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Jacques de Saint Victor

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Geschichte eines

»imaginären

Verbrechens«

Aus dem Französischen von
Michael Halfbrodt

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung

Mittelweg 36

20148 Hamburg

www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2017 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-912-6

© der deutschen Ausgabe 2017 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-308-7

© der Originalausgabe 2016 by Éditions Gallimard, Paris Titel der Originalausgabe: »Blasphème. Brève histoire d’un ›crime imaginaire‹«

Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras

Für Michaela

Inhalt

Vorwort

I

»Du sollst den Namen Gottes nicht missbrauchen«

II

Ein »Majestätsverbrechen gegen Gott«

III

La Barre: der eine Prozess zu viel

IV

Eine scheinbare Abschaffung

V

Gott kann sich schon allein verteidigen!

VI

Wenn die »Islamophobie« ins Spiel kommt …

Epilog

Literatur

Index

Zum Autor

Vorwort

Die wahllosen Massaker vom 13. November 2015, wie zuvor schon die Attentate vom Januar, waren Kriegshandlungen – gegen Menschen, gegen Ideen, gegen Prinzipien, die seit mehr als zweihundert Jahren fester Bestandteil unserer politischen Kultur sind. Sie haben in ganz Frankreich einen Schock seltenen Ausmaßes hervorgerufen. Man spürt, dass diese Ereignisse einen Bruch markieren, auch wenn man sich derzeit noch schwertut, sie begrifflich genau zu erfassen. Nicht nur weil Männer und Frauen für das, was sie waren, kaltblütig abgeschlachtet wurden, sondern weil die Mörder über ihre Opfer hinaus auf einen fundamentalen Grundsatz der französischen Nation zielten, eine besondere Art, sich über die Angelegenheiten des Gemeinwesens zu verständigen, die dieser viel gepriesenen Heimat der Literatur eigen ist.

Es war wohl diese Ahnung, was die Mörder außer ihren Opfern hatten treffen wollen, die Millionen Menschen dazu bewog, am 11. Januar auf die Straße zu gehen. Als wäre ihnen unwillkürlich klar, dass diese Gemetzel den blutigen Abschluss eines Prozesses bildeten, der bereits seit einigen Jahren im Gange ist: der Einschüchterung des Denkens, der Erschütterung des für Panurge, Figaro oder Gavroche so selbstverständlichen Rechts auf Dreistigkeit, dieses spielerischen Aufbegehrens gegen jedes Verbot, ob von Gott, den Mächtigen oder den Schulmeistern. Denn wer hätte sich noch vor dreißig Jahren vorstellen können, dass die blasphemische Karikatur, die Rabelais’schen Flüche oder die grausamen Unverschämtheiten Voltaires, jenes »grässliche Lachen«, das Musset betrübte, aufs Neue so viel Widerstand und bisweilen so viel Gewalt hervorrufen würden. Wie viele von uns haben sie nicht verinnerlicht, ohne ihnen zwangsläufig zuzustimmen, jene Verbote im Namen des »Respekts vor den Religionen« oder der Vermeidung jeder Form – moralischer, geistiger, literarischer – »Verletzung«, die inzwischen als unzumutbar gilt, vor allem, wenn sie sich gegen die Religion des Anderen richtet?

Der Elan des 11. Januar ist schnell verpufft. Zweifellos saß das Trauma zu tief, als dass man es auf Anhieb in seinem ganzen Ausmaß erkannt hätte. Über Monate zog Frankreich es vor, sich mit anderen Themen zu beschäftigen. Was jedoch tatkräftig beitrug zu dieser Art »nationaler Verdrängung«, die auf die nationale Empörung folgte, waren jene Stimmen, die sich bald erhoben, um den Demonstrationen zugunsten der Meinungsfreiheit mit der Forderung nach dem weitaus wichtigeren Verbot jeder Beleidigung der Religion entgegenzutreten. Nach und nach sahen sich die Attentatsopfer in den Hintergrund gedrängt durch jene, die sich in ihrem Glauben verletzt fühlten.

