« Kutiskers nur um die Spitze des Eisbergs handle: Millionenkredite seien unwiederbringlich verloren, die Bank sei unter Umständen sogar »pleite«, mit unübersehbaren Folgen für die Finanzen des Freistaats Preußen. Und nicht nur das: Der Staatsanwaltschaft wurde schnell klar, dass »auch noch andere Ostjuden die Preußische Staatsbank in unerhörter Weise betrügerisch geschädigt hatten«.6 Aus diesem Grund dehnte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen auf Julius Barmat und seinen Konzern sowie auf weitere, ähnlich gelagerte Fälle aus, wie den des erfolgreichen Frankfurter Finanziers und Unternehmers Jakob Michael.

Skandal und Skandalisierung

Die Verhaftungen elektrisierten die politische Öffentlichkeit, die nun über Tage und Wochen mit Zeitungsartikeln und Balkenüberschriften auf der ersten Seite in Atem gehalten wurde.7 Bald spießten auch satirische Blätter wie der Simplicissimus und der Kladderadatsch das Thema auf. Über Nacht rückten die Namen Barmat, Kutisker und Michael ins Rampenlicht. Die Staatsanwaltschaft hatte, so der verbreitete Eindruck, die Büchse der Pandora geöffnet und gab Spekulationen und Verschwörungstheorien reichlich Nahrung. Ihre Verlautbarungen legten nahe, einem der größten Betrugsfälle der Zeit auf der Spur zu sein. Den Verhaftungen und ersten Pressemeldungen folgte eine Kaskade weiterer Ereignisse, wozu die Inhaftnahme des Reichspostministers Anton Höfle (Zentrum) zählte. Der aufbrausende mediale Sturm mit forschen Anschuldigungen und oft hilflos wirkenden, defensiven Dementi ließ an der Jahreswende 1924/25 aus den verschiedenen Fällen einen Skandal, genauer: einen politischen Finanzskandal werden – den größten dieser Art in der Weimarer Republik, wenn nicht gar in der deutschen Geschichte überhaupt.

Schnell war die Rede von einem Skandal Kutisker-Barmat oder Barmat-Kutisker-Skandal, gelegentlich auch von einem Barmat-Kutisker-Michael-Skandal. Im Gegensatz zu neutraleren Begriffen wie »Affäre« oder »Fall« implizierten diese Bezeichnungen schon eine Interpretation der Ereignisse. Ähnliches gilt auch für die Rede von einem Finanz- oder politischen Skandal oder für die Mutmaßung, es handle sich gar um einen Skandal der Preußischen Staatsbank, deren Direktoren allem Anschein nach leichtsinnig und regelwidrig Millionenkredite vergeben hatten. Wie das linksliberale Berliner Tageblatt kommentierte, attackierte neben der Roten Fahne insbesondere die deutschnationale Presse alle ihnen »verhaßten oder unbequemen Persönlichkeiten als Sklaven des Barmat-Mammons oder als Freunde der Barmats«;8 die Rede war von einer politisch gezielt geschürten, gegen die Republik gerichteten »Barmat-Psychose«, die von Anfang an mit einer latenten antisemitischen Pogromstimmung einherging.9

Die in diesem Buch verfolgte Frage, wer Julius Barmat war, entfaltete sich in dieser Geschichte von Skandalen. Jede Annäherung beginnt mit den überbordenden zeitgenössischen Diagnosen, Erklärungen und Interpretationen der Vorgänge, die sich mit Schuldzuschreibungen, politischen und moralischen Urteilen vermischten. Dafür gab es verschiedene Bühnen. Zu nennen sind an erster Stelle die Zeitungen, Zeitschriften und Pamphlete sowie eine Flut von Bildern, später dann auch Theaterstücken, die die komplexen Ereignisse vermittelten, simplifizierten und zugleich ausdeuteten. Eine Explosion des Redens und Sprechens ist zu beobachten, und zwar in einem Gestus der Empörung.10 Die mediale Sensation wurde durch immer neue, sich weiter gegenseitig aufputschende Nachrichten und Informationen genährt, darunter viele irreführende Falschmeldungen und »enthüllende Berichte«, deren Widerlegungen selbst wieder Bestandteile des Skandals wurden. Im Laufe dieser Eskalation erweiterten sich die Grenzen des Sagbaren, indem vertrauliche interne Vorgänge und Privates öffentlich gemacht wurden, mit der Folge, dass der Ruf vieler Personen beschädigt wurde. Dabei eröffnete die Skandalisierung gerade denjenigen Chancen, die sonst auf ihre eher marginalen politischen und sozialen Teilöffentlichkeiten beschränkt waren. Das galt für die Kommunisten ebenso wie für die völkische und deutschnationale Rechte, die zumindest im liberal und sozialdemokratisch gesinnten Berlin nicht das öffentliche Meinungsbild prägten.11

Von Anfang an war auch die Justiz eine wichtige Bühne des Skandals. Die Medienkommunikation der Berliner Staatsanwaltschaft war in jeder Hinsicht ungewöhnlich und schon bald ein Thema für sich. Ihre Vertreter, an vorderster Stelle zwei forsche junge Staatsanwälte, berichteten regelmäßig im großen Justizsaal in sensationsheischender Manier über die Fortschritte ihrer Ermittlungen. Dass sie sich wenige Monate später selbst wegen ihres Verhaltens rechtfertigen mussten und im Mittelpunkt von Disziplinarverfahren standen, war Teil des Skandals, der überraschende Wendungen aufwies.

