Reinhard Lassek

Wir sind das Blech!

Die wunderbare Welt der Blechbläser

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Impressum

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlaggestaltung und Konzeption:

Agentur R.M.E Eschlbeck/Hanel/Gober

Umschlagmotiv: ©Getty Images

ISBN (E-Book): 978-3-451-34660-6

ISBN (Buch): 978-3-451-61108-7

Für Eva & Oliver

Inhalt

Präludium

I. Bläserhistorie – die irdischen Heerscharen
in Kirche & Co

Evangelische Posaunenchöre

Herrnhuter Brüder

Jünglinge und Missionare

Posaunenväter

Kuhlo-Klang

Kuhlo-Notation

Kuhlohorn und Hakenkreuz

Laien und Profis

Gemeinschaftsgeist

Blechensembles & Brass Bands

Jagdhornkorps

Fanfaren- und Spielmannszüge

Blasorchester und Musikkorps

Brassensembles

Brass Bands und Heilsarmee

II. Blechhistorie – vom Schneckenhaus
zum Bronzeguss

Homo musicus

Altsteinzeitliches Basislager

Ruf des Schofar

Tönendes Erz

Eselsgeschrei am Nil

Posaunen vor Jericho

Menschliche Systematik

Göttliche Eitelkeit

Europäisches Altmetall

III. Chromatische Verrenkungen –
von Zügen & Ventilen

Stimm- und Spielzüge

Grifflöcher und Klappen

Windige Umleitungen

Pumpen oder Rotieren

IV. O, dieser Glanz – Legierungen & Mensuren

Tombak und Neusilber

Zylindrische Verbiegungen

Konische Erweiterungen

V. Botschafter des Klangs –
Mundstücke & Dämpfer

Physik der Poleposition

Materielle Ansprüche – von Titan bis Veilchenholz

Lippenbekenntnisse –
Was passt zu welchem Mund?

Qual der Wahl – Ansatz ist nicht käuflich

Stopfen, Flüstern, Lachen – (un)gedämpfte Erwartungen

VI. Wir sind das Blech – Instrumente & Lagen

Weitläufige Familienbande

Trompete, Kornett und Flügelhorn

Althorn, Tenorhorn und Bariton

Waldhorn

Posaune

Tuba, Helikon und Sousafon

VII. Wie dem Blech Töne entlockt werden –
das Blasen

Keine Angst vor Physik – die Natur spielt mit

Luftschwingungen

Luftunterbrechungen

Luftströmungsgesetz

Dicke Backe, halbe Lunge? –
nur Mut zum Körpereinsatz

Ansatzprobleme

Atmungsaktivitäten

Stimmbänder und Zungenspiele

Lippenlegenden

Trockenübungen

Spielgesichter

VIII. Alte Privilegien und neue Stars

Trompeterstolz

Clarinenkunst

Jazzimprovisationen

Hornromantik

Posaunenengel

Tubadinerie

Postludium

Literatur

Präludium

Der Gemeinderaum ist aufgeschlossen, die Stühle sind im Halbkreis gestellt, Notenständer und Literatur liegen bereit. Auf dem Probenplan stehen Stücke unterschiedlichen Stils und Schwierigkeitsgrades – auch wir Blechbläser wachsen mit den Aufgaben. Gibt es etwas, was mehr Freude macht als das gemeinsame Musizieren? Mir als Chorleiter bleiben allenfalls noch ein paar ruhige Minuten. Gleich werden die ersten Posaunenchorler eintrudeln, etwas abgespannt und manchmal auch abgehetzt vom langen Schul- oder Arbeitstag – aber dennoch in heiterer Feierabendstimmung. Proben sind anstrengend. Wenn sie gelingen, sind sie jedoch ein Geschenk.

