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Impressum
© 1976/2018 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
eISBN: 978-3-95439-800-3
Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Roy Palmer

Der
Schuldspruch

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

Blutrot war die See gefärbt, als die „Isabella IX.“ in die Bucht von Cádiz einlief. Wie ein Feuerball stand die Sonne unmittelbar über der westlichen Kimm, und von Osten kroch die Dunkelheit wie eine riesige Spinne heran.

Flammen loderten am Ufer, Häuser schienen zu brennen. Don Juan de Alcazar registrierte dies erst, als die „Isabella“ an einer der Piers vertäute. Verwundert richtete er seinen Blick auf den Kai. Dort scharten sich vor dem zuckenden Feuerschein Gestalten zusammen, ein ganzer Pulk näherte sich über die Pier der großen Dreimastgaleone mit den hohen Masten und den flachen Aufbauten.

Zu spät alarmierte Don Juan seine kleine, achtköpfige Crew. Ramón Vigil, der Bootsmann, war am Schanzkleid des Hauptdecks und versuchte, die Horde aufzuhalten. Hinter seinem Rücken griffen die Kameraden zu den Handfeuerwaffen. Doch sie hatten nicht die geringste Chance. Im Nu hatte die Meute sie überrannt und stürmte die Decks.

Entsetzt warf sich Don Juan ihnen entgegen. Es waren bucklige Gnomen und ungeschlachte Riesen, grinsende Zwerge und Monstren mit glühenden Augen, entartete Kreaturen der Hölle. Schon hatten sie Don Juan umzingelt und packten seine Arme und seine Beine. Krallen gruben sich in seine linke Schulter, er verspürte heftige. Schmerzen. Ein kicherndes Ungeheuer klammerte sich an seinem linken Fußknöchel fest und zerrte daran.

Seine Verwirrung und Überraschung wichen, Zorn packte ihn. Wild hieb er um sich. Er wollte sich befreien, wollte auch Vigil und den anderen zu Hilfe eilen, die ebenfalls in Bedrängnis waren, aber wieder war jeder Widerstand sinnlos.

Im Triumph war Don Juan nach Cádiz, in die Heimat Spanien, zurückgekehrt. Jubelrufe und Siegesgeschrei hatte er erwartet, denn er hatte Philip Hasard Killigrew, dessen Mannschaft und dessen Schiff in seine Gewalt gebracht, wie der ihm vom königlichen Hof übertragene Auftrag gelautet hatte. Und jetzt dies! Wieder wehrte er sich, aber die Scheusale lachten und brüllten voller Hohn.

„Arwenack!“ schrien sie. „Arwenack!“

Dann packten sie Don Juan und hoben ihn hoch. Sie trugen ihn von Bord und schafften ihn zum Kai, und von hier aus ging es unter Kreischen und Lärmen zur zentralen Plaza von Cádiz. Don Juan sah Vigil und die anderen – sie wurden ebenfalls weggeschleppt.

Auf der Plaza fesselte man sie an grobe, in den Boden gerammte Pfähle, zottige Greise, häßliche Frauen und keifende Kinder tanzten um sie herum und bespuckten sie.

„Was geht hier vor?“ schrie Don Juan. „Was wollt ihr von uns? Ich bin Don Juan de Alcazar!“

Wieder wurde er verspottet, verhöhnt und bespuckt. Er begriff nicht, was um ihn herum geschah. Fassungslos blickte er nur auf die Gestalten, die jetzt begannen, Reisig zu seinen Füßen aufzuschichten. Ebenso verfuhren sie mit Vigil und den anderen Männern, der kleinen Prisenmannschaft, die es fertiggebracht hatte, das große Schiff quer über den Atlantik sicher bis nach Spanien zu steuern.

Und jetzt sollte alles umsonst und vergebens sein? Was war in Cádiz geschehen? Wer waren diese Ungeheuer, die die ganze Stadt bevölkerten?

„Wer seid ihr?“ schrie Don Juan.

„Verbrennt sie, verbrennt sie!“ schrien die Frauen, Kinder und Greise und warfen mit Steinen nach ihnen.

Sie bedienten sich einer ganz anderen Sprache, das ging Don Juan erst jetzt auf. Dennoch verstand er sie. Wie hing das zusammen?

Sein Blick fiel auf die blutrote Fahne, die mitten auf dem Platz gehißt worden war. Sie zeigte ein weißes Kreuz – das Georgskreuz. Die Flagge Englands, dachte Don Juan entsetzt.