Neben den Medien und Staatsanwälten traten noch weitere Akteure auf den Plan. Gleich in den ersten Januarwochen setzten der Reichstag sowie die Landtage Preußens und Sachsens die Fälle auf ihre Tagesordnung und richteten parlamentarische Untersuchungsausschüsse ein, die sich mit den Angelegenheiten zu befassen hatten. Das war in dieser geballten Form neu und rechtlich umstritten, zumal die Ausschüsse mit ihren richterlichen Befugnissen damit vielfach in derselben Sache wie die Staatsanwaltschaft tätig wurden.12 Viele Zeugen, darunter bekannte Unternehmer, Kaufleute, Politiker und Verwaltungsbeamte, aber auch Privatpersonen, wurden gleich in mehrere Untersuchungsausschüsse zitiert und von den Justizorganen verhört. Vor allem im Preußischen Landtag spielten sich ungewöhnliche Szenen ab. Die widersprüchlichen Auskünfte der Zeugen, die scharfen Wortwechsel und dramatischen Auftritte entsprachen ganz dem Geschmack der großstädtischen Massenpresse (und wohl auch ihres Publikums). Der klägliche Tod des Reichspostministers Höfle in der Untersuchungshaft machte die Geschichte Barmats vollends zu einem sensationellen politischen Kriminalfall, der in republikanischen Kreisen für Empörung sorgte.

Die sozialwissenschaftliche und historische Forschung hat sich intensiv mit Ablaufmustern von Skandalen beschäftigt. Es ist eine Binsenweisheit, dass viele Steine ins Wasser geworfen werden, ohne dass sie große Wellen erzeugen, und nicht jede Welle produziert gleich einen politischen Skandal. Erklärungen und Plausibilisierungen von Skandalverläufen erfolgen meist ex post. Dabei zeigt sich immer wieder, dass Skandale Dramen des Theaters oder Films gleichen, wobei ihnen ein eigener Rhythmus mit Vorspielen, Hauptteilen, einem dramatischen oder manchmal auch sentimentalen Ende innewohnt.13 Sie gedeihen in bestimmten Konstellationen, ihr Verlauf ist im Grunde vorhersehbar, und doch entwickeln sie sich zuweilen ganz anders als erwartet. Gleich guten Theaterstücken weisen sie auch immer ein Moment der Überraschung und Kontingenz auf. Denn einmal in Gang gesetzt, schaffen sie immer neue Bedingungen für ihre eigene Proliferation, mit Ausgängen, die unkalkulierbar sind und außerhalb der Kontrolle der Akteure liegen.

All das gilt auch in unserem Skandal, wenngleich einige Besonderheiten auffallen. So führen die Spuren des Falles Barmat zurück in die Kriegs- und Revolutionszeit. Aus der Rückschau ist eine in dieser Umbruchphase beginnende Skandalisierung Barmats zu erkennen, die verschiedene Autoren fortschrieben, aktualisierten und 1925 auf den Höhepunkt trieben. Um im Bilde des Theaters zu bleiben: Der erste Akt des Skandals entfaltete sich zwischen 1917 und 1920, mit einer Abfolge weiterer Akte 1925/26. Dazu zählten die skandalträchtigen Aufdeckungen und Enthüllungen im Winter 1924/25, die mit dem Tod Friedrich Eberts und des Reichspostministers Anton Höfle einen Höhepunkt erreichten. Seit dem Frühjahr 1925 war eine massive Gegenskandalisierung zu beobachten, wobei Vertreter der Berliner Justiz sowie der konservativen Presse und Parteien stark in die Defensive gerieten. Diese Gegenbewegung überschnitt sich mit einer Phase der Normalisierung, nicht nur infolge des Desinteresses des Publikums und der Presse, sondern auch wegen der sich abzeichnenden politischen Kompromisse in den drei parlamentarischen Untersuchungsausschüssen: Die Ausschüsse in den Landtagen legten im Spätsommer 1925 wenig spektakuläre, eher auf den politischen Konsens abzielende, deeskalierende Abschlussberichte vor, während der Reichstagsausschuss seine Untersuchungen versanden ließ. Zeitgleich kam es jedoch zu einem neuen Anlauf der Justiz, die Fälle aufzuarbeiten: Das war der vierte große Akt, der sich im Falle der Barmats sehr lange, nämlich bis März 1928 hinzog.

