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Pierre-Jean Luizard

Die Falle

des Kalifats

Der Islamische Staat oder
die Rückkehr der Geschichte

Mit einem aktuellen Nachwort

Aus dem Französischen
von Michael Halfbrodt

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

© der E-Book-Ausgabe 2017 by Hamburger Edition

© der deutschen Ausgabe 2017 by Hamburger Edition

© der Originalausgabe 2015 by Éditions La Découverte

Umschlaggestaltung und Grafik: Wilfried Gandras

Inhalt

Einleitung

1

Das Auftauchen des Islamischen Staates

Die Faktoren eines Erfolgs

»Staat« oder »Terrororganisation«?

Den Krieg internationalisieren

2

Von Sykes-Picot bis Dscharubiyya, die Rückkehr der Geschichte

Gebrochene Versprechen

Panarabische Schimären

3

Im Irak, ein Staat gegen seine Gesellschaft

Arabischer Nationalstaat nach europäischem Vorbild oder sunnitischer Staat?

Am Ursprung der sunnitisch-schiitischen Spaltung

Die blutige Rückkehr der »irakischen Frage«

4

Der syrische Staat, vom Konfessionalismus eingeholt

Ein konfessioneller Flickenteppich in engen Grenzen

Assad, sein autoritäres Regime und die Alawiten

5

Stehen wir vor einem Umbruch im Nahen Osten?

Der Islamische Staat vor den Toren des Libanon

Ein erstarrtes Jordanien

Saudi-Arabien: Der König ist nackt

Türkei: Erdoghan tappt in seine eigene Falle

6

Die Falle des Kalifats

Syrien, Irak: ein gleichzeitiger Vormarsch

Der erklärte Wille, einen Staat aufzubauen

Ein zukünftiger Staat?

Propaganda und Kommunikation: auf hohem Niveau

Die Behandlung von Minderheiten als Falle

Schluss

Nachwort (Oktober 2016)

Zum Autor

Einleitung

Über Jahre hinweg war die Situation im Irak von den Titelseiten westlicher Medien verschwunden und sorgte allenfalls noch anlässlich von Wahlen oder besonders blutigen Attentaten für Schlagzeilen. Das Land schien in einer Art »Krieg niederer Intensität« versunken zu sein bzw. in der Sackgasse eines ziemlich chaotischen politischen Prozesses zu stecken, den offenbar nur noch Experten der Region durchschauen konnten.

Das Jahr 2014 brachte die Wende. In Rekordzeit drängte ein neuer Akteur, der Islamische Staat, auf die politische Bühne, zunächst im Irak, dann in Syrien, und sorgte dafür, dass im ganzen Nahen Osten »die Rollen neu verteilt« wurden. Und die westlichen Medien standen fassungslos vor etwas, was ihnen als »politisches UFO« erschien, eine Armee von Dschihadisten, die aus dem Nichts aufgetaucht und anscheinend von niemandem aufzuhalten war.1

Dabei hatte es zahlreiche Vorzeichen gegeben, die dieses geopolitisch bedeutsame Ereignis ankündigten. In den Jahren 2003 bis 2008, während der amerikanischen Besatzung, war der Irak Schauplatz eines blutigen Konfessionskrieges zwischen Sunniten und Schiiten gewesen, eines Konflikts, wie es ihn in der langen Geschichte der Beziehungen zwischen den beiden großen muslimischen Glaubensgemeinschaften des Landes noch nicht gegeben hatte, mit Hunderttausenden von Toten, größtenteils Schiiten, und einem Prozess territorialer Zersplitterung und Abschottung, für den Bagdad ein bleibendes Symbol ist. In dieser Sieben-Millionen-Einwohner-Metropole hatten Schiiten und Sunniten lange Zeit Tür an Tür gelebt, zum Teil in gemischten Quartieren, besonders im Stadtzentrum. Bagdad beherbergte ebenso viele Schiiten wie Sunniten. Diese Koexistenz hatte den langsamen Niedergang der irakischen Gesellschaft, der durch eine Folge von Tragödien, angefangen mit dem iranisch-irakischen Krieg (1980–1988), beschleunigt wurde, halbwegs überstanden. Der Konfessionskrieg der 2000er Jahre, eine unmittelbare Konsequenz des Krieges und der amerikanischen Besatzung von 2003, endete mit einer konfessionellen Säuberung, infolge derer die sunnitische Bevölkerung ganze Stadtviertel verließ. Um den Preis Tausender Toter war es den schiitischen Milizen gelungen, die Sunniten zu vertreiben und Bagdad zu einer mehrheitlich schiitischen Stadt zu machen, während die ehemals gemischten Quartiere praktisch verschwanden.