Ein Gigant mit ausladenden Schultern trat vor ihn hin, sein Gesicht war kreideweiß wie der Tod. Erst nach dreimaligem Hinsehen erkannte Don Juan ihn wieder.

„Killigrew“, murmelte er.

„Ich war ein Gefangener an Bord meines eigenen Schiffes“, sagte der Seewolf mit Grabesstimme. „Aber jetzt bin ich wieder frei – und mit mir meine Mannschaft.“

Sie alle betraten nun die Plaza: der Erste Offizier und Bootsmann Ben Brighton, der riesige, furchterregende Profos Carberry, der rothaarige Schiffszimmermann Ferris Tucker, zwei Kerle mit Eisenhakenprothesen, die sie gegenseitig aneinander wetzten, und all die anderen, die komplette Crew. Haß loderte in ihren Augen, Rache war ihr Ziel.

„Was hat das zu bedeuten?“ fragte Don Juan. Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt, der Schweiß rann ihm in Strömen über das Gesicht und den ganzen Körper.

„Eine Invasion“, erwiderte der Seewolf. „Cádiz ist in englischer Hand. Auch die anderen Häfen sind besiegt, von Norden her dringen berittene Truppen in das Land ein. Spanien fällt. Schon morgen ist es eine Kolonie der Königin Elizabeth I.“

„Niemals!“ schrie Don Juan.

„Auch die Neue Welt geht in englischen Besitz über“, sagte der schwarzhaarige Riese mit einer Stimme, die geradewegs aus den Schlünden der Hölle zu ertönen schien.

„Nein!“ brüllte Don Juan.

„Arwenack“, sagten die Männer der „Isabella“ im Geisterchor. „Es le-be die Kö-ni-gin, Arwenack. Ar-we-nack.“

„Die Schulter ist wund!“ schrie ein altes Weib und krallte seine Finger in Don Juans Schulter.

„Die Schußwunde ist entzündet!“ kreischte ein rotgesichtiges, mit den Augen rollendes Kind.

„Eine Sonde!“ dröhnte Philip Hasard Killigrews Stimme.

„Operieren“, sagte der Mann, der von allen nur der Kutscher genannt wurde, und sein Helfer mit dem todtraurigen, griesgrämigen Gesicht wiederholte es dumpf: „Operieren, operieren.“

„Nein!“ schrie Don Juan noch einmal.

„Verbrennen!“ rief der Chor. „Tod allen Spaniern!“

„Spanien ist in Englands Hand“, sagte Philip Hasard Killigrew. „Es gibt keine Rettung mehr. Du hast verloren, Don Juan. Ich habe es dir schon immer prophezeit. Ich habe dich gewarnt. Kreuze nie mehr meinen Kurs, habe ich dir gesagt. Aber du wolltest nicht auf mich hören.“

„Es war – mein Traum“, stammelte Don Juan de Alcazar.

„Träume sind Schäume“, sagte der Seewolf verächtlich. „Du hast die ‚Isabella‘ nie erobert. Es ist dir nie gelungen. Du hast es dir nur eingebildet. Träume sind Schäume.“

„Arwenack“, summte der Chor.

„Die Sonde!“ keifte das alte Weib. „Operieren!“

„Laßt mich sterben“, sagte Don Juan. „Ich zeige euch, wie ein Mann stirbt.“

„Auch jetzt noch stolz?“ sagte der Seewolf. „Du bist ein Narr, Don Juan de Alcazar, ein hoffnungsloser, verbohrter Narr.“

Ein Narr, ein Narr, tönte es in seinen Ohren nach. Wäre er nur nie in Havanna an Land gegangen! Hätte er sich nie in den Kopf gesetzt, Killigrew zu stellen und der spanischen Krone auszuliefern! Es war ein von Anfang an sinnloses Unternehmen gewesen, und er, Don Juan, war seinem Todfeind jetzt ausgeliefert.

Tatsächlich aber befand er sich nicht in Spanien, sondern an Bord der „Isabella IX.“, die vor der Bahama-Insel Great Abaco ankerte. Man schrieb den 17. Juni 1594, und es war ein recht ruhiger, beschaulicher Vormittag nach dem Hurrikan, der über die Inselgruppe hinweggetobt war. Nur für Don Juan war die Welt ein Höllenkrater – er war verwundet und wand sich unter Schmerzen, Schüttelfrost und Fieber.