Die Aufarbeitung des Falles von Julius Barmat war mit Blick auf den enormen Aufwand in der deutschen Justizgeschichte bis dahin ohne Beispiel. Kein Wunder, denn es ging nicht nur um die beschuldigten Personen, sondern um nichts weniger als die Glaubhaftigkeit und Glaubwürdigkeit der Republik und der Justiz. Die Anklageschrift und das Urteil, die im Folioformat publiziert wurden, umfassten jeweils mehr als 500 eng beschriebene Seiten. Dabei sahen sich viele Zeitgenossen an das Sprichwort erinnert, dass der Berg kreißte und doch nur eine Maus gebar. Denn die Verurteilung Julius Barmats zu elf Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe wegen Bestechung – nicht aber wegen Betrugs – schien in keinem Verhältnis zu den zuvor geschürten Emotionen, dem Ermittlungsaufwand und, wie viele meinten, auch der Höhe des entstandenen Schadens zu stehen. Es wurde keine große Korruptionsaffäre sichtbar, vielmehr offenbarten sich eher banale Formen wirtschaftlichen Versagens und Unvermögens in einer Zeit extremer wirtschaftlicher Unsicherheit während der Inflation und Währungsstabilisierung, gepaart mit einer ordentlichen Portion Dreistigkeit und Dummheit – und das auf allen Ebenen, so jedenfalls der Tenor des Urteils von 1928. Die Besonderheit des Falles Barmat besteht darin, dass es sich nicht nur um einen politischen Finanzskandal handelt, sondern dass er sich in eine ganze Serie von weiteren kleineren Skandalen und politischen Eruptionen einfügt, die sich vom Ende des Ersten Weltkriegs durch die ganze Geschichte der Weimarer Republik bis Ende 1933 und noch darüber hinaus hinzog.

Der allerletzte Akt aber spielte nicht in Deutschland, sondern erstreckte sich über gleich mehrere Staaten in Westeuropa. Dabei handelte es sich um ein politisches Drama ganz eigener Art, das wiederum für eine Bewertung des deutschen Falles bedeutsam ist. Denn Julius Barmat ließ sich nach seiner vorzeitigen Entlassung aus der Haft 1929 und seiner Ausreise aus Deutschland nicht an seinem Wohnsitz in Amsterdam, sondern zunächst in Belgien nieder. Hier waren er und sein Bruder Henry nach dem Erwerb zweier Bankinstitute wieder in eine Reihe großer und kleinerer Affären in der Schweiz, Belgien, Holland und Frankreich verwickelt. Auch in Belgien drehten sich die Vorwürfe um Kreditbetrug und Bestechung. In die Geschichte involviert war die Bank des kleinen Kantons Appenzell-Innerrhoden, von der eine vertrackte Spur zur Belgischen Nationalbank führte. Und nicht nur das: Bald kursierten Gerüchte über Barmats Verbindungen auch zu dem notorischen Finanzbetrüger Alexandre Stavisky in Frankreich. Im Gegensatz zur diskreten Behandlung der »Affaire Appenzell« in der Schweiz kam es in Belgien zu einer großen »Affaire Barmat«, die 1937 kurz, aber heftig war. Ähnlich wie zuvor in Deutschland blieben angesehene Politiker und Banker auf der Strecke.

Grenzen einer biografischen Annäherung

Journalisten, Schriftsteller, Staatsanwälte, Parlamentarier und Ministeriale haben Tausende von Blättern beschrieben und sich mit dem Fall von Julius Barmat befasst. War der frühere Kaufmann ein Unternehmer, der sich wie so viele andere seiner Zunft überschätzte und verhob? Oder ein gerissener Finanzier und Spekulant, der sich – wie schon zuvor in Holland und später in Belgien – der neuen politischen Klasse der Republik angedient und diese in seine Machenschaften verstrickt hatte? War Barmat ein opportunistischer Sozialist, in dessen Haus in Amsterdam 1919 Vertreter der Sozialistischen (Zweiten) Internationale verkehrt hatten, oder gar ein verkappter »jüdischer Bolschewist«? Solche Gerüchte kursierten in der oppositionellen linken wie rechten Presse. Dass er jüdischer Konfession war, ein Ostjude, wie man damals sagte, war dabei keine Nebensächlichkeit.

Die Antwort auf die Frage, wer Julius Barmat war, scheint auf den ersten Blick einfach, bedenkt man die dichte Überlieferung von Quellen, die sich mit ihm befassen, und die fast überbordende, mit Skandalen verbundene Ereignisgeschichte. Aber das täuscht. Die Unsicherheit beginnt mit der Frage, welchen Vornamen er sich selbst in einer Darstellung gegeben hätte: Julius, wie er seinen Namen bei deutschen Behörden angab, oder Judko, wie er sich in den Niederlanden nannte und wie ihn auch einige seiner deutschen Freunde ansprachen, was im Munde seiner Feinde aber einen pejorativen Klang hatte? Judko ist eine im Jiddischen verbreitete, nicht nur auf die Kindersprache beschränkte Koseform von Yehuda, ein Name, den Barmat selbst aber offenbar nie benutzte.14 Zahlreiche weitere Fragen, die seine Biografie betreffen, lassen sich nicht beantworten. Das vorliegende Buch macht sich aber auf eine Spurensuche, die uns auf viele Wege, darunter manche Umwege bringt, aber auch zu neuen Erkenntnissen führt.15

Nach Jahrzehnten geringen Interesses haben zwar einige neuere wissenschaftliche Arbeiten Licht auf den Fall Barmat geworfen. Einen breiten Raum nehmen dabei der Verlauf des Medienskandals sowie Fragen von Antisemitismus und Korruptionsdebatten ein. Der Skandal wurde in die Vorgeschichte des Nationalsozialismus eingeordnet, der selbst das korrupteste Regime der deutschen Geschichte war, aber mit dem Slogan des Kampfes gegen »jüdische« und »republikanische Korruption« antrat.16 Aber in all diesen neueren Darstellungen ist der Name Barmat meist als Chiffre präsent. Seine Person bleibt eigentümlich vage, fast ein Phantom. Diese Distanz ist nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen, dass im babylonischen Sprachengewirr der Skandale eine Stimme fehlt: nämlich die von Julius Barmat selbst. Und nicht nur das: Barmats wirtschaftliche Aktivitäten, der Verdacht des Betrugs, ja mehr noch, alle Spekulationen über seine Person bleiben im Dunst der Vermutungen und vielfach unbewiesenen Tatsachen.

