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»Wie weiter mit …?«

Unter dieser Fragestellung werden die Werke von acht der wichtigsten Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler des 19. und 20. Jahrhunderts einer »Aktualitätsprüfung« unterzogen. Können, sollen, müssen wir deren Blick auf soziale Phänomene heute noch teilen?

Das Hamburger Institut für Sozialforschung lud 2007 im Rahmen einer Vortragsreihe namhafte deutsche Wissenschafter ein, Werke von Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Émile Durkheim, Michel Foucault, Sigmund Freud, Niklas Luhmann, Karl Marx und Max Weber neu und wieder zu lesen. Die so entstandenen Texte nehmen vernachlässigte Denkansätze in den Fokus, bieten unverhoffte Neuinterpretationen und ermöglichen eine anregende Wiederbelebung mit dem sozialwissenschaftlichen Kanon.

Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.)

Rahel Jaeggi

Wie weiter mit
Hannah Arendt?

Hamburger Edition

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Mittelweg 36

20148 Hamburg
www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2016 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-684-2
Umschlagfoto: akg-images / picture-alliance /
Fred Stein

© 2008 by Hamburger Edition (Print)
Gestaltung: Jan Enns/Wilfried Gandras

Wie weiter mit Hannah Arendt? Stellt man sich diese Frage, so stößt man sehr schnell auf eine ganz andere Frage, auf die Frage nämlich: »Wie überhaupt anfangen mit Hannah Arendt?« So lässt sich konstatieren, dass Arendts politische Philosophie zwar in einer ganzen Reihe von zeitgenössischen Theorien und theoretischen Diskursen (von Giorgio Agamben zu Jacques Rancière, von Jürgen Habermas zu Seyla Benhabib) eine teils eingestandene, teils uneingestandene Wirkung entfaltet hat. Dennoch muss man feststellen, dass es um sie gerade in der deutschen Diskussion nach ihrer emphatischen Entdeckung zu Beginn der 1990er Jahre heute wieder eher still geworden ist. War nämlich Hannah Arendt angesichts der Transformationsprozesse in Osteuropa geradezu zur Ikone der Freiheit und des politischen Neuanfangs gemacht worden, so hat das Interesse an ihr etwas nachgelassen, seit sich aus dem heroischen Kampf für Freiheit das etwas weniger heroische Problem der Lohn- und Standortkonkurrenz entwickelt hat. Und war Arendts Totalitarismustheorie wichtig für die kritische Selbstverständigung einer orientierungslos gewordenen Linken, so war die neue Emphase, die diese aus Arendts Theorie politischen Handelns schöpfte, nicht von langer Dauer.

Etwas verkürzt lässt sich behaupten: Es ist die »Wiederkehr der sozialen Frage« im nationalen wie im internationalen Maßstab, die zu dieser Situation geführt hat; es sind die etwas unscharf unter dem Stichwort der »Globalisierung« diskutierten Veränderungen des sozialen und politischen Gefüges unserer Gesellschaften und die mit dem »neuen Kapitalismus« einhergehenden Umbrüche, die das politische Wahrnehmungsfeld wieder erreicht haben und die dazu geführt haben, dass Hannah Arendts politische Theorie heute erneut in den Hintergrund getreten ist. Machte man sich noch Mitte der 1990er Jahre schon mit der Verwendung des Begriffs »Kapitalismus« des linken »Ökonomismus« verdächtig, dessen sich einige gerade mit Hilfe von Hannah Arendt entledigt hatten, so wird heute niemand mehr ernsthaft bestreiten wollen, dass Wirtschaft und Gesellschaft, ökonomische, soziokulturelle und politische Dimensionen des sozialen Gefüges miteinander auf eine Weise verflochten sind, die es ratsam erscheinen lässt, sie in ihrem Zusammenhang zu analysieren. Eine Erneuerung der Kritik der politischen Ökonomie, wie Albrecht Wellmer sie unlängst gefordert hat, und nicht das aristotelische Festhalten an der »Trennung von Brot und Politik« (Benhabib) scheint so das Gebot der Stunde zu sein. Genau für diese Aufgabe aber wird man sich vom Werk Hannah Arendts kaum Unterstützung versprechen.

Mit ihrer umstrittenen Unterscheidung zwischen dem Politischen und dem Gesellschaftlichen und der damit zusammenhängenden Ambivalenz gegenüber der sogenannten »sozialen Frage« scheint nämlich Arendt die Analyse (oder gar Kritik) der gegenwärtig drängenden Probleme geradezu zu verstellen. Und tatsächlich kann sich der (fast schon möchte man sagen) Standardeinwand, Arendts Denken sei elitär und nostalgisch am Ideal der antiken polis-Demokratie ausgerichtet, ihre politische Philosophie deshalb unfähig, die für eine moderne Gesellschaft relevanten sozialen Konflikte zu thematisieren, auf einige charakteristische Züge ihres Denkens berufen.