In der Tat, es ist ein Geschenk, wenn es uns Laienmusikern etwa gelingt, einen Choralsatz Johann Sebastian Bachs so sauber und fein zu blasen, dass wir dabei für einen glücklichen Moment denken: Ja, genau so ist es gemeint, deswegen bin ich beim Posaunenchor! Dann darf man sich auch als Erwachsener noch wie ein beschenktes Kind fühlen. Ich jedenfalls war noch keine acht, als meinem Vater die im wahrsten Sinne des Wortes glänzende Idee kam, mich mit einer funkelnagelneuen Trompete zu überraschen. Weder stand Weihnachten vor der Tür noch hatte ich Geburtstag. Ein Geschenk aus heiterem Himmel also? Nein, es war die Fortsetzung einer wundervollen Familientradition: Sowohl mein Großvater als auch mein Vater haben in ihrem Leben Posaunenchöre geleitet, ja sogar begründet. Inzwischen bin ich längst selbst dabei, meinen Bläserkollegen möglichst taktvoll die richtigen Einsätze zu geben. Und auch ich habe meinem Sohn, als er noch keine acht war, ein gutes Stück Blech in die Hand gedrückt. Ja, und ich genieße es, dass er mich nicht nur auf dem Flügelhorn nach und nach überflügelt.

Solche generationsübergreifenden familiären Posaunenchorgeschichten sind gar nicht einmal so selten. Sie gehören zu den vielen kleinen Puzzleteilen, aus denen sich die große Geschichte der evangelischen Posaunenchorbewegung zusammensetzt. Auch an Materialien zur Schulung von Ansatz und Geläufigkeit sowie an praxisnahen Ratgebern von der Instrumentenpflege bis hin zur Chorleitung herrscht kein Mangel. Was indes fehlt, ist eine umfassende Darstellung, die all die irdischen Heerscharen des kirchlichen und nichtkirchlichen Blechs gewissermaßen auf eine große Festwiese versammelt – zum gemeinsamen Musizieren und Feiern. Ein Bläserfestival in Buchform also, das unter dem Motto steht: Wir sind das Blech!

Dieses Buch möchte informieren und anregen – hin und wieder aber auch anrühren. Man kann es von vorne nach hinten lesen oder einzelne Kapitel herausgreifen. In jedem Fall möchte es mit der glanzvollen Geschichte, den wunderbaren Instrumenten, den großen Triumphen und Niederlagen, den herrlichen Klangfarben, den unübersehbaren Stärken und den verborgenen Schwächen des Blechs bekannt machen. Es wendet sich dabei nicht nur an Blechbläser aus Leidenschaft. Es möchte vielmehr allen Musikfreunden, die sich gern etwas tiefer in die wunderbare Welt der Blechbläser hineinbegeben wollen, ein im Ton vergnüglicher und in der Sache zuverlässiger Reisebegleiter sein.

I.
Bläserhistorie – die irdischen
Heerscharen in Kirche & Co

Posaune

Evangelische Posaunenchöre

Herrnhuter Brüder

»Lobet den Herrn mit Posaunen!« – Das ist aus Sicht eines evangelischen Posaunenchorbläsers die entscheidende Botschaft des 150. Psalms. Gewiss, auch in katholischen Gottesdiensten kommen Trompeten und Posaunen zum Einsatz. Doch eine feste Institution sind die kirchlichen Blechbläser allein im evangelischen Milieu. Die irdischen Bläserheerscharen bilden eine der größten Laienbewegungen innerhalb des deutschen Protestantismus. Mehr als jede dritte evangelische Gemeinde hat einen Posaunenchor. Und es gehört zum Chorgeist, dass all diese »Posaunenchorler« unentgeltlich spielen. Ihr glänzendes Instrumentarium erklingt nicht nur zu liturgischen, sondern auch zu missionarischen, diakonischen oder sozialen Anlässen. Und trotz einer gewissen Bandbreite des Repertoires liegt der musikalische Schwerpunkt auf der Pflege des geistlichen Liedes – vom Reformations-Choral bis hin zum amerikanischen Spiritual.

Während sich der geistliche Auftrag mit dem Hinweis auf den 150. Psalm leicht als »Gotteslob« beschreiben lässt, ist die Herkunft der evangelischen Posaunenbewegung ein weitaus komplexeres Thema. Das Copyright für den Begriff, unter dem sich heute das gesamte evangelische Blech versammelt, liegt jedenfalls bei den Herrnhuter Brüdergemeinden – jener Gemeinschaft böhmischer Glaubensflüchtlinge und deutscher Pietisten, die sich im frühen 18. Jahrhundert in der Oberlausitz angesiedelt haben. Bereits 1764 ist in einem Synodalbeschluss der »Brüdergemeine« offiziell von einem »Posaunenchor« die Rede.