Das biografische Genre lebt in der Regel von der Verfügbarkeit von Ego-Dokumenten. Sie machen den Kern einer Biografie aus, stellen Selbstzeugnisse doch eine Nähe und »Unmittelbarkeit zu ihrem Helden« (Hans Erich Bödeker) her.17 Das gilt selbst dann, wenn der Name des Protagonisten negativ konnotiert ist.18 Das Fehlen eines Nachlasses sowie die Tatsache, dass persönliche Briefe und andere Ego-Dokumente nur spärlich überliefert sind und die meisten Quellen zu seiner Verteidigung nicht von Julius Barmat selber, sondern von juristisch argumentierenden Rechtsanwälten stammen, verweisen auf die spezifischen Voraussetzungen und Grenzen der vorliegenden biografischen Annäherung. Hinsichtlich der wenigen Ego-Dokumente ist die Geschichte Julius Barmats vergleichbar mit der des französischen »Unbekannten« aus der Provinz, dessen Lebensgeschichte der Historiker Alain Corbin in einer anregenden historischen Darstellung rekonstruiert hat.19 Aber im Gegensatz zu diesem Unbekannten führte Barmat kein »ganz gewöhnliches Leben«. Barmats Geschichte handelt vielmehr vom ungewöhnlichen Leben eines bekannten Unbekannten. Denn seit den aufwühlenden Tagen des deutschen Barmat-Skandals 1925, den sich hinziehenden rechtlichen Untersuchungen und dann den neuen Skandalisierungen in Belgien, Holland und Frankreich gingen sein Name und seine Biografie in öffentlich-medialen Besitz über.

Die Biografie Barmats schrieben andere, indem sie seinen Namen als Metonymie, Stigma und als Projektionsfläche benutzten:20 für Demokratie und ihre mögliche Dekadenz, für Korruption, Abwege von Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit, unlauteres wirtschaftliches Gebaren sowie einen »jüdischen Kapitalismus« seit dem Krieg. Diese eng miteinander verschränkten Leitthemen, die in zentrale Felder der politischen, sozialen und kulturellen Konfliktgeschichte der Zwischenkriegszeit führen, stehen im Mittelpunkt dieses Buches.

Demokratie, Kapitalismus und politische Moral

In der zeitgenössischen politischen Sprache wurde der Name Barmat binnen kurzer Zeit zu einer hochemotionalen Metonymie, mit der Kritiker gleichermaßen die wirtschaftliche, politische und moralische Korruption von konkreten Personen sowie die Weimarer Republik und das demokratische System im Allgemeinen thematisierten: »Barmatpartei«, »Barmatrepublik«, »Barmatsumpf« und »Barmatiden« waren bald gängige polemische Kampfbezeichnungen, die aus dem Vokabular der oppositionellen radikalen Linken in das der Konservativen und vor allem der Völkischen diffundierten, sich dort einnisteten und die in den meisten Fällen auf die SPD gemünzt waren.21 In Verbindung mit zahlreichen zirkulierenden Bildern provozierten solche Begriffe politische Emotionen, die von Verachtung bis hin zu Hass reichten und zugleich individuelle und kollektive Weltdeutungen lieferten.22 Julius Barmat verkörperte ein »System«, und das bezeichnenderweise nicht nur in Deutschland. Wie zu sehen sein wird, verweist der Fall Barmat auf eine europäische Dimension der Auseinandersetzungen, die sich allesamt auf dem Hintergrund der Folgen des Ersten Weltkriegs, der Inflation und dann der großen Weltwirtschaftskrise auf einem dezidiert politisch-ökonomischen Feld abspielten.

Die polemische Verwendung des Namens wie der Biografie durch die Gegner ging in Deutschland wie dann später in Frankreich und Belgien mit einer Vermischung des Falles und des Namens Barmat mit anderen ähnlich gelagerten Fällen einher. Neben Julius und seinem Bruder Henry Barmat standen der schon erwähnte litauische Waffenhändler Iwan Kutisker, der ursprünglich aus Frankfurt stammende Berliner Unternehmer und Finanzier Jakob Michael sowie eine ganze Reihe anderer mehr oder minder zweifelhafter Unternehmer und Banker im Visier der Staatsanwaltschaft.23 All das hat bis heute viele Verwechslungen zur Folge, nicht nur was die Namen, sondern auch die den jeweiligen Personen zugeschriebenen Delikte betrifft. Denn Verdächtigungen und tatsächliches Fehlverhalten in dem einen Fall wurden vielfach auf andere Fälle projiziert. Darüber hinaus vermischten die Zeitgenossen unterschiedliche Sachverhalte und Zusammenhänge, in welche die Personen involviert waren und die sich im Einzelfall potenzieren konnten: Betrug, Bestechung, Konkursverschleppung, Korruption, Wucher, »Luftgeschäfte«, Spekulation sowie Kriegs-, Inflations- und Deflationsgewinnlerei. Das war ein ganzes Syndrom von realen und vermeintlichen Wirtschafts- und Finanzdelikten, die alle in einem grauen Feld zwischen öffentlicher Empörung und (Wirtschafts-)Kriminalität angesiedelt waren.24