Im Schatten dieser Tiraden über den »Respekt vor den innersten Überzeugungen« tauchte ein Wort wie eine Moorleiche aus den Sümpfen einer fernen, längst überwunden geglaubten Vergangenheit auf: Blasphemie. Man begann es zu beschwören, als gäbe es, um uns über unsere Situation klar zu werden, keine geeigneteren Methoden, als zu mittelalterlichen Kontroversen zurückzukehren. Ein antiquierter Begriff, der seit Jahrhunderten aus unseren Denkroutinen verschwunden war, machte somit erneut seine Aufwartung, um das Verdrängte einer krisengeschüttelten Nation heimzusuchen. Diese Wiederkehr ist umso irritierender, als man die Frage eigentlich für erledigt hielt, seit die Konstituante 1791 den Straftatbestand der Blasphemie abgeschafft hatte, infolge des Voltaire’schen Kampfes gegen ein Vergehen, das seinen Zeitgenossen bereits als Ding aus einer anderen Zeit erschienen war.

Wissen diejenigen überhaupt, die heute, übrigens in verschiedenen Lagern, die Frage der Blasphemie zum Symbol der Glaubensfreiheit erheben, woher sie stammt? Der Begriff ist zu heikel, seine Geschichte zu bewegt, als dass man ihn verständlich machen könnte, ohne sein langes Vorleben in der Vergangenheit unseres Landes zu rekapitulieren, vom Mittelalter, wo Blasphemie als Majestätsbeleidigung galt, bis zum Pressegesetz von 1881, das dazu beitrug, ihre letzten Überreste dauerhaft aus der öffentlichen Debatte zu verbannen.

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Der Begriff Blasphemie stammt von einem griechischen Wort ab, das mit blasphemia ins Kirchenlatein übersetzt wurde. Bei den Autoren der Antike bezeichnete er eine Art »Verletzung«. Und tatsächlich ist er in unserer säkularisieren Welt drauf und dran, seine heidnische Bedeutung wiederzuerlangen, bei Gläubigen und Ungläubigen gleichermaßen: Erneut gilt er als unzumutbar. Auf diesem Wege holt uns eine Geschichte ein, von der wir uns befreit zu haben glaubten. Im Übrigen tolerierte die Kirche, sogar im Mittelalter, die »einfache Blasphemie«, wie die Theologen sagten, die nicht die Religion zu beleidigen trachtete, sondern einen flüchtigen Zorn ausdrückte, mehr Schmerz als Feindseligkeit. Seither wurde sie stets als der Preis betrachtet, der für den Vorzug der Freiheit zu zahlen ist.

Wir wollen die aufeinanderfolgenden Transformationen der Blasphemie nachzeichnen und uns im Zuge dessen auf die Wesensmerkmale unserer politischen Kultur, ihre Konstanten und Veränderungen, zurückbesinnen, um zu verstehen, welchen Platz sie heute wieder im öffentlichen Raum einnimmt und vor welche Herausforderungen sie unsere Demokratien im Allgemeinen und unsere republikanische Tradition im Besonderen stellt. Das ist das Thema des vorliegenden Werkes.

Wie ist die Blasphemie heute zu definieren? Es gibt eine Vielzahl hochspezialisierter wissenschaftlicher Werke, die zu größter Vorsicht raten, wenn es darum geht, die »garstigen Worte« zu studieren.1 Methodenfragen stellen sich, angefangen mit der Identifizierung des Gegenstandes. Manchen Juristen zufolge ist die Blasphemie eine Verletzung »religiöser Überzeugungen, Gottheiten oder religiöser Symbole«; sie äußert sich in »Worten, Schriften oder jeder Ausdrucksform, die durch einen Gesetzestext mit Strafen belegt wird«. Das zeigt, dass dieser Gegenstand womöglich schwer zu fassen ist, aufgrund eben der Quellen, über die man verfügt: Über die Fülle der Texte, die die Blasphemie verdammen – Predigten, Erlasse, Beichthandbücher usw. –, lässt sich die Reichweite des Phänomens nicht mit Gewissheit bestimmen, geschweige denn, dass sie es ermöglicht, die Seelen zu erforschen.