Ein Vorfall von Anfang 2014 macht deutlich, dass diese irakische Geschichte bis heute andauert. Ein Konvoi der irakischen Armee wurde nördlich von Bagdad von dschihadistischen Kämpfern angehalten, vermutlich Mitgliedern des Islamischen Staates im Irak und der Levante (der Name des Islamischen Staates bis Juni) oder seiner Verbündeten. Sie zwangen die Soldaten, aus ihren Fahrzeugen zu steigen, und befahlen ihnen zu beten. Die Absicht war klar: Es ging darum, die Schiiten unter ihnen zu identifizieren. Sunniten und Schiiten vollziehen nämlich beim Gebet nicht die gleichen Gesten. Auch die rituellen Waschungen erfolgen auf unterschiedliche Weise. Die schiitischen Soldaten, die ahnten, was ihnen drohte, versuchten, die sunnitischen Gebetsgesten nachzuahmen, doch die meisten verrieten sich durch »Fehler«, die sie als Schiiten entlarvten. Die sunnitischen Soldaten wurden verschont, die Schiiten hingegen kurzerhand erschossen.

Macht und Sichtbarkeit des Islamischen Staates haben sich seit der Ausdehnung seiner politisch-militärischen Ambitionen auf das benachbarte Syrien, wo seit 2012 ebenfalls ein mörderischer Bürgerkrieg tobt, vor allem aber seit der Ausrufung des Kalifats auf einem Teile beider Länder umfassenden Territorium durch den Führer der Organisation, Abu Bakr Al-Baghdadi, sprunghaft erhöht. Die erklärte Absicht einer einstmals kleinen salafistisch-dschihadistischen Gruppe unter vielen, einen Staat zu errichten, hat tatsächlich alle lokalen und internationalen Akteure überrumpelt. Die unglaubliche, in Rekordzeit zustande gebrachte territoriale Expansion und die Kriegserklärung an die Staaten der Region sowie die Mächte der »Ungläubigen« haben diesem Phänomen im Nu eine globale Dimension verschafft. Die Krise der Staaten, eine Folge des Arabischen Frühlings und der amerikanischen Besetzung des Irak, ist auch die der traditionell mit diesen Staaten verbündeten sunnitischen Religionsführer. Ihr Verschwinden, im Kontext allgemeiner Auflösung der sunnitischen Religionsmacht, hinterließ ein Vakuum, in das der Islamischen Staat hineingestoßen ist.

Aufgeschreckt durch die vom Islamischen Staaten zelebrierten Verbrechen und Massaker haben die westlichen Länder in aller Eile ein breites Militärbündnis geschmiedet, dem auch die meisten sich bedroht fühlenden arabischen Staaten beitraten (Jordanien, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain, Katar). Doch die größte Schwäche dieser Koalition bleibt das Fehlen eines politischen Projekts für eine Region, die sich mitten im Umbruch befindet. Und es liegt auf der Hand, dass militärische Stärke allein nicht genügt, um mit einem entschlossenen Gegner fertigzuwerden, der zudem über beachtliche Ressourcen verfügt.

