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Impressum
© 1976/2018 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
eISBN: 978-3-95439-819-5
Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Roy Palmer

Der Coup
des Caligula

Wie ein reißender Teufel fiel er über den Küstenfahrer her

Seit zwei Wochen saßen sie auf dem Eiland der Cay-Sal-Bank fest – die Black Queen, Caligula und fünf Kerle, die den Untergang ihrer Zweimastschaluppe überlebt hatten. Zwar lag die kubanische Nordküste nur an die fünfzig Meilen südlich der Cay-Sal-Bank, aber wenn man kein Schiff, keine Jolle, kein Floß hatte, dann war die rettende Küste noch weiter entfernt ab der Mond. Wer versucht hätte, sie schwimmend zu erreichen, wäre ein Selbstmörder gewesen – wegen der Haie, der Strömungen, des Seegangs oder was auch immer einem Schwimmer gefährlich werden konnte, ganz abgesehen von seinem Durchhaltevermögen. Die Lage der sechs Schnapphähne und ihrer Anführerin war trostlos …

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1.

Dunkle Gestalten glitten mit fließenden Bewegungen durch die stumme, glitzernde Welt, in der nichts der Zeit und der Veränderlichkeit ausgesetzt zu sein schien. Hier, im blaugrünen Licht der Freundlichkeit und Ruhe, schien ewiger Frieden zu herrschen, und nichts konnte den geordneten Ablauf des Lebens stören. Es gab keinen Streit und keinen Kampf, keine Rivalitäten, keinen Haß, keinen Neid, keine Habsucht und keine Raffgier.

Und doch war alles nur eine Illusion und Täuschung. Urplötzlich konnten graue Mörder in das Reich des Schweigens eindringen und blutige Mahlzeit halten – oder drohende Dunkelheit löste das Sonnenlicht ab, und furiose Stürme peitschten die Fluten. Auch die glatten, geschmeidig wirkenden Gestalten, die das Wasser mit ihren Armen und Beinen teilten, waren Störenfriede. Die bunten Fischschwärme ergriffen eilends die Flucht vor ihnen. Das Wrack schließlich, das auf dem sandigen Grund ruhte, war ein Fremdkörper in der sonst harmonischen Umgebung.

Sechs Männer – ohne Ausnahme Farbige – schwammen auf das Wrack zu. Einer von ihnen hatte die Aufgabe, nach Haien Ausschau zu halten und seine Kumpane sofort durch Zeichen zu verständigen, wenn sich Gefahr ankündigte. Die fünf anderen tauchten bis zu dem Wrack hinunter und holten, was es zu holen gab. Immer wieder schossen sie hoch, um an der Oberfläche frische Atemluft zu schöpfen, dann wieder stießen sie in die Tiefe und schienen auf den Zweimaster zuzuschweben.

Sie waren rohe, brutale Kerle, bei denen der Zauber der Welt unter Wasser keinerlei Empfindungen auslöste. Sie dachten in primitiven Kategorien, und Feinfühligkeit war ihnen etwas Fremdes, Unbekanntes. Nur wer sich durchzuschlagen verstand, blieb am Leben.

Die fremde Schebecke hatte ihren Zweimaster versenkt, aber sie hatten doch Glück gehabt und waren nicht ertrunken, von Kugeln zerfetzt oder von Haien zerrissen worden. Sie hatten sich auf das Eiland der Cay-Sal-Bank retten können und ernährten sich von Kokosnüssen und Fischen. Sie waren sechs Männer und eine Frau.

Sie wollten wieder weg von der Insel, doch sie verfügten nicht über die primitivste Art eines Wasserfahrzeuges, nicht einmal über ein Floß. Da hieß es, die Zähne zusammenzubeißen und das Beste aus der Lage zu machen. Die Zeit des Ausharrens und Wartens schien sich unendlich in die Länge zu dehnen. Das langsame Verstreichen der Stunden, die man tatenlos zubringen mußte, zehrte an den Nerven.

Nicht verzagen und zupacken – das war das einzige Mittel, das es gegen den Unmut gab. Die See war tückisch und gnadenlos und forderte ihre Opfer, aber zuweilen gab sie auch wieder etwas her von dem, was sie verschlungen hatte.