Ausgehend von der Geschichte Julius Barmats werden diese verschiedenen Themen im vorliegenden Buch zusammengeführt. Anders formuliert: Es geht sowohl um konkrete Handlungspraxen als auch um Diskurse und vielfältige Zuschreibungen. Insofern handelt es sich um eine Geschichte aller nur möglichen »Gespenst[er] des Kapitals« (Joseph Vogl), die aber in unserem Zusammenhang an konkrete Situationen, Handlungen und Personen zurückgebunden werden.25 Und nicht nur das: Ob Spekulantentum oder Korruption, immer ging es, worauf Jens Ivo Engels in Bezug auf Korruption hingewiesen hat, neben Demokratie- auch um Kapitalismuskritik.26

Diese Kritik bezog sich auf die Überschreitung von rechtlichen Normen wie von sozialmoralischen und ethischen Grenzen, darunter an erster Stelle die Grenzen der politischen Moral. Die Geschichte Barmats ist die Geschichte der Skandalisierung von Verletzungen von Normen und Regeln, von Grenzüberschreitungen in Politik, Wirtschaft und Recht und damit eine Geschichte von Ein- und Ausgrenzungen. Anknüpfen kann die Darstellung an neuere Arbeiten zu Wirtschafts-, Politik-, Sex- oder Kolonialskandalen, die zeigen, wie zentrale Normen, Regeln und Grenzen einer Gesellschaft diskursiv verhandelt werden.27 Damit lassen sich Vorstellungen von Normalität und Ordnung identifizieren, aber auch die allgegenwärtige Unterscheidung des »Wir« von den »anderen« und damit auch von Freund(en) und Feind(en), Unterscheidungen, die insbesondere im deutschen Denken der Zwischenkriegszeit, einer Zeit realer Grenzkämpfe, so tief verankert waren.28

Julius Barmat wird in diesem Buch als ein Grenzgänger des Kapitalismus beschrieben. Das bedarf zunächst der Erläuterung. Unternehmer und Banker, weniger dagegen Kaufleute, wurden in den letzten Jahren zu einem beliebten Genre der Wirtschaftsgeschichte. Neben hagiografischen Darstellungen ist vieles davon sogenannte Auftragsforschung, also der Finanzkraft der familiären oder institutionellen Nachfahren zu verdanken; oft geht es dabei um die »Aufarbeitung« und Aufklärung von Ereignissen in der Zeit des Nationalsozialismus. In der Regel stehen hier »große« Unternehmerpersönlichkeiten im Mittelpunkt – selbst wenn sie scheiterten.29 Erstaunlich wenig wissen wir dagegen über die vielen »Pleitiers und Bankrotteure«, geschweige denn über das breite Spektrum von Gaunern, halbseidenen Geschäftsleuten und Angestellten, einschließlich jener ehrbaren Kaufleute und Manager, von denen manche heute noch gefeiert werden und morgen schon durch ein Fenster aus dem Justizpalast fliehen.30 Und nur schwer sind die Grenzüberschreitungen zu fassen, die feinen Linien, die Seriosität und Legalität von Anrüchigkeit und Betrug trennen – und das gelegentlich in einer einzigen Person.31 Viel ist geschrieben worden über die besonders in deutschen Studierstuben populäre »protestantische Ethik« und den »bürgerlichen Wertehimmel«, wenig dagegen über die in diesem Buch in den Blick genommenen Personen und ihre sich oft in Grenzbereichen bewegende Moral, für die Schriftsteller wie Theodor Dreyser und Émile Zola oder neuerdings Filmemacher vielleicht einen besseren Blick als Wissenschaftler haben.32 Mit Sicherheit gab es sie häufiger, als die unternehmensgeschichtliche Literatur Glauben macht. Das zeigen vor allem neuere Arbeiten zu den USA.33

Wenn Julius Barmat also vor diesem Hintergrund als Grenzgänger des Kapitalismus bezeichnet wird, appelliert das nur vordergründig an die Tatsache seiner – vielfach skandalisierten – Überschreitung von Staatsgrenzen im geschäftlichen wie privaten Verkehr. Vielmehr geht es um jene Aspekte, die seit jeher mit der Zerstörungskraft kapitalistischer Wirtschaftsgesinnung in Verbindung gebracht wurden, wie etwa das Überschreiten moralischer Standards bzw. das Senken der »wirtschaftlichen Grenzmoral« (Götz Briefs). Kriegs- und Inflationsgewinnler waren andere zeitgenössische pejorative Begriffe für solche Grenzgänger.