Es war mir weder ein ethnologisches noch ein seelsorgerisches Anliegen, diese kurze Geschichte der Blasphemie zu schreiben, jenes »imaginären Verbrechens« (crime imaginaire), wie man im 18. Jahrhundert zu sagen pflegte. Vielmehr wollte ich einen Rahmen zur politisch-rechtlichen Interpretation der Blasphemie erstellen.2 Der Leser wird darin das langsame, im Laufe unserer Bürgerkriege und ideologischen Konflikte vonstattengegangene Verschwinden einer »Zungensünde« erkennen, die heute so unerwartet zu neuer Prominenz gelangt.

1Beispielhaft seien hier genannt: Cabantous, Histoire du blasphème en Occident; Leveleux-Teixeira, La Parole interdite; Delumeau (Hg.), Injures et blasphèmes; Dartevelle u.a., Blasphèmes et libertés; sowie für einen weiteren, bis 1789 reichenden Rahmen, Le Bras, La Police religieuse dans l’ancienne France.

2Ein erster Entwurf dieser Überlegungen findet sich in meinem Beitrag zum Dossier »L’effet Charlie« der Zeitschrift Le Débat (»Du blasphème dans la République«, Nr. 185, Mai-August 2015, S. 11–20). Ich danke Pierre Nora und Marcel Gauchet, dass sie mich zur Teilnahme eingeladen haben.

I

»Du sollst den Namen Gottes nicht missbrauchen«

Das Verbot des »garstigen Schwurs«, wie man im Mittelalter sagte, geht dem Islam offenkundig weit voraus. Diese spezielle Vorschrift spielte eine bedeutende Rolle bei der Entstehung des jüdisch-christlichen Europas. Sie geht auf das hebräische Gesetz zurück: »Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr lässt den nicht ungestraft, der seinen Namen missbraucht« (Dt 5, 11; Ex 20, 7). Im Alten Testament ist das Verbot der Gotteslästerung eine strenge und unerlässliche Regel. Man findet sie namentlich im Buch Levitikus, wo es heißt: »Jeder, der seinem Gott flucht, muss die Folgen seiner Sünde tragen. Wer den Namen des Herrn schmäht, wird mit dem Tod bestraft; die ganze Gemeinde soll ihn steinigen. Der Fremde muss ebenso wie der Einheimische getötet werden, wenn er den Gottesnamen schmäht« (Lev 24, 15–16). Man mag sich kurz nach den Gründen dieses mächtigen Verbots fragen. Bei den Hebräern werden nicht nur diejenigen der Blasphemie bezichtigt, die »Gott geschmäht« haben (Dan 3, 29), vielmehr bezieht das Wort sich auf Taten, die die Gottheit verurteilt, wie die Weigerung, sich beschneiden zu lassen, Sabbatschändung, Verrat usw.

Die Blasphemie nimmt in der monotheistischen Religion eine neue Dimension an, die sie in der heidnischen Welt nicht hatte. Dabei war den Griechen die Bedeutung, die ihr die Hebräer und später die Christen gaben, nicht gänzlich unbekannt. In Der Staat kommt Platon ihr vermeintlich nahe. Ganz im Sinne seiner Abscheu vor der Dichtkunst schreibt er: »Auch sollen sich die Mütter von diesen [den Dichtern] nicht überreden lassen und ihren Kindern Angst machen, indem sie die Märchen auf unpassende Weise erzählen, daß irgendwelche Götter bei Nacht herumgehen […], damit sie nicht gleichzeitig die Götter lästern und die Kinder furchtsamer machen.«3 Doch meinten griechische und christliche Blasphemie nur scheinbar das Gleiche. Denn die antiken Autoren verwendeten den Begriff blasphemia, um einen Akt der üblen Nachrede gegenüber einer Person zu bezeichnen. Diese profane Bedeutung blieb stellenweise bis in die Spätantike und ins Frühmittelalter erhalten.