Über erste Anblasübungen der frommen Brüder wird jedoch schon ein paar Jahrzehnte zuvor berichtet. Im Herrnhuter Gemeindetagebuch findet sich am 1. Juni 1731 erstmals ein Eintrag über einen »Chor von Posaunisten«. Einer anderen Quelle nach stiften 1766 fünf musikbegeisterte »Bürger, Häusler und Weber« der Brüdergemeinde in Walddorf – ebenfalls im Kreis Görlitz gelegen – einen kompletten »Chor Posaunen«, bestehend aus Diskant-, Alt, Tenor- und Bassposaune. Diese Schenkung wird mit der Anmerkung versehen, dass die Posaunen dazu da sind, »damit die Sache selbst Gott zu Ehren und hiesiger Kirche zum Ruhm gereiche«.

Die Herrnhuter Posaunenchöre, so der Musikwissenschaftler Nils Niemann, sind »keine gewöhnlichen Kirchenmusikgruppen«, sondern »sicht- und hörbare Zeichen eines lebendigen christlichen Gemeinwesens«. Ein frühes Zeugnis dafür liefert der »Posaunistenchor« der Brüdergemeinde in Kittlitz – heute Stadtteil des sächsischen Löbau. Die Kittlitzer Bläser geben sich 1817 eine 46 Punkte umfassende Satzung, laut der es die vornehmste Aufgabe des Chores ist »a, den Namen Gottes sowohl selbst zu verherrlichen, als auch b, andere dazu zu ermuntern«.

Als Ermunterung gilt gewiss auch das Wecken am Ostermorgen. Auch hierfür liefern die Herrnhuter ein im doppelten Sinne frühes Vorbild: Nach dem Wecken um halb vier findet laut Gemeindetagebuch am 6. April 1738 erstmals eine Ostermorgen-Prozession mit Posaunen und anderen Instrumenten statt. Dass es notfalls auch mal ganz ohne Posaunen geht, bezeugt ein Brief aus einer Herrnhuter Siedlung im hessischen Marienborn. Dort heißt es 1739: Seitdem »mit Trompeten und Waldhörnern« musiziert wird, »laufen die Leute häufig herzu, und mancher Vogel, der um dass Pfeifen willen herbeigeflogen, wird angeschossen von den Pfeilen des Sündenfeuers durchs Wort vom Kreuz, dass sie nicht wissen, wie ihnen geschieht«.

Dem Selbstverständnis der Brüdergemeinde entsprechend sind der Posaunenmission also keinerlei Grenzen gesetzt. Und dank reger Missionstätigkeit erklingen die »Posaunen« alsbald auch bei den Brüdern und Schwestern in Übersee. In manchen Gemeinden spielt der Posaunenchor bis heute noch in jedem Gottesdienst.

Jünglinge und Missionare

Auch wenn die Herrnhuter zweifellos Pionierdienste leisten, die eigentlichen Quellen einer sich über ganz Deutschland ausbreitenden Posaunenwelle sprudeln nicht in der Oberlausitz, sondern in Westfalen sowie in Niedersachsen. Eine flächendeckende evangelische Posaunenarbeit bildet sich erst im engen Verbund mit der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts heraus. Kennzeichen eines »erwecklichen« Glaubenslebens sind die persönliche Bekehrung sowie eine bewusst auf das Evangelium ausgerichtete Lebensführung. Die vielerorts entstehenden Bläserchöre festigen diese neue Frömmigkeit. Pietismus und Posaunenarbeit streben im Gleichschritt nach geistlicher Erneuerung.

Es gibt zwei große, selbstständige Entstehungszentren der Posaunenbewegung: zum einen die evangelischen »Jünglingsvereine« in Ostwestfalen-Lippe (die Vorläufer des CVJM), zum anderen die Hermannsburger Missionare in Niedersachsen. Der erste »Posaunenchor« wird 1843 im ostwestfälischen Jöllenbeck gegründet – heute ein Stadtbezirk Bielefelds. Der erste »Posaunenverein« hingegen entsteht in der Lüneburger Heide. 1849 wird ein auf Initiative von Theodor Harms im Hermannsburger Missionshaus gegründeter Singchor mit Blechblasinstrumenten ausgestattet. Sowohl die westfälischen »Posaunenchöre« als auch die niedersächsischen »Posaunenvereine« werden zum Modell für das übrige Deutschland.