In diesem Zusammenhang wird hier auf das spezifische Konzept des »politischen Kapitalismus« zurückgegriffen, ein idealtypischer Begriff, den Max Weber schon vor dem Ersten Weltkrieg in die Diskussion einführte und den er von einem »rationalen Kapitalismus« abgrenzte. Dabei ging es ihm, und das ist wichtig im Auge zu behalten, um eine Systematisierung der »kapitalistische[n] Orientierung des Erwerbs«, mithin um Formen von Handlungs- und Erwerbsorientierungen von Individuen.34

Mit dem Begriff politischer Kapitalismus zielte der Polyhistor Weber zuallererst darauf ab, Phänomene vormoderner Gesellschaften, einerseits der vormodernen Vergangenheit der okzidentalen Welt und andererseits der Gegenwart auch der vormodernen, nicht okzidentalen Welt, zu beschreiben.35 Fündig wurde er vor allem in der Geschichte der Antike, der Frühen Neuzeit sowie außerhalb Europas, wo er einen engen Nexus zwischen Politik und wirtschaftlichen Interessen und andere Formen des Erwerbsgeistes jenseits der Moderne entdeckte. Es ist ein Kapitalismus, der auf der spezifischen Ausbeutung politischer Macht durch wirtschaftliche Akteure basierte. In seinen Worten hieß das: »Orientierung an Chancen des kontinuierlichen Erwerbs kraft gewaltsamer, durch die politische Gewalt garantierter Herrschaft«; dazu zählte er das koloniale Wirtschaftssystem ebenso wie die Sklaverei und die Verleihung fiskalischer Privilegien, wie etwa die frühneuzeitliche Steuer- und Amtspacht. In diese Rubrik fällt auch der sogenannte »Beutekapitalismus«, sei es in Form staatlich sanktionierter Piraterie, sei es in Form gewaltsamer kolonialer Landnahme.36 Kennzeichnend für diesen »politischen Kapitalismus« war für ihn überdies die »Orientierung an Chancen des aktuellen Beuteerwerbs von politischen oder politisch orientierten Verbänden oder Personen: Kriegsund Revolutionsfinanzierung oder Finanzierung von Parteiführern durch Darlehen und Lieferungen« sowie eine »Orientierung an Chancen des Erwerbs durch außeralltägliche Lieferungen [an oder von] politische[n] Verbände[n]«.

Diese Phänomene des Erwerbsstrebens seien in der modernen okzidentalen Welt nicht ganz verschwunden, wie Weber meinte. Aber seiner Ansicht nach waren sie ökonomisch »irrational« und dysfunktional, und ihre Marginalisierung verlief dementsprechend parallel zur Durchsetzung des »rationalen Kapitalismus« wie des modernen Staates. Für den Ökonomen Weber war dieser »rationale Kapitalismus« historisch gesehen vergleichsweise neu und mit Blick auf seine Entstehungszeit seit der Frühen Neuzeit auch »modern«.37 Er umschrieb damit ziemlich genau das, was heute als Marktwirtschaft mit funktionierenden, freien und arbeitsteiligen Faktorenmärkten für Boden, Kapital und Arbeit bezeichnet wird. Hier herrschen idealerweise die Regeln eines kompetitiven Marktes, vermittelt nicht zuletzt durch eine stabile Geldwirtschaft und über rationale, nämlich marktkonforme »Spekulationen« an den Börsen, die das Verhalten von Marktteilnehmern steuern. Für den Staatswissenschaftler und Historiker Weber waren dabei die Funktions- und Integrationsfähigkeit des modernen Steuerstaates von Bedeutung.38

Wenn im Folgenden vom politischen Kapitalismus gesprochen wird, geht es nicht darum, diese Erklärungen Webers, einschließlich der ihnen zugrunde liegenden Modernisierungsprämissen, zu bestätigen oder zu widerlegen.39 Es soll vielmehr gezeigt werden, welche Ausformung der Kapitalismus in der Zwischenkriegszeit erlebte, was daran »politisch« war und welche Kritik sich hieran entzündete. Das führt ins Zentrum nicht nur zeitgenössischer Kapitalismusdiagnosen und der Kapitalismuskritik,40 sondern auch staatsrechtlicher Fragen etwa im Sinne eines Carl Schmitts.

Die Frage, wer Julius Barmat war, handelt von modernen Varianten dieses politischen Kapitalismus. Interessant und in unserem Zusammenhang nicht nebensächlich ist, dass der kritische Zeitbeobachter Weber offenbar schon während des Krieges nicht mehr so sicher war, ob der »rationale Kapitalismus« nicht schon bald eine »Welt von Gestern« (Stefan Zweig) sein würde. Die Kriegswirtschaft und vor allem die bald aus dem Boden schießenden Nachkriegsneuordnungspläne versprachen seiner Meinung nach nichts Gutes, wobei Weber zunächst vor allem den Einfluss großwirtschaftlicher Interessen im Auge hatte. Blühte im Krieg nicht eine »rein politisch[e] Konjunktur: von Staatslieferungen, Kriegsfinanzierungen, Schleichhandelsgewinnsten und all solchen durch den Krieg wieder gigantisch gesteigerten Gelegenheits- und Raubchancen lebenden Kapitalismus und seiner Abenteurer-Gewinnste und -Risiken [auf], der gegenüber dem der Rentabilitätskalkulation des bürgerlichen rationalen Betriebs der Friedenszeit nicht die geringste Ahnung hat«? Und nicht nur das: Vor Webers Augen stand »ein wilder Tanz um das goldene Kalb, ein hasardierendes Haschen nach jenen Zufallschancen, welche durch alle Poren dieses büreaukratischen Systems quellen«, was das Aufblühen von »Schmarotzern«, »Tagedieben« und »Ladentischexistenzen« zur Folge hatte. Das war eine Anspielung auf die »hosenverkaufenden jüdischen Jünglinge«, von denen der einflussreiche Historiker Heinrich Treitschke gesprochen hatte; Weber sprach verklausuliert von der »›Verösterreicherung‹ Deutschlands«.41