Hasard schritt durch den Mittelgang des Achterkastells der „Isabella“, verharrte kurz vor der Tür zur Kapitänskammer und öffnete sie dann mit einem entschlossenen Ruck. Er blickte ins Innere des Raums, der kurzfristig zum Krankenlager für Don Juan geworden war. Pater David, der Kutscher und Mac Pellew standen mit ziemlich besorgten Mienen an der Koje, auf der sich der Patient drehte und wand.

Der Kutscher sah zu Hasard.

„Er fiebert und ist nicht zu beruhigen“, erklärte er. „Das erschwert uns natürlich die Arbeit.“

„Könnt ihr ihn nicht festbinden?“ fragte der Seewolf.

Der Kutscher erwiderte: „Dazu sind wir gezwungen, wenn sich an seinem Zustand nichts ändert. Ich meine – das Fieber läßt nicht nach, und er wird weiterhin phantasieren. Ich muß aber die Kugel aus der Schulter holen, so schnell wie möglich.“

„Wir könnten ihm eine Flasche Rum verabreichen“, schlug Mac Pellew vor. „Dann gibt er bestimmt Ruhe. Ich hab’ da so meine Erfahrungen.“

„Aber um trinken zu können, muß er bei Bewußtsein sein“, sagte Pater David. „Wir können ihm das Zeug schließlich nicht gewaltsam einflößen.“

„Wir können’s doch“, widersprach Mac mit tödlich beleidigter Miene. „Wir brauchen dazu nur einen Trichter, das ist alles.“

„Das sind ja die reinsten Foltermethoden“, sagte Pater David. „Dagegen protestiere ich.“

„Schon gut“, sagte der Kutscher. „Mac wollte nur mal witzig sein.“

Mac schüttelte entschlossen den Kopf. „Nein, das war mein voller Ernst.“

„Das glaube ich dir gern“, sagte der Seewolf. „Aber als Feldscher solltest du wirklich noch ein paar Jährchen beim Kutscher in die Schule gehen. Soviel Zeit brauchst du nämlich, wie mir scheint, um zu begreifen, daß es nicht nur rüde Holzhammer- und Brandy-Methoden gibt.“

„Aye, Sir“, sagte Mac trocken. Es schien ihm unter diesen Umständen das angebrachteste zu sein.

Der Kutscher hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. „Natürlich weiß ich nicht, wie lange wir deine Kammer noch mit Beschlag belegen müssen, Sir. Wir können den Mann ja auch schlecht in einen anderen Raum verfrachten, vorläufig jedenfalls.“

„Das scheidet schon allein wegen des Platzproblems aus“, sagte der Seewolf. „Im übrigen ist die Kammer meine geringste Sorge. Ich stelle sie so lange zur Verfügung, wie sie gebraucht wird. Aber haltet mich über die Entwicklung auf dem laufenden. Wenn er zu sich kommt, dürfte es noch einigen Aufstand geben. Dann merkt er nämlich, daß er sich an Bord unserer Lady befindet. Für ihn ist das die größte Schande, die es gibt.“

„Der Mensch hat Sorgen“, brummte Pater David. „Dabei sollte er heilfroh sein, daß der Herrgott ihn nicht zu sich holt. Bei so einer Blessur kann das leicht passieren.“

Hasard sagte: „Ich bin derselben Meinung, Pater, aber ich bezweifle, daß uns Don Juan in diesem Punkt recht gibt. Vielleicht wäre ihm lieber gewesen, ins Gras zu beißen, statt uns in die Hände zu fallen.“

„Ja, ja“, sagte der Gottesmann. „Wir Spanier mit unserem elenden, törichten Stolz. Ein intelligenter Mann wie dieser Don Juan sollte über den Dingen stehen und Souveränität beweisen. Ich hoffe, daß ich ihn noch entsprechend beeinflussen kann.“

„Ich wünsche viel Vergnügen bei dem Versuch“, sagte Hasard nicht ohne Sarkasmus. Denn er wußte ja, was für ein harter Brocken Don Juan war. Klug war er, das war sicher, aber auch hartnäckig und unbeugsam. Einflüssen jeglicher Art pflegte er eisern standzuhalten, wie auch die Berichte bewiesen, die Hasard von seinem Vetter Arne von Manteuffel in Havanna vernommen hatte. Was sich Pater David vorgenommen hatte, war also alles andere als leicht.