Für Caligula, den Riesen, war sie einfach nur die Wasserwelt, deren Launen man hinnehmen mußte. Für Pablo, den stämmigen, stiernackigen Kreolen, war sie die Welt der Wasserhexen und Dämonen, die im Dunkeln ihre Zähne und Krallen zeigten. So dachten mehr oder weniger auch die vier anderen, deren dumpfe Gefühle zwischen dem reinen Selbsterhaltungstrieb und einer naiven Form von Aberglauben schwankten.

Man mußte dem Schicksal ein Schnippchen schlagen. Schön, sie saßen auf dem Eiland fest, aber sie hatten es besser getroffen als die Toten, die von den Unterströmungen entführt worden waren. Einer hatte sich unter Deck der Zweimastschaluppe verklemmt, und sie hatten ihn befreit. Dann war er davongetrieben wie ein großer, hohläugiger Geist. Pablo war sicher, daß ihn der Teufel persönlich geholt hatte. Jeder war irgendwann mal dran, aber jeder hoffte, daß nicht ausgerechnet er der nächste sein würde.

Caligula trieb die Bergungsarbeiten voran. Er versuchte ständig, die Kerle irgendwie zu beschäftigen, damit sie nicht auf dumme Gedanken verfielen. Müßiggang führte zu Verdrossenheit, Streit und Meuterei. Ansätze hatte es bereits gegeben, aber er hatte die kleine Meute wieder fest im Griff. Er hatte jetzt das Regiment – nicht die Black Queen.

Die Queen war verbittert und verzweifelt. Ihr Haß hatte sie in die Enge getrieben. Sie hatte alles auf eine Karte gesetzt und verloren. Dabei hatte sie zu Anfang alles so geschickt eingefädelt, als sie Don Antonio de Quintanilla, dem Gouverneur von Kuba, in Havanna die Botschaft zugespielt hatte: Endlich wußten die Spanier, wo sich das geheime Versteck des Seewolfes und des Bundes der Korsaren befand.

Don Antonio hatte nicht gezögert, einen Verband von sechs Kriegsgaleonen und vier Kriegskaravellen zusammenzustellen, der ausgelaufen war, um die Engländer zu vernichten. Alles hatte vielversprechend begonnen, und die Queen hatte als Fühlungshalterin die heimliche Beobachterin und lachende Dritte sein wollen. Aber wieder einmal war alles so ganz anders gekommen, als sie sich das ausgemalt und zurechtgelegt hatte.

Sie wußte nicht, wer der Kapitän der dreimastigen Schebecke war, die völlig unversehens aufgetaucht und über sie hergefallen war. Sie ahnte nicht, daß es Don Juan de Alcazar gewesen war, und sie wußte auch nicht, was in der Zwischenzeit geschehen war: daß nämlich der Kriegsschiffsverband vollständig aufgerieben worden war und die erwartete Verstärkung von sechs Kriegsgaleonen aus Cádiz unter der Führung von Don Gonzalo de Vallejo ebenfalls auf dem Grund der Karibik lag.

Der Erzfeind der Queen, Philip Hasard Killigrew, war als glänzender Sieger aus der Schlacht hervorgegangen, obwohl es zwischendurch den Anschein gehabt hatte, als sei er selbst dem Angriff auf seine „Isabella IX.“ zum Opfer gefallen. Er war verschwunden und wieder aufgetaucht. Die Queen wäre vor Haß und Wut vergangen, wenn sie es in diesem Moment erfahren hätte.

Seit dem Abend des 20. Juli 1594 hockte sie nun mit ihren sechs letzten Kerlen auf der kleinen Insel der Cay-Sal-Bank und wußte nicht, was sie unternehmen sollte. Die in Cabanas gekaperte Zweimastschaluppe lag auf dem Grund der Bucht, und damit waren sie auf dem Eiland festgenagelt. Es stand in den Sternen, ob sie es jemals wieder verlassen würden.

Die Black Queen hockte unter den Palmen und blickte auf das Wasser der Bucht, wo die Köpfe der Kerle in unregelmäßigen Zeitabständen auf- und wieder wegtauchten. Gut, sie bargen die Silberbarren. Die Schatztruhe befand sich bereits an Land, am Lagerplatz. Aber welchen Sinn hatte das noch? Und was nutzte es, daß auch die Verletzungen, die sie davongetragen hatten, wieder verheilt waren? Nichts konnte ihnen aus ihrer fatalen Lage helfen, und mit dem Schatz konnten sie nichts, aber auch gar nichts anfangen.