Das sind alles Themen, mit denen sich dieses Buch auseinandersetzen wird. Dabei ist es keine Nebensächlichkeit, dass solche Positionierungen mit eklatanten religiösen, ethnischen wie rassischen Stereotypisierungen überformt waren. Denn wie die letztgenannten Zitate Webers illustrieren, schien der ältere »politische Kapitalismus« wenig mit jener »protestantischen Ethik« zu tun zu haben, in der für den Religionssoziologen der moderne »rationale Kapitalismus« wurzelte.42 Aber was war er dann? Just an diesem Punkt setzt die deutsche Selbstverständigungsdebatte über den Kapitalismus ein, die in der Auseinandersetzung Webers mit seinem Fachkollegen Werner Sombart schon vor dem Krieg begonnen hatte und die sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht.

Grenzübertritte, Grenzüberschreitungen und Grenzziehungen

Die Suche nach einer Antwort auf die Frage, wer Julius Barmat war, führt auf die Spur einer Vielzahl von Geschichten und Zusammenhängen, die sich alle in der einen oder anderen Weise mit Normverletzungen befassen. Dabei geht es um zentrale Aspekte einer Geschichte von Rechts-, Geld- und Vertrauensbeziehungen und sozialmoralischen Fragen, die in öffentlichen, seit jeher aber auch in wissenschaftlichen Debatten am Beispiel konkreter Personen verhandelt wurden, sei es als eine Geschichte von Moral und Wirtschaftssystemen, sei es als eine Geschichte des Kapitalismus.43 Die elf Kapitel dieses Buches befassen sich daher mit sehr unterschiedlichen, gleichermaßen realen, rechtlichen, symbolischen wie metaphorischen Grenzübertritten, Grenzüberschreitungen, Grenzziehungen und Grenzräumen.

Verfolgt wird ein biografischer Zugang, ohne eine wirkliche Biografie des im Mittelpunkt stehenden bekannten Unbekannten Julius Barmat zu schreiben. Es geht um konkrete Akteure und Situationen, somit eine Vielzahl von miteinander verflochtenen Mikrogeschichten, in denen uns Bilder, Emotionen wie Diskurse entgegentreten.44 Sie haben ihre jeweils eigene Valenz und sträuben sich schon wegen des ausgeprägten Eigensinns vieler der in unserer Geschichte auftauchenden Akteure häufig gegen eine schematische kategoriale Einordnung, egal ob es sich um zeitgenössische politische oder ökonomische Wissensbestände, kausale Zusammenhänge oder Karrieren von Personen handelt. Dabei ist es immer das Ziel, aus diesen Mikrogeschichten größere »Makro«-Fragen zu erschließen: sich verändernde Ordnungen des Kapitalismus in seinen verschiedenen Ausprägungen, die in allen Ländern zu beobachtende Demokratie(kritik) in Verbindung mit Korruptionsdebatten, Formen der sozialen und politischen Radikalisierung, die faschistischen Mobilisierungen Auftrieb verliehen, dann aber auch staatliche, ordnungspolitische Regulierungsbemühungen, wie sie insbesondere seit der Weltwirtschaftskrise einsetzten. Mit diesem Ansatz verknüpft sich die Prämisse, dass die Geschichte der Zwischenkriegszeit mehr ist und sein sollte, als in den wie auch immer neu abgezirkelten und thematisch proportionierten historischen Überblicksdarstellungen zum Ausdruck kommt. Die Geschichte gerade dieser Zeit zeigt eigentümliche Volten gleichermaßen der Kontinuität wie Diskontinuität, der Erwartungen und Hoffnungen einschließlich ihrer Enttäuschungen.

Aus Gründen der Lesbarkeit folgt die Darstellung einer chronologisch-systematischen Gliederung. Das beginnt mit der umstrittenen Frage der Visumsvergabe und damit der Einreise Julius Barmats in Deutschland im Jahr 1919, einer Zeit illegaler Grenzübertritte von osteuropäischen, darunter vielen jüdischen Flüchtlingen. Das erste Kapitel handelt von der Ankunft des »schwerreichen« Lebensmittelkaufmanns, der das Reichsgebiet nicht über die unbefestigte Grenze aus dem Osten, sondern aus dem Westen betrat. Der Streit darüber, wer die Verantwortung für diese Ankunft hatte, setzte schon 1918/19 ein und erreichte 1925 einen Höhepunkt. Wann kam es schon vor, dass sich in einer Person gleich alle jene Zuschreibungen wiederfinden ließen, welche die Zeitgenossen so zu empören vermochten: die des Ostjuden, des Spekulanten, des Kriegsgewinnlers, des Förderers der Sozialistischen Internationale, ja des Bolschewisten? Solche politischen und ideologischen Fragen vermischten sich mit dem scheinbar Trivialen und Alltäglichen, nämlich Brot, Butter und Speck, die Julius Barmat in großen Mengen nach Deutschland lieferte. Die Praxis der Kriegswirtschaft bildete einen zentralen Aspekt des umstrittenen »politischen Kapitalismus« der Nachkriegszeit und der frühen Weimarer Republik.