Hasard zog sich aus der Kammer zurück und schloß die Tür. Er kehrte an Oberdeck zurück und betrat das Quarterdeck. Am Steuerbordschanzkleid blieb er stehen, nahm sein Spektiv zur Hand, zog es auseinander und spähte hindurch – zum westlichen Horizont.

Ben Brighton trat zu ihm und sagte: „Wegen des Wetters brauchen wir uns vorerst nicht mehr zu sorgen. Der Hurrikan hat inzwischen längst Florida erreicht.“

Hasard ließ das Spektiv wieder sinken und richtete seinen Blick auf das Ufer der großen Bucht von Great Abaco, wo Ramón Vigil, Felipe Torres und die anderen Spanier die Gefangenen bewachten: Don Ignatio Churruca, Rolando de Simon, Carlos Antibes und die sechs Kerle, die sich auf die Seite des Capitáns und seiner beiden Offiziere geschlagen hatten. Sie waren gefesselt worden und hockten auf dem Boden. Ihre Mienen waren niedergeschlagen und verbissen, aber Hasard wußte, daß sie ihren Widerstand noch lange nicht aufgegeben hatten.

„Dafür haben wir jetzt andere Probleme“, sagte er. „Wir haben die Gefangenen am Hals und wissen nicht, was wir mit ihnen anstellen sollen. Wir haben Don Juan an Bord, und wir müssen uns um die siebzig Mixteken kümmern. Wir dürfen uns hier nicht mehr lange aufhalten, sonst werden die Vorräte zu knapp.“

„Ich fürchte, die sind schon knapp“, sagte Ben.

„Wenn der Kutscher mit der Operation fertig ist, soll er mir den genauen Bestand melden“, sagte der Seewolf. „Außerdem will ich wissen, wieviel Wasser noch in den Fässern ist.“

„Aye. Und wie geht es Don Juan inzwischen?“

„Das Fieber setzt ihm schwer zu.“

„Dieser Don Ignatio hat ihn nicht einmal verbunden, oder?“

„So ist es“, entgegnete Hasard. „Wer dem Kerl als Gefangener in die Hände fällt, ist wirklich des Todes.“

„Ich frage mich, wie viele der Mixteken Spanien lebend erreicht hätten, wenn die ‚Golondrina‘ ihre Fahrt fortgesetzt hätte“, sagte Ben. „Nicht mal zwei Dutzend, schätze ich. Oder irre ich mich?“

„Du irrst dich bestimmt nicht“, antwortete der Seewolf mit grimmiger Miene. Natürlich hätte er Don Ignatio wegen seiner Verbrechen aburteilen können. Aber das war nicht seine Aufgabe. Es fiel Don Juan zu, über den Mann und die Offiziere sowie die sechs Besatzungsmitglieder der „Golondrina“ Gericht zu halten. Schließlich hatten die Kerle auch einen von Don Juans Männern auf dem Gewissen.

Die „Golondrina“ lag auf dem Grund der großen Bucht. Sie würde nie wieder als Sklavenschiff dienen, aber es würde andere Schiffe geben, die arme Teufel wie die Mixteken in die Alte Welt beförderten, wo sie wie fremdartige Tiere begafft und ausgelacht wurden. Hasard verspürte Widerwillen, wenn er nur daran dachte.

In diesem einen Punkt war Don Juan de Alcazar sogar mit ihm einer Meinung. Auch er verdammte das Vorgehen der Spanier in der Neuen Welt, von dem er allerdings nur einen Vorgeschmack erhalten hatte. Don Juan war ein Mann mit moralischen und christlichen Prinzipien, die er um keinen Preis verletzte. Aus diesem Grund hatte er auf Pater Davids Drängen hin auch die Geiseln wieder freigelassen, die er überwältigt und festgenommen hatte, um den Seewolf zur Aufgabe zu zwingen. Big Old Shane, Stenmark, Jack Finnegan, Paddy Rogers und Bob Grey hatten sich nur für kurze Zeit in seiner Gewalt befunden.

Und jetzt lag er fiebernd und mit einem Schultersteckschuß aus der Pistole des Don Ignatio Churruca in Hasards Kapitänskammer. Der Krankenraum an Backbord unter der Back, der eigentlich für solche Zwecke vorgesehen war, war mit Mixteken belegt, die wegen Entkräftung noch gepflegt werden mußten.