Das Anliegen des vorliegenden Buches ist, den raschen Erfolg des Islamischen Staates zu erklären bzw. zu verstehen, wie und warum es ihm gelungen ist, die westliche Mächte in die Falle zu locken, indem er sie in seinen Krieg verwickelte. Dazu ist ein Blick zurück in die Geschichte unerlässlich. Sowohl die jüngste Geschichte, mit der amerikanischen Besetzung des Irak und dem Ausbruch des Arabischen Frühlings, als auch die längerfristige Geschichte mit der Entstehung der arabischen Staaten unter britischer und französischer Mandatsherrschaft. Denn was sich derzeit vor unseren Augen abspielt, ist nichts weniger als eine grundlegende Veränderung des Nahen Ostens, wie wir ihn seit nahezu einem Jahrhundert kennen, als unmittelbare Folge einer plötzlichen – aber dennoch vorhersehbaren – Rückkehr der Geschichte.

1Ich werde im weiteren Verlauf des Textes die Bezeichnung »Islamischer Staat« verwenden, die neutraler ist als »Daesch«, das Akronym des arabischen al-dawla al-islamiyya fil-Iraq wa al-scham (Islamischer Staat im Irak und der Levante), das von den erklärten politischen Gegnern des Islamischen Staates benutzt wird.

1

Das Auftauchen des Islamischen Staates

Der kometenhafte Aufstieg des Islamischen Staates im Nahen Osten bewirkte eine Art Schockstarre, sowohl auf internationaler Bühne als auch bei den politischen Eliten vor Ort. Zum ersten Mal formulierte eine salafistische Gruppe offen das Ziel, ein geografisches Gebiet zu besetzen, um darauf einen Staat zu errichten.

Die Faktoren eines Erfolgs

Zwar zeichnete sich das Projekt des Islamischen Staates in Ansätzen bereits in den Jahren 2012 und 2013 ab, es begann jedoch erst im Januar 2014, mit der Besetzung Falludschas, einer der größten Städte der irakischen Westprovinz Al-Anbar, konkrete Formen anzunehmen: Eine Großstadt, nur 60 Kilometer westlich der Hauptstadt Bagdad gelegen, entglitt dauerhaft der Kontrolle einer Regierung, die sich als unfähig erwies, sie zurückzuerobern. Die Besetzung dieser Stadt markierte auch einen starken symbolischen Einschnitt. Falludscha hatte schwere Zeiten erlebt, besonders 2004, während des Aufstands der wichtigsten Stämme der Stadt und ihrer Umgebung gegen die amerikanische Besatzung. Zehn Jahre später hat es, trotz der zwischenzeitlichen Illusionen, die tragenden Kräfte der örtlichen Bevölkerung würden das von den USA geförderte Projekt eines Wiederaufbaus des irakischen Staates auf föderaler Grundlage unterstützen, ganz den Anschein, als bedeute der Abfall Falludschas das Ende der Integration einer der Gründergemeinschaften des irakischen Staates, nämlich der arabischen Sunniten.

Es gilt festzuhalten, dass die irakischen und die amerikanischen Behörden über Monate hinweg nicht in der Lage waren, die Tragweite der Eroberung Falludschas zu begreifen. Ihre realitätsverleugnende Politik verleitete sie zu der Annahme, der Verlust der Stadt sei nur vorübergehend und hätte keine politischen Auswirkungen auf den Rest des Irak. Wenn man sich jedoch ansieht, auf welche Weise der Sieg dessen, was man als den »zweiten Aufstand von Falludscha« bezeichnen könnte, zustande kam, erkennt man bereits einen für den Islamischen Staat sehr typischen Modus Operandi, der sich dann, im Juni 2014, in den nördlicher gelegenen irakischen Gouvernements, besonders in Mossul, wiederholen sollte. Diese spezielle Vorgehensweise erklärt, warum es einer einfachen salafistisch-dschihadistischen Gruppe gelungen ist, sich zu behaupten und der irakischen Armee eine vernichtende Niederlage beizubringen.