Die Hebräer verliehen dem Begriff seine sakrale Dimension, die ihrer eigenen Sicht entsprach. Dieser Tradition zufolge ist die Welt nicht, wie bei den Griechen und Römern, ein Kosmos, dem der Mensch sich einfügt. Die Welt ist eine Schöpfung Gottes, der den Gläubigen der Natur und der Vorherbestimmtheit des Todes »entreißt«. Gott ist ein Retter, der das Bundesvolk aus Ägypten, das heißt aus der Sklaverei, geführt hat. Sein Name ist folglich ebenso heilig wie das Gesetz; er wird sogar mit seinem Willen und jeder seiner Taten gleichgesetzt: »Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägyptenland geführt hat.« Man darf ihn nicht mit all den falschen Göttern verwechseln, von denen die Menschen bisher unterjocht wurden. Der Name des wahren Gottes ist das heiligste und kostbarste Gut, das der Herr den Menschen geschenkt hat.4 Auch demjenigen soll nicht verziehen sein, der den Namen Gottes in einer selbstsüchtigen oder zweckwidrigen Weise gebraucht, um irgendwelchen Nutzen daraus zu ziehen.

Das Christentum übernahm die biblischen Verbote und bestätigte seinerseits, dass man »den Namen Gottes nicht freventlich aussprechen« dürfe. Die Gotteslästerer erscheinen im Neuen Testament als Vorwegnahme des Antichrist. Die Blasphemie wird mit dem scharlachroten Tier mit den sieben Köpfen und zehn Hörnern in Verbindung gebracht, das mit »gotteslästerlichen Namen« beschrieben ist und die Hure Babylon auf seinem Rücken trägt. Vor der Anerkennung des Christentums als offizielle Religion des Römischen Reiches im vierten Jahrhundert verfolgten die Kirchenväter, wie Paulus oder Tertullian, ein doppeltes Ziel: zum einen die christlichen Gotteslästerer, die sich gegen Gott versündigten, sowie all jene anzuprangern, die, wie die Heiden, den Namen des Herrn insofern beleidigten, als sie dem wahren Gott die Anerkennung versagten; zum anderen die Juden zu bekämpfen, die, wie der heilige Hieronymus sagte, mit der Kreuzigung Christi die schlimmste aller Blasphemien begangen hätten: »Indem sie seinen Leib töteten, haben sie Gott gelästert und sich zu Dienern der Gottlosigkeit gemacht« (Brief C, 11).5 Kurzum, die Blasphemie wurde nicht nur sehr bald zu einer Kriegswaffe gegen die Heiden, sondern auch zum Werkzeug – und Streitobjekt – im Kampf, den die verschiedenen Monotheismen untereinander austrugen.

Jedenfalls gingen die frühen Christen, auch wenn sie die Blasphemie als »größte begehbare Sünde« betrachteten, bei der Jagd auf Gotteslästerer notgedrungen weniger eifrig zu Werke als die Juden. Denn schließlich war Jesus selbst vom Hohen Rat wegen Gotteslästerung angeklagt worden, weil er sich als »Sohn Gottes« ausgab. Stellvertretend durch seinen Hohepriester Kaiphas wurde er dessen vom Hohen Rat für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Das Christentum machte somit von Beginn an die Erfahrung, dass sich die Blasphemie als zweischneidiges Schwert erweisen konnte. Bereits das Judentum entnahm dem biblischen Bericht die Erinnerung an die »Hiob’sche Blasphemie«, Hiob, der Gott zürnte, weil dieser ihn auf die Probe gestellt hatte. Das Buch Hiob gibt zu verstehen, dass die Blasphemie eine »reinigende« Funktion haben kann, wenn sie die Auswüchse einer Tradition anprangert, die es mit ihrer Strenge übertreibt. Bei den Christen nahm die Blasphemie eine besondere Form an: Manche Autoren schreckten nicht davor zurück, sie als Mittel zu verwenden, um ihre Glaubensstärke unter Beweis zu stellen. Wer Gott verflucht, kann ein enttäuschter Gläubiger sein – wie eben Hiob –, der eine besondere Beziehung zu Gott unterhält, indem er ihm seinen Zorn mitteilt. Die Blasphemie wäre demnach Ausdruck einer leidenden Religiosität, und keiner Religionsfeindschaft. Verflucht man Gott nicht vor allem in religiösen Ländern? Der berühmteste christliche Gotteslästerer war Léon Bloy, der sich in Der Verzweifelte (1887) mit aller Macht gegen Christus empörte, weil dieser, seiner Meinung nach, die Welt in Leid und Unrecht versinken ließ, obwohl er uns doch eigentlich hätte erlösen sollen. Konnte man diesem »Verzweifelten« eine gotteslästerliche Sprache zum Vorwurf machen? Sie verkörperte, was man als »Liebeslästerung« bezeichnete, und hatte offenkundig nicht die gleiche Bedeutung wie die »ketzerische Blasphemie«, außer für diejenigen, die Glaube mit Orthodoxie verwechseln.