Sie waren fürwahr ein desolater Haufen abgetakelter. Galgenvögel. Trotz der Tatsache, daß sie nur noch eine winzige Horde waren, gärte es. Zwischen der Queen und Caligula schwelte so etwas wie Feindschaft, deren Ursache in dem Vorwurf Caligulas bestand, der Haß der Queen auf den Bund der Korsaren habe sie in diese ausweglose Situation gebracht.

Überhaupt, die Black Queen hatte sich seit ihrer schweren Verletzung durch El Tiburón, von der sie nur langsam genesen war, merklich verändert. Zur Zeit wechselten bei ihr Stunden totaler Gleichgültigkeit oder dumpfen Brütens mit plötzlich hervorbrechenden Wutanfällen ab.

Sie war schon immer unberechenbar und gefährlich gewesen, aber bei diesen Wutanfällen war sie es noch mehr, sie verwandelte sich dann in eine wütende, reißende Raubkatze. Dabei störte sie in keiner Weise, daß sie nicht einmal mehr ein Messer als Waffe hatte.

Dieses Messer hatte Caligula ihr unmittelbar nach der Landung auf dem Eiland abgenommen, als sie damit auf ihn losgegangen war. Wie eine Furie hatte sie sich benommen und damit auf ihn eingehackt. Er hatte sie zu Boden geschlagen und war versucht gewesen, sich an ihr zu rächen. Dann aber hatte das Verlangen gesiegt, das er immer noch nach ihr verspürte. Töten konnte er sie nicht, obwohl sie es verdient hatte.

Mit Brutalität hatte Caligula den fünf anderen Kerlen bewiesen, daß es keinen Sinn hatte, sich aufsässig zu zeigen. Das Kommando hatte er. Wenn jemand zur Zeit so etwas wie Autorität genoß, dann war er es. Keiner wagte, gegen ihn aufzumucken. Und keiner wagte sich in die Nähe der Queen. Sie wußten, daß Caligula auf Bemerkungen über ihren derzeitigen Zustand mit Wut reagierte.

Pablo, so hatte sich in den Tagen auf der Insel herausgestellt, war der gehorsamste Mann. Er tat bedingungslos alles, was Caligula ihm befahl. Er war ein etwas dicklicher Mann und wirkte auf den ersten Blick beinah bieder, doch in Wirklichkeit war er äußerst gerissen und skrupellos und eiferte Caligula nach. Er sah in ihm eine Art Vorbild – das war es, was ihn an den Riesen band.

Caligula trieb die Kerle dazu an, alles aus dem in der Bucht gesunkenen Zweimaster abzubergen, was man noch gebrauchen konnte. Natürlich war er auch davon überzeugt, daß man für die Schatztruhe und die Silberbarren früher oder später eine Verwendung finden würde. Verbunden damit war die feste Hoffnung, daß sie es schafften, die Insel wieder zu verlassen.

Er schoß hoch, wirbelte eine Fontäne auf, schöpfte japsend Atemluft und ließ sich wieder in die Fluten sinken. Mit starken, ausholenden Bewegungen tauchte er auf den Grund und drang in das Achterdeck der Schaluppe ein. Schon ein paarmal hatte er versucht, sich die Schatulle des Kapitäns zu holen, aber bisher war ihm das nicht gelungen.

Jetzt hatte er Glück, und die Luft reichte dieses Mal aus. Er durchstöberte die Kapitänskammer, stieß auf die Schatulle, grinste und preßte sie an die Brust. Dann schwamm er zum Schott und ließ sich von der Auftriebskraft des Wassers zur Oberfläche mitnehmen.

Plötzlich gestikulierte der Wachtposten alarmierend. Caligula, Pablo und die anderen drehten sich im Wasser um und blickten in die von dem Kumpan angegebene Richtung. Von der Einfahrt der Bucht her näherte sich ein grauer Schatten, einem Schemen gleich, verschwommen und unstet und doch nicht zu übersehen.

Sofort griffen die Kerle zu den Waffen. Jeder hatte ein Messer bei sich, Caligula, Pablo und ein dritter trugen zusätzlich kurze Schiffshauer. Diese Entermesser behinderten sie zwar in den Bewegungen, doch es war unvermeidlich, sie mitzunehmen, denn eine andere Garantie fürs Überleben gab es nicht, wenn sich die Haie näherten.