Das zweite Kapitel nimmt Julius Barmat als einen Grenzgänger des Kapitalismus in den Blick, der 1923 sein Geschäftsmodell änderte, indem er mithilfe von Krediten der Preußischen Staatsbank und der Reichspost vom lukrativen Lebensmittelhandel in den Bereich Industriekonzerngründung wechselte. Die offenbar zu jeder Zeit anzutreffenden Panegyriker des Unternehmertums wähnten ihn (wie viele andere) kurzzeitig als neue, heroische Unternehmerpersönlichkeit der Zukunft, auf den nicht zuletzt auch die Preußische Staatsbank setzte. Wie viele andere Unternehmer scheiterte der »Kriegs-, Inflations- und Deflationsgewinnler« jedoch im Zuge der Währungsstabilisierung und damit bei der Rückkehr zur vermeintlichen ökonomischen Normalität. Die Grenzen seriösen wirtschaftlichen Handelns wurden neu gezogen und die Grenzgänger des Kapitalismus aus dem Wirtschaftsleben ausgeschieden – so jedenfalls die Erwartung. Vor diesem Hintergrund werden die Auseinandersetzungen über Spekulation, Wucher und Korruption, mithin die unbestimmten Grenzen legaler und legitimer wie illegaler und illegitimer risikoreicher Praktiken verfolgt. Es geht dabei auch um Erwartungen und Diagnosen der Zeitgenossen, die sich, wie sich dann vor allem nach dem Einsetzen der Weltwirtschaftskrise zeigen sollte, erneut enttäuscht sahen.

Davon ausgehend beschäftigen sich die eng aufeinander bezogenen Kapitel drei und vier mit der Einschreibung des Namens Julius Barmat in die politische Kultur der Weimarer Republik im Kontext der sich seit 1925 entfaltenden Skandaldynamik. Diese Dynamik erklärt sich nicht nur durch die anstehende Reichspräsidentenwahl, die mit dem vorzeitigen Tod Friedrich Eberts vorgezogen werden musste, sondern mehr noch im Zusammenhang mit der Bildung von konservativen Bürgerblockregierungen in Preußen und im Reich. Dabei entbrannte ein erbitterter Kampf um die politische Moral, der sich mit denen des politischen Kapitalismus und seinen vermeintlich demokratischen Entartungen verband. Die scharfen Angriffe auf die Republik sind oft betont und mit Blick auf die Folgen nicht ganz zu Unrecht als desaströs charakterisiert worden. In diesem Kontext werden die eskalierenden Korruptionsvorwürfe, derer sich nun alle Parteien bedienten und die, wie es schien, fast alle Parteien und das System betrafen, beschrieben. In den Wortgefechten wurde Barmat zu einer Metapher bei der Aushandlung von Grenzen: zwischen Politik und Wirtschaft, sozialdemokratischer Moral und Koalitionspolitik, Recht und Rechtsstaatlichkeit. In den Vordergrund rücken dabei, auf den ersten Blick vielleicht überraschend, nicht nur die langfristigen Folgen dieser Einschreibung von Barmat und Korruption in die Weimarer politische Kultur, sondern auch die Art und Weise, wie die Republik Zähne zeigte und sich behauptete.

Anklageschrift und Urteil im Falle Julius Barmats waren monumentale Zeugnisse juristischer Faktenaufarbeitung, die sich um das diffizile Problem der Beurteilung der Handlungsmotive der involvierten Akteure im Rahmen des Rechts drehten. Das Recht der Gesetze ist bekanntlich nicht unbedingt identisch mit moralischen Gerechtigkeitsvorstellungen; das gilt gerade für die Zeit der Weimarer Republik. Im Mittelpunkt der Kapitel fünf und sechs stehen die Versuche, erste große politische und halb fiktionale Narrationen der Skandal- und Korruptionsgeschichte mit Julius Barmat zu entwickeln: Gottfried Zarnows (alias Ewald Moritz) politischer Bestseller Gefesselte Justiz (1930/32) und Walter Mehrings Theaterstück Der Kaufmann von Berlin (1929), das sich in der avantgardistischen Theaterfassung Erwin Piscators nicht nur als – vorhersehbarer – Theaterskandal, sondern auch als Theaterflop erwies. Mehring und Piscator versuchten die Inszenierung eines aktuellen Zeitstückes, das von Kapitalismus handelte – und scheiterten. Deutlich werden dabei die Möglichkeiten und Grenzen der literarischen Repräsentation des Themas. Der von Gottfried Zarnow und einem unbekannten Buchprüfer namens Philipp Lachmann aktualisierte und weitergeführte Korruptionsdiskurs führt auf das Terrain der politischen Rechten, genauer besehen zu einem wenig beachteten Aufklärungsradikalismus der deutschen Zwischenkriegszeit mit all seinen Aporien. Bei dieser Gruppe von Personen, die als Grenzgänger der Vernunft beschrieben werden, handelte es sich um ein Sammelbecken von Unzufriedenen und Außenseitern, im wahrsten Sinne des Wortes um moderne Formen des Kleist’schen Michael Kohlhaas. Sie versuchten den Anschluss an die Zeit zu finden und setzten ihre Hoffnungen auf eine wie auch immer geartete nationale Revolution; sie waren Stichwortgeber des Nationalsozialismus, ohne dass sie in dieser Bewegung heimisch wurden.