Die Faktoren für die anfänglichen Erfolge des Islamischen Staates waren nicht militärischer Natur. Zwar trat der Islamische Staat als bewaffnete Avantgarde in Erscheinung, die imstande war, die irakische Armee aus einer Reihe von Städten und Gebieten zu vertreiben, doch im Gegensatz zum Vorgehen von Al-Qaida in den Jahren 2003 und 2004 – namentlich in Falludscha, Ramadi und anderen Städten der Provinz Al-Anbar – gebärdete er sich der örtlichen Bevölkerung gegenüber nicht als fremde oder fremd empfundene Besatzungsmacht. Seine gänzlich andere Strategie beruhte auf der Rückgabe der örtlichen Macht, in jeder der genannten Städte, an lokale Akteure. Dieser Prozess vollzog sich mit äußerster Schnelligkeit, sowohl in Falludscha als auch in den anderen irakischen Großstädten, die im Juni 2014 in die Hände des Islamischen Staates fielen, besonders Mossul und Tikrit. Einige Monate zuvor hatten syrische Städte aus dem Euphrattal wie Al-Raqqa oder Deir Al-Zor als Erste dieses Modell kennengelernt: Gleich am ersten oder zweiten Tag nach dem Sieg organisierte der Islamische Staat eine Machtübergabe an örtliche Stammesführer, Clanoberhäupter und Bezirksvorsteher, die mit der Aufgabe betraut wurden, die Stadt, unter gewissen Auflagen, zu verwalten. Zu diesen Auflagen zählten unbedingte Loyalität gegenüber dem Islamischen Staat, das Verbot, andere Hoheitszeichen als die der Organisation zu verwenden, sowie die Verpflichtung, in Fragen der Moral den Anordnungen der Dschihadisten zu folgen.

Diese Machtübergabe entsprach den Wünschen der lokalen Akteure, für die die irakische Armee, die unter dem Befehl der Bagdader Regierung des schiitischen Ministerpräsidenten Nuri Al-Maliki stand, sich in eine regelrechte Besatzungsarmee verwandelt hatte. Das gilt für Falludscha, aber auch für Tikrit und Mossul, wo die irakische Armee wahllos friedliche Demonstrationen und Sit-ins unter Beschuss nahm, die aus Protest gegen die politische Marginalisierung der arabisch-sunnitischen Gemeinschaft organisiert worden waren. Die Demonstranten übernahmen bei dieser Gelegenheit eine Reihe demokratischer Schlagworte aus dem Arabischen Frühling – insbesondere die Forderung nach einem Ende des despotisch-autoritären Vorgehens der amtierenden Regierung, nach Meinungsfreiheit, gleichen staatsbürgerlichen Rechten für alle usw. In Mossul war es während des Jahres 2013 und der ersten Jahreshälfte 2014 zu Dutzenden außergerichtlicher Exekutionen durch Staatsorgane, insbesondere durch die Polizei, gekommen. Generalleutnant Mahdi Al-Gharawi, der Befehlshaber der irakischen Polizei in der Stadt, gilt der Bevölkerung noch heute als Mörder, der den »Krieg gegen den Extremismus« als Vorwand benutzte, um Geld zu erpressen und den Bewohnern mit Freiheitsberaubung und Ermordung zu drohen.

Das macht verständlich, warum die Kämpfer des Islamischen Staates im Januar in Falludscha, im Juni in Tikrit, Mossul und anderswo von einem Großteil der örtlichen Bevölkerung als Befreier begrüßt wurden. In allen diesen arabisch-sunnitischen Gebieten bezeichnete man die irakische Armee häufig als check point army, weil sie sich allenfalls dafür eignete, die Bewegungen der Bevölkerung einer pedantischen Kontrolle zu unterwerfen, was das Leben buchstäblich zur Hölle machte – man brauchte manchmal Stunden, um ein paar Kilometer zurückzulegen –, ohne dadurch ein Klima auch nur minimaler Sicherheit zu erzeugen, da die häufig von Schläferzellen des Islamischen Staates verübten Attentate weiterhin ihre Ziele fanden, unter anderem in der örtlichen Prominenz. Diese »Checkpoints«, diese allgegenwärtigen Straßensperren, wurden übrigens nicht nur von der Armee kontrolliert, sondern auch von den mit ihr verbündeten örtlichen Clanmilizen, was der Willkür Tür und Tor öffnete.