Caligula schoß hoch, holte Luft und gab die Schatulle an einen der Kerle weiter, der neben ihm auftauchte.

„Zum Ufer!“ herrschte er ihn an, dann stieß er wieder in die Tiefe und stellte sich dem Hai.

Doch im nächsten Moment trat etwas völlig Unerwartetes ein. Der graue Mörder drehte wieder ab und zog sich auf die offene See zurück. Er schien kein Interesse an den Kerlen zu haben, was immer auch der Anlaß dafür sein mochte.

Caligula grinste, steckte sein Messer wieder weg und suchte erneut die Decks der Zweimastschaluppe auf. Er holte einen Silberbarren, kehrte an die Oberfläche zurück, schwamm zum Ufer und watete an Land.

Hinter ihm trafen auch die anderen ein.

„Schwein gehabt“, sagte der eine und lachte. „Der Tiburón hatte keinen Hunger.“

„Oder ihm ist der Appetit vergangen, als er dich gesehen hat“, sagte ein anderer.

Die Kerle grölten vor Lachen und schienen sich bestens zu amüsieren. Nur Pablo blieb ernst.

Er spuckte in den Sand und sagte: „Das war Vorsehung. Heute ist ein Glückstag für uns, kein Pechtag. Sonst hätte der Graue einen von uns angegriffen.“

Caligula hockte sich hin, um die Schatulle zu untersuchen, sah dabei aber zu Pablo auf. „Glück? Großartig. Dann zaubere mal eine stabile Jolle oder was Ähnliches her.“

„Ich kann nicht zaubern“, sagte Pablo. „Aber der Wassermann und die Meerhexen haben es in der Hand. Wenn sie wollen, daß wir hier wegkommen, wird es auch geschehen.“

„Wer’s glaubt, wird selig“, sagte Caligula.

Er grinste aber doch, denn inzwischen hatte er die Schatulle geöffnet und griff mit der Hand hinein. Er klimperte mit den Münzen, die sie enthielt. Dieses Geld war das rechtmäßige Eigentum des ursprünglichen Besitzers der Schaluppe. Er hatte es sich in Cabanas durch den Verkauf eines Teiles seiner Waren verdient, aber er würde niemals auch nur einen Silberling davon wiedersehen.

„Ein schöner Batzen Geld“, sagte Pablo. „Und wir haben jetzt auch alle Barren an Land. Ein beruhigendes Gefühl.“

„Findest du?“ fragte Caligula.

„Ja. Wie geht es weiter?“

„Wir holen uns auch den Rest. Das ganze Zeug, das sich noch in den Laderäumen und meinetwegen im Logis und in den anderen Räumen befindet.“

„Was hast du vor?“ fragte Pablo.

Caligula musterte ihn mit höhnischer Miene. „Ist das nicht klar? Wir müssen zusehen, daß wir ein Floß oder so was zusammenbauen. Deshalb sind Werkzeuge und ähnlicher Kram für uns jetzt noch wichtiger als das ganze Silber zusammen.“

„Wir könnten auch eine Palme fällen und sie als Mast benutzen“, sagte einer der Kerle.

„Wir müssen aber erst mal einen Kahn oder ein Floß haben, um den Mast darauf zu richten“, sagte ein anderer.

„Und woher willst du ein Rigg kriegen?“ fragte Caligula den ersteren. „Willst du es dir aus den Rippen schneiden? Mach mir das mal vor.“

„Wie wär’s mit Palmenwedeln?“

„Hau ab und sammle ein paar Kokosnüsse“, sagte Caligula. „Wird’s bald? Das Wasserfaß muß auch gefüllt werden. Los, schieb ab, dann brauchen wir uns dein idiotisches Geschwätz wenigstens nicht mehr anzuhören.“

Der Kerl entfernte sich, zerdrückte aber, ohne daß Caligula es hören konnte, einen Fluch auf den Lippen. Er ging an der Queen vorbei, aber sie schien durch ihn hindurchzublicken.

Narren, dachte sie, wann verreckt ihr endlich?

Unterschwellig war aber auch ihr bewußt, daß sie aufeinander angewiesen waren. Ohne die Kerle würde sie die Insel niemals lebend verlassen, denn wer anders außer ihnen sollte ein Notfloß zimmern? Allein würde sie das niemals schaffen.