Obwohl in der jüdischen Tradition der Gotteslästerer stets zum Tode verurteilt (oder aus der Gemeinschaft verstoßen) wurde, begann man bei den frühen Christen, nach dem Beispiel des heiligen Augustinus, zu unterscheiden zwischen der »schweren oder ketzerischen Blasphemie«, die dazu bestimmt sei, »der Gnade Christi zu entbehren« (Sankt Ambrosius), und der »einfachen Blasphemie«, Folge eines flüchtigen Zorns, ein unfreiwilliges, wenn nicht, wie im Fall der lapsi, erzwungenes Vergehen. Die lapsi waren ehemalige Christen, die es, um den Verfolgungen durch die Römer zu entgehen, vorgezogen hatten, dem Christentum zu entsagen und den Weg der Apostasie zu wählen. Doch geschah dies häufig nur zum Schein, sodass die römischen Behörden, um die Aufrichtigkeit dieses Glaubensabfalls zu prüfen, von den Apostaten verlangten, ein Opfer für den Kaiser zu bringen und Christus öffentlich zu verleugnen. Wie sollte man mit diesen lapsi verfahren? Sie hatten den Gottessohn verleugnet. Waren sie nicht »Gotteslästerer« par excellence? Nein, denn ihr Handeln entsprang keiner ehrlichen Überzeugung. Deshalb waren die Kirchenväter der Meinung, die lapsi könnten mit einem einfachen »Backenstreich« davonkommen, wie es der heilige Johannes Chrysostomos in einer seiner Predigten an das Volk von Antiochia formulierte: Man verzieh ihnen ihre gotteslästerliche Worte, weil sie diese aus Angst und ohne böse Absicht geäußert hätten, genau wie der Apostel Petrus, als er Christus verleugnete. Dem Heiligen Hieronymus zufolge hätten sie »gegen den Menschensohn gesprochen, aber nicht den heiligen Geist gelästert«.

Somit ist bei den Frühchristen die Bedeutung der Blasphemie nicht von vornherein festgelegt, sondern hängt viel von Kontext und Blickwinkel ab. Man kann den Fluch, die »unwillkürliche Blasphemie«, nicht mit der gleichen Strenge behandeln wie die »gewollte« Blasphemie, die gegen die göttliche Ordnung verstößt, eine Blasphemie, die laut dem Heiligen Hieronymus einem »todbringenden Wort« (Brief CXLVII) zu vergleichen sei.6