In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass der Irak, wie jeder weiß, ein Ölförderland ist und dass die Einnahmen aus dem Abbau von fossilen Energieträgern seit 2003 praktisch unaufhörlich gestiegen sind. Verschiedene Regierungen benutzten diese Erdölrente als Werkzeug, um sich die Loyalität lokaler Klientengruppen zu erkaufen und sich der Dienste von Clanmilizen zu versichern. Die Regierung von Nuri Al-Maliki, die diesen Klientelismus am intensivsten betrieb, brach mit der amerikanischen Politik, die sunnitischen Milizen fürs Stillhalten zu bezahlen, und zog es vor, sich die Loyalität einer Reihe von Führern und Honoratioren aller Konfessionen auf direktem Wege zu erkaufen. Das erklärt die Wohlstandsinseln, die beispielsweise in manchen Vierteln von Mossul inmitten massenhaften Elends existieren konnten. Der Islamische Staat ließ es sich nicht nehmen, den unverschämten Reichtum, den die Verbündeten und Nutznießer des Regimes angehäuft hatten, öffentlich zu machen, wie ein im September 2014 ins Netz gestelltes Video beweist, auf dem man sieht, wie Milizionäre des Islamischen Staates den »Palast« von Usama Al-Nudschaifì stürmten – einem Politiker aus Mossul und Vertreter der Staatsmacht in Bagdad, wo er den Posten des Parlamentspräsidenten bekleidete – und dort tonnenweise Goldbarren fanden! Diese Inszenierung knüpfte unmittelbar an manche Episoden des Arabischen Frühlings an, wie die Entdeckung der Paläste Ben Alis durch das tunesische Volk, und erinnert an die Ankunft amerikanischer Soldaten in den Palästen und Domizilen Saddams.

Neben dieser »Überdosis« Korruption auf lokaler Ebene erfuhren die Bewohner regelmäßig, dass bestimmte politische Repräsentanten aus den örtlichen sunnitischen Eliten in Bagdad einer systematischen Strafverfolgung unter verschiedenen und wechselnden Anklagepunkten ausgesetzt waren, die sie zwang, zu fliehen und ins Exil zu gehen – der berühmteste Fall ist der des Vizepräsidenten Tariq Al-Haschimi, der erst in Kuwait, dann in Saudi-Arabien und schließlich in der Türkei Zuflucht suchte. Für die Bevölkerung dieser Regionen war damit das Scheitern jeder Hoffnung auf Integration in das politische System des Irak, an die doch viele hatten glauben wollen, besiegelt – ein Scheitern, für das, nicht ohne Grund, größtenteils die Regierung von Nuri Al-Maliki verantwortlich gemacht wurde.

Das ganze Jahr 2013 über äußerte sich diese tiefgreifende Unzufriedenheit zunächst in friedlichen Protestbewegungen, die, wie erwähnt, Schlagworte des Arabischen Frühlings aufgriffen. Auch wenn die westliche Öffentlichkeit dies kaum zur Kenntnis nahm, wurden diese Proteste im Irak häufig mit der gleichen Brutalität unterdrückt wie 2011 und 2012 die friedlichen Demonstrationen der syrischen Bevölkerung vom Regime Baschar Al Assads. Im Irak, vor allem in Tikrit und Mossul, schreckte die Armee ebenso wenig wie in Syrien davor zurück, schwere Artillerie einzusetzen und mit TNT gefüllte Fassbomben über Wohngebieten, Krankenhäusern und Schulen abzuwerfen.