Der Posaunenwind weht hierzulande also je nach Region entweder aus Westfalen oder aus Niedersachsen. Nach Forschungen des Theologen Wolfgang Schnabel gehen die jeweils ältesten Bläserchöre in Lippe, im Rheinland, in Hessen, in Schlesien, in Sachsen, in Hamburg, in Württemberg, in der Schweiz, in Baden und in Ostpreußen auf die Jünglingsvereine des Minden-Ravensberger Landes zurück. Die jeweils ältesten Chöre in Mecklenburg, in Bayern, in Oldenburg, in Braunschweig und in Schleswig-Holstein verdanken indes ihre Entstehung dem Hermannsburger Missionswerk. 1880 gibt es im Deutschen Reich bereits rund 160 Posaunenchöre mit insgesamt 2000 Bläsern. Und bereits 1933 kann »Posaunengeneral« Johannes Kuhlo voller Stolz feststellen: »Gott hat die Posaunenmission mit einem freundlichen Krescendo gesegnet. An die 30 000 Bläser verkünden in den christlichen Posaunenchören sein Lob.«

Heute vertritt der »Evangelische Posaunendienst in Deutschland« (EPiD e.V.) – als gemeinsame Dachorganisation von 29 eigenständigen Werken und Verbänden – knapp 7000 Posaunenchöre mit insgesamt über 120 000 Bläserinnen und Bläsern. Zum EPiD gehören selbstverständlich auch die Herrnhuter Brüdergemeinde (eigentlich »Brüdergemeine« genannt), aber auch die Posaunenchöre des Elsass – die »Association des Fanfares d’Eglise«. Und nicht nur Herkunft und Auftrag trennen das kirchliche vom nichtkirchlichen Blech. Auch die Besetzung ist im Vergleich etwa zu den Militärmusikkapellen oder anderen großen Amateurmusikensembles eine andere: Posaunenchöre sind reine Blechbläserensembles.

Posaunenväter

Dass sich so zahlreiche »Posaunen« in den Dienst des 150. Psalm stellen, ist gewiss das Verdienst vieler. Die Bewegung als Ganzes wird jedoch vor allem von drei herausragenden Persönlichkeiten geprägt. Zunächst vom »Posaunengeneral«, »Reichsposaunenwart« und später leider auch »Reichsposaunenführer« genannten Johannes Kuhlo sowie vom sächsischen »Posaunenvater« Adolf Müller. Und nach dem Zweiten Weltkrieg ist es insbesondere Wilhelm Ehmann – Professor an der Kirchenmusikschule Herford – der sich als Theoretiker und Praktiker kirchlicher Bläserarbeit einen Namen macht.

Johannes Kuhlo, Adolf Müller, Wilhelm Ehmann und noch so manch anderer mehr gelten als Posaunenväter. »Posaunenmütter« sind indes nicht vorgesehen. Bis 1945 bleiben Posaunenchöre reine (Jung)Männerbünde. Eine Ausnahme bilden in den 1920er Jahren die rein weiblich besetzten Posaunenchöre einiger Diakonissen-Häuser. Seitens der Posaunenwarte wird jedenfalls noch bis in die 1960er Jahre hinein gegen das »Mädchenblasen« polemisiert. Man warnt ganz allgemein vor »Zersetzungserscheinungen«, befürchtet insbesondere »sexualethische Probleme« und traut dem »schwachen Geschlecht« ganz allgemein keine »erwecklich« kraftvollen Töne zu. Irgendwann gerät »Mann« dann aber doch in Zugzwang, sodass nunmehr ganz selbstverständlich sowohl Mädchen und Jungen als auch Frauen und Männer im Posaunendienst stehen. Inzwischen ist wohl ein Fünftel aller Posaunenchorler weiblich. Dementsprechend gibt es nicht mehr nur Landesposaunenwarte, sondern auch Landesposaunenwartinnen.

Um den geistlichen Bläserauftrag in Verbindung zur Heilsgeschichte zu bringen, listet Johannes Kuhlo alle biblischen Trompeten-, Posaunen- und Hörnerstellen auf: Im Alten Testament sind es 65, in den Apokryphen 13 und im Neuen Testament 20. Seinen ersten glänzenden Auftritt hat das Blech demnach bei Moses. Doch der erste »Posaunenchor« erklingt erst in Jerusalem zu Zeiten König Davids. Nach der Zerstörung des Tempels durch die Römer folgt sodann eine 2000-jährige Generalpause – bis jene Jöllenbecker Erweckungsposaunisten das Schweigen der Bläser beenden.

