image

»