Der Rückgriff auf solche Methoden brachte die Stimmung unter einer Bevölkerung zum Kippen, die erlebt hatte, was mit den berühmten »Erweckungsräten« geschehen war, arabisch-sunnitischen Milizen, die ab 2006 von den Amerikanern bewaffnet und bezahlt wurden, um gegen Al-Qaida zu kämpfen. Diese Bevölkerung musste sich von Ministerpräsident Nuri Al-Maliki persönlich anhören, dass die von einer schiitischen Mehrheit kontrollierten Behörden in Bagdad nicht bereit seien, mehr als 20 Prozent dieser sunnitischen Milizionäre in die irakische Armee einzugliedern, was einen Großteil dieser Kämpfer – die doch einen wesentlichen Beitrag zum Kampf gegen Al-Qaida im Irak geleistet hatten – zu Arbeitslosigkeit und Marginalisierung verurteilte. Die Verbitterung ist umso größer, als die irakische Armee, wie wir noch sehen werden, einst das Rückgrat des ersten irakischen Staates bildete, der über achtzig Jahre lang von sunnitischen Arabern kontrolliert wurde. Die Armee bot ihnen wichtige soziale Aufstiegschancen, was zu gut ausgebildeten und ausgerüsteten Militäreliten führte, die häufig den großen sunnitischen Familien Bagdads und Mossuls entstammten.

Dieses Gefühl des Ausschlusses und der Marginalisierung ging mit einer tiefen Abneigung gegen das spektakuläre Ausmaß an Korruption einher, das durch die Besatzerlogik einer Nationalarmee gefördert wurde, die sich in Regionen mit sunnitischer Mehrheit wie ein fremdes Heer verhielt. Es bildeten sich zum Beispiel lokale Klientel-Netzwerke heraus, die so weit gingen, für eine künstliche Verknappung von Grundnahrungsmitteln zu sorgen, um die Preise in die Höhe zu treiben.

Als der Islamische Staat im Januar 2014 Falludscha und dann im Spätfrühling 2014 mehrere nördliche Großstädte sowie den Rest der Provinz Al-Anbar einnahm, war jeweils eine der ersten Maßnahmen der Dschihadisten, auf symbolträchtige Weise gegen die Korruption vorzugehen. So schritten in Mossul Milizionäre des Islamischen Staates gleich nach ihrem Sieg zur öffentlichen Exekution von Personen, die der Korruption beschuldigt wurden, und organisierten im Anschluss daran eine Machtübergabezeremonie an örtliche Clanchefs und Honoratioren der Stadt, die mit der Aufgabe betraut wurden, solche Praktiken zu bekämpfen. Des Weiteren legte der Islamische Staat von Beginn an großen Wert auf die Wiederherstellung der öffentlichen Versorgung. Zum Beispiel kehrten eine Reihe von Produkten auf die Märkte von Mossul zurück, die zuvor Gegenstand spekulativer Verknappung geworden waren, mit teilweise halbierten Preisen für Grundnahrungsmittel. Die Exekution von Verursachern solcher Versorgungsengpässe und Betreibern diverser Formen von Schwarzhandel wurde übrigens vom Islamischen Staat unter großem Medienaufwand inszeniert, insbesondere durch Enthauptungen und Kreuzigungen, die darauf abzielten, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen und den Kontrast zwischen der neuen Macht und der Regierung von Nuri Al-Maliki zu betonen.

Man beschuldigt den Islamischen Staat oft des illegalen Handels und Exports von Erdöl. Allerdings ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass der Ölschmuggel in Richtung Iran und Türkei eine Praxis ist, die seit Langem, schon seit den Zeiten Saddam Husseins, vom irakischen Staat gefördert wird. Zum Repertoire der Vergünstigungen, die Nuri Al-Maliki seinen lokalen Verbündeten gewährte, gehörte eben der Zugang zu diesem Schmuggel mitsamt den daraus resultierenden Profiten. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Kurden mit einer ganzen Tankwagenflotte einen nicht abreißenden Erdölexport in die Türkei organisierten, während im Süden des Landes eine Reihe lokaler Potentaten der mit der Staatsmacht verbündeten Schiitenparteien das gleiche Spiel in Richtung Iran betrieben.

»Staat« oder »Terrororganisation«?

Minbar