Im »Posaunenchor« oder »Posaunenverein« kann auf die »Posaune« als Instrument notfalls verzichtet werden, nicht jedoch auf den Begriff. Denn Herkunft und Auftrag sind allemal wichtiger als die Besetzung. Schließlich ist es in der Lutherübersetzung stets die Posaune, die Entscheidendes zu verkünden hat. So heißt es etwa im 1. Thessalonicher 4,16 »Denn er selbst, der Herr wird, wenn der Befehl ertönt, wenn die Stimme des Erzengels und die Posaune Gottes erschallen, herabkommen vom Himmel, und zuerst werden die Toten, die in Christus gestorben sind, auferstehen«. Der Apostel jedoch konnte die Posaune, die erst rund eineinhalb Jahrtausende später erfunden wird, noch gar nicht kennen. In der griechischen Urfassung dieses Paulusbriefs ist denn auch von der »Salpinx« die Rede – der altgriechischen Trompete . Im Alten Testament ist indes zumeist der Schofar gemeint – ein Widderhorn. »Schon innerhalb der Bibel«, so Nils Niemann, »hat sich also die Vorstellung der ›Posaune Gottes‹ von dem ursprünglichen Instrument, dem Schofar, gelöst. Paulus veranschaulicht den Klang der ›Posaune Gottes‹ durch ein mächtiges Blasinstrument seiner Tage.« Und Luther wiederum verwandelt die Salpinx in die Posaune – in ein imposantes Instrument seiner Zeit.

Dass Luther bei seiner Bibelübersetzung das antike Lobpreis-Instrumentarium zumeist durch die Posaune ersetzt, kommt den Posaunenvätern jedenfalls sehr gelegen. Die Bewegung lechzt geradezu nach biblischer Legitimation, geht es doch weniger ums Musizieren, sondern vielmehr ums Missionieren. Und bei der Verkündigung des Evangeliums ist das Wort allemal wichtiger als die Noten. Daher soll der Bläserchor dem Klang eines Vokalchores möglichst nahekommen.

Kuhlo-Klang

Johannes Kuhlo, der sich selbst als »Mitarbeiter am Psalm 150« bezeichnet, erhält übrigens bereits als 25-Jähriger von seinen Bläserkollegen den Beinamen »Posaunengeneral«. In beinahe allen »Posaunen-Fragen« vermag dieser »Spielmann Gottes« – wie Ehmann ihn später nennen wird – prägenden Einfluss zu entfalten. Musiziert wird, um zu missionieren. Daher wird anfangs auch eine ganz bestimmte Spielweise bevorzugt. Kuhlos Ideal lautet: »Je näher der Klang eines Instruments der menschlichen Stimme kommt, umso angenehmer und wertvoller ist es.«

Um das Blech zum »Singen« zu bringen, sind Flügelhorn, Tenorhorn, Bariton, Tuba und natürlich auch das Waldhorn wegen ihres weichen Klangs erste Wahl. Die Posaune wird eher geduldet denn geliebt. Die Trompete jedoch, mit ihrem harten, kompromisslos-klaren Klang will fast ein Jahrhundert lang niemand so recht ins »Posaunengebet« mit einschließen. »Wenn ich die Wahl habe«, bekennt Johannes Kuhlo freimütig, »so nehme ich doch nicht die Schreihälse von Sperlingen«, die Trompeten. Auch von den immer gleich so »scharf loslegenden Finken«, den Kornetts oder Pistons, will er nichts wissen und vor allem nichts hören. Die wahren Gesangsköniginnen – die »Nachtigallen« unter den Blechblasinstrumenten – sind für Kuhlo die Flügelhörner. Er selbst bevorzugt eine eiförmige Sonderform – das von ihm mitentwickelte und nach ihm benannte »Kuhlohorn«.