Diese Deutungsvielfalt bereits zu Beginn der christlichen Ära erklärt, warum jede Untersuchung der Blasphemie ein »hoffnungsloses Unterfangen« wäre, wenn sie »von innen heraus« erfolgen würde.7 Ihr theoretischer Gehalt ist ziemlich unspezifisch. Es handelt sich um ein Vergehen mit unbestimmten, veränderlichen Konturen, manche bezeichnen es auch als »dehnbares Vergehen«. In manchen Fällen tritt die Blasphemie als erklärte Form der Ketzerei in Erscheinung, in anderen Fällen kann sie einen Widerstand gegen die etablierte Ordnung zum Ausdruck bringen, deren Legitimität aufgrund ihrer Exzesse infrage steht. Die Kritik an den Missständen der Kirche verbreitete sich im Mittelalter, auch in der religiösen Kunst, in dem Maße, wie die kirchliche Macht sich festigte. Manche Künstler schreckten nicht davor zurück, in den Bildwerken der Kathedralen und Abteien faule Mönche und liederliche Äbte darzustellen. Sie meißelten Kapitelle, die Priester in Schweine-, Esels- oder Fuchsgestalt zeigten. Dieser satirische Geist bildete im Mittelalter ein nützliches Korrektiv. Bisweilen nahm die Blasphemie auch die Dimension einer Umkehrung sozialer Normen an, über andere Ausdrucksformen der Volkskultur wie Karneval und Fabliau.

Die Definition der Blasphemie blieb vage, zumindest bis zum 13. Jahrhundert. Die mittelalterlichen Theologen hatten größte Mühe, sie präzise einzugrenzen.8 Man musste bis zu Thomas von Aquin warten, der der Blasphemie die Quaestio 13 der Summa Theologica widmete.9 Er ordnet diese »Sünde« den glaubenswidrigen Lastern zu, wie Unglaube, Häresie, Apostasie, Geistesblindheit und Stumpfheit der Sinne. Allerdings ist die Blasphemie nicht von der gleichen Schwere wie die Häresie oder die Apostasie. Thomas entwickelt eine äußerst komplexe Kasuistik, bei der auch die psychologischen Motive des Sünders in Betracht gezogen werden: Er unterscheidet die »innerliche Lästerung«, die das Göttliche nicht beleidigen will, von der »Lästerung mit dem Munde« oder »Lästerung im Vollsinne«, die böse Absichten hegt und bestrebt ist, Gott, die Jungfrau, die Heiligen oder die Kirche zu schmähen. Darüber hinaus unterscheidet Thomas unter den sogenannten »sprachlichen Sünden« zwischen der Schmähung (contumelia), der Ehrabschneidung (detractio), der Ohrenbläserei (susurratio), der Verspottung (derisio), der Verfluchung (maledictio) usw.,10 alles Begriffe, die in späterer Zeit im Rahmen der Pressegesetzgebung wieder zum Einsatz kamen. Die Analysen des Heiligen Thomas sollten die christlichen Autoren bis zum Ende des Feudalzeitalters inspirieren.11

Die mittelalterliche Kirche ignorierte, genau wie die Frühchristen, die strengen Vorschriften des Levitikus (24, 16) oder des römischen Rechts (Novelle 77 des Corpus Juris Civilis von Justinian), die den Gotteslästerer zum Tode verurteilten und die »höchsten Strafen« anordneten. Zwar geißelte die Patristik die »frevelhaften Münder« (Hieronymus) oder die »unzüchtigen Lippen« (Origines), meinte aber, dass die Blasphemie, da man sie mit der Häresie in Verbindung brachte, es verdiene, durch eine Strafe mit sühnender, heilender, »läuternder« Wirkung (Jean-Marie Carbasse) bekämpft zu werden. Die Frühchristen weigerten sich, den Gotteslästerer zum Tode zu verurteilen. Anfangs diente die Bestrafung der Blasphemie hauptsächlich dem Zweck, zu verhindern, dass die einfachsten und/oder selbstsüchtigsten Gemüter sich den heiligen Namen Gottes zu eigen machen, um ihrer niedrigen Gesinnung zu frönen und/oder die Einfalt der Gläubigen auszunutzen.

. Da die Friedensideologie einen der Grundpfeiler bei der Rückeroberung der königlichen Macht bildete, ist diese Anekdote sehr aufschlussreich: Sie unterstellte, dass der Fürst sich erst dann voll und ganz als Souverän betrachten könne, nachdem er die Blasphemie in seinem Reich ausgerottet hätte.