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»Wie weiter mit …?«

Unter dieser Fragestellung werden die Werke von acht der wichtigsten Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler des 19. und 20. Jahrhunderts einer »Aktualitätsprüfung« unterzogen. Können, sollen, müssen wir deren Blick auf soziale Phänomene heute noch teilen?

Das Hamburger Institut für Sozialforschung lud 2007 im Rahmen einer Vortragsreihe namhafte deutsche Wissenschafter ein, Werke von Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Émile Durkheim, Michel Foucault, Sigmund Freud, Niklas Luhmann, Karl Marx und Max Weber neu und wieder zu lesen. Die so entstandenen Texte nehmen vernachlässigte Denkansätze in den Fokus, bieten unverhoffte Neuinterpretationen und ermöglichen eine anregende Wiederbelebung mit dem sozialwissenschaftlichen Kanon.

Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.)

Wolfgang Bonß

Wie weiter mit
Theodor W. Adorno?

Hamburger Edition

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Mittelweg 36
20148 Hamburg
www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2016 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-682-8
Umschlagfoto: Jjshapiro at en.wikipedia
via Wikimedia Commons

© 2008 by Hamburger Edition (Print)
Gestaltung: Jan Enns/Wilfried Gandras

Die Frage »Wie weiter mit Adorno?« ist weder einheitlich noch eindeutig zu beantworten – dagegen spricht schon die Breite des Adornoschen Werkes, aber auch die Vielfalt der Rezeptionsgeschichte. Denn Theodor Wiesengrund Adorno, geboren 1903 in Frankfurt und 1969 während eines Urlaubs in der Schweiz verstorben, war nicht nur Philosoph und Soziologe. Er arbeitete ebenso als Musiktheoretiker und Komponist und war auf allen Gebieten höchst produktiv. Sein publiziertes Werk umfasst bislang 20 Bände mit mehr als 10000 Druckseiten. Hinzu kommt ein Nachlass, der noch einmal auf 16 Bände veranschlagt wird und sich ebenfalls auf die gesamte Bandbreite der Kultur- und Sozialwissenschaften bezieht. Dass man diesem beeindruckenden Werk im Rahmen eines Essays nicht gerecht werden kann, versteht sich von selbst. Aber mit dieser eingrenzenden Fragestellung tritt uns Adorno glücklicherweise nicht in seiner vollen Breite entgegen. Er interessiert vielmehr in einer eingeschränkten Perspektive, nämlich allein und ausschließlich unter dem Gesichtspunkt seiner gesellschaftstheoretischen Aktualität.

Was also bleibt von Adorno als Soziologe und Gesellschaftstheoretiker? Aus der Fokussierung auf die Aspekte Soziologie und Gesellschaftstheorie ergeben sich zwangsläufig Selektivitäten. So werde ich Adorno weniger als Philosoph und Musiktheoretiker behandeln. Zwar sind diese Aspekte für seine soziologisch-gesellschaftstheoretischen Überlegungen durchaus von Bedeutung, aber sie stehen dort nicht im Zentrum und sind nur insofern zu berücksichtigen, als sie zur Beantwortung der folgenden Fragen beitragen: Inwiefern sind Adornos Thesen zu den Formen und Möglichkeiten sozialwissenschaftlicher Erkenntnisbildung, zur Charakterisierung der modernen Gesellschaft sowie zur »Dialektik der Aufklärung« noch aktuell? Wo und wie werden diese Thesen in den heutigen Diskussionen aufgegriffen? Wo bieten sich darüber hinaus in theoretischer Hinsicht Anknüpfungspunkte, und welche Rolle können seine Argumentationen unter den Bedingungen einer globalisierten Moderne überhaupt spielen?

Fragen dieser Art sind nicht neu, sondern werden seit längerem gestellt, so in dem von Georg Kohler und Stefan Müller-Dohm herausgegebenen Sammelband »Wozu Adorno? Beiträge zur Kritik und zum Fortbestand einer Schlüsseltheorie des 20. Jahrhunderts«. Vor fünf Jahren gab es sogar eine wahre Publikationsflut zum Thema. Anlass war der 100. Geburtstag des »Meisters«. Laut Gustav Auernheimer hat dieser Gedenktag mehr publizistische Wellen geschlagen als der 250. Geburtstag Goethes 1999 oder der 100. Todestag Nietzsches im Jahre 2000.1 Die Feuilletons der großen Tageszeitungen veröffentlichten etliche Artikel zu Adornos Leben und Werk und zugleich erschienen drei mehr oder weniger abschließende Biographien von Detlev Claussen, Stefan Müller-Dohm und Lorenz Jäger.2 Und schließlich fanden allein im deutschsprachigen Raum mindestens fünf Tagungen von überregionaler Bedeutung – zwei in Frankfurt am Main, eine in Freiburg, eine in Bremen und eine (nach wie vor unpublizierte) in Salzburg statt. Allerdings waren diese Tagungen keineswegs ergänzend – im Gegenteil. Sie nahmen sich wechselseitig zum Teil gar nicht wahr und zielten auch nicht unbedingt auf die Rekonstruktion eines übergreifenden Adorno-Bildes, sondern feierten jeweils »ihren« Adorno (oder auch nur sich selbst). Dass dies nicht unbedingt die beste Voraussetzung für eine Reaktualisierung Adornos war, ist naheliegend. Im Nachhinein werden die Folgen der Jubiläumsfeiern auch eher skeptisch beurteilt. So schreibt Georg Auernheimer: »Fast entsteht der Eindruck, dass mit der Feier von Adornos Geburtstag die Aktualität seiner Theorie symbolisch erledigt werden soll.«3 Ähnlich argumentiert Axel Honneth, wenn er feststellt: »Theodor W. Adorno [...] wurde anlässlich seines 100. Geburtstags zum kollektiven Über-Ich der Nation erhoben« – allerdings »um den Preis der beinahe vollständigen Ignorierung seines theoretischen Ichs«.4 Oder anders ausgedrückt: Adornos Gedanken werden qua Musealisierung zum Verschwinden gebracht, wobei er weder der Erste noch der Einzige ist, dem so etwas widerfährt; Karl Marx beispielsweise wird in ähnlicher Weise zitiert und zugleich vergessen, und vielleicht ist es ja auch eine durchaus typische Strategie, die nach wie vor aktuell, aber »irgendwie« auch veraltet zu sein scheint.

Gleichwohl ist die Geschwindigkeit des Bedeutungsverlusts im Falle Adornos bemerkenswert. Obwohl er zum Zeitpunkt seines Todes der wohl wichtigste und einflussreichste Vertreter der Kritischen Theorie seiner Generation war, spielte er wenige Jahre später jenseits des Feuilletons kaum noch eine Rolle. Dies war in mancher Hinsicht den Spezifika des Wissenschaftssystems geschuldet und hatte in diesem Sinn auch wissenschaftsorganisatorische Gründe. So arbeiteten die Schüler Adornos oft außerhalb des etablierten Wissenschaftsbetriebs. Ihre akademischen Netzwerke waren vergleichsweise schwach entwickelt, und vor diesem Hintergrund wurde Adornos theoretisches Erbe in mancher Hinsicht regelrecht verschleudert. Schon die Wiederbesetzung seines Lehrstuhls erfolgte beispielsweise in einer ganz anderen Tradition (und letztlich unter Wert). Darüber hinaus verloren seine Argumentationen ungeachtet seiner Stilisierung zu einem »Klassiker« auch deshalb an Bedeutung, weil weder Adorno noch die meisten seiner Schüler gesteigerten Wert darauf legten, ihre eigenen Gedanken in andere sozialwissenschaftliche Sprachspiele zu übersetzen; als Ausnahme ist hier allein Jürgen Habermas zu nennen, der aber genau deshalb von manchen Erben in Hannover, Lüneburg und anderswo zur Persona non grata erklärt wurde.

Aber es sind nicht nur wissenschaftsorganisatorische Gründe, die Adorno eher an den Rand, wenn nicht darüber hinaus gedrängt haben. Es liegt auch an der Spezifik eines Denkens, das quer zu den sozialwissenschaftlichen Einzeldisziplinen stand und sich selbst als unabschließbar begriff. So schrieb Adorno in der »Negativen Dialektik«: Philosophie, so wie er sie betreibe, sei »wesentlich nicht referierbar«.5