Desgleichen werden nur noch Instrumente in B-Stimmung zugelassen. »Es ist mir«, so Kuhlo voller Stolz, »ein Vierteljahrhundert darum kämpfend, mit Gottes Hilfe gelungen, in Minden-Ravensberg die Trompeten, Pistons, Ventilposaunen, F- und Es-Tubas fast ganz zu verdrängen (und wo sich solch unheilvolles Instrument blicken läßt, wird es gleich in die letzte äußerste Ecke gestellt).«

Für ein spätromantisches Klangbild plädiert auch der sächsische Posaunenvater Adolf Müller: »Wir blasen gesangliche Musik. Unser Blasen ist darum dem Singen vielmehr verwandt. Wir müssen auf unseren Instrumenten gleichsam singen . . . Wenn man bei jedem unserer Choräle den Eindruck hat, dass man den Text zu hören glaubt, dann erreichen wir unser Ziel, dann blasen wir erbaulich.« Und selbst wenn es um den Übungsfleiß geht, wird gern geistlich argumentiert. So heißt es 1954 in einer Hermannsburger Posaunenfestschrift: »Gott schenkt niemals, ohne zugleich auch zu fordern.«

Dieses Klangideal – das auch das berühmte Kuhlo-Horn-Sextett über Jahre vorexerziert – prägt Generationen von Bläsern. Nach 1945 kommt jener typische Kuhlo-Klang nach und nach aus der Mode. Kirchenmusikprofessor Wilhelm Ehmann bezeichnet ihn 1950 als »tutig« und »schwerfällig«. Für den Mentor der Posaunenbewegung der Nachkriegszeit bilden nunmehr Trompeten in Sopran und Alt sowie Posaunen in Tenor und Bass die Idealbesetzung. Und auch in der Posaunenchorliteratur öffnet man sich nicht nur der weltlichen Musik, sondern der Moderne überhaupt. »Das Blasen«, so Ehmann, »muß aufhören, ausschließlich eine Kunst des Nachahmens zu sein; es sollte sich die eigenständige Bläsermusik wieder erschließen.«

Trotz aller Neuerungen, so der Kirchenhistoriker Harald Schroeter-Wittke, hebe sich der traditionell weichere Klang der Posaunenchöre bis heute immer noch wohltuend vom »Tschingdarassabumm« der meisten Militär-, Feuerwehr- und Schützenkapellen ab.

Kuhlo-Notation

Welche Dynamik die Posaunenbewegung binnen weniger Jahrzehnte entfaltet, wird auch daran sichtbar, dass es frühzeitig zu einer wahren Notenflut kommt, die seither auch nicht mehr abebben will. Der Theologe und Posaunenwart Horst Dietrich Schlemm berichtet in seinen »Beiträgen zur Geschichte evangelischer Posaunenarbeit«, dass sich bereits 1910 erste Stimmen gegen diese »Noten-Sintflut« erheben. Heute steht allein dem Verlag »buch & musik« des Evangelischen Jugendwerks in Württemberg ein Fundus von 13 000 Datensätzen und 280 Notenbüchern zur Verfügung – Bläserliteratur von mehr als 1000 Komponisten.

Kuhlo sei Dank ist die gesamte Posaunenchorliteratur durchgehend in »Klavierschreibweise« – auch »C-Notation« genannt – verfasst. Es ist schon ein pädagogischer Geniestreich, dass Bläser, Vokalchor, Orgel und Gemeinde nunmehr problemlos miteinander musizieren können. Denn die Kuhlo-Notation stellt sicher, dass Notation und Klang stets eine Einheit bilden. Das gilt jedoch nur für das kirchliche Blech. In sinfonischen Orchestern oder Blechbläserensembles ist das ganz anders. Hier werden speziell die Trompeten- und Hornstimmen nicht »klanggerecht«, sondern »griffgerecht« notiert. Ein notiertes »C« beispielsweise hat dann zwar immer den gleichen Griff, doch der Klang hängt jeweils von der Grundstimmung des Instruments ab. Ein notiertes »C« klingt daher nur bei Verwendung einer C-Trompete auch als »C«. Nur hier stimmen Griff- und Klangschreibweise ausnahmsweise überein. Nimmt der Trompeter beispielsweise eine B- oder D-Trompete zur Hand, so ist durch die Grundstimmung des Instruments jeweils das Intervall vorgegeben, nach dem das notierte »C« klanglich transponiert wird. Auf der B-Trompete erklingt das notierte »C« als »B« – es wird also automatisch um einen Ton tiefer transponiert. Auf der D-Trompete hingegen erklingt das notierte »C« als »D« – es wird also um einen Ton höher transponiert. Der Griff bleibt immer gleich, gewechselt wird jeweils nur das Instrument. Und dessen Grundstimmung entscheidet sodann darüber, wie ein notiertes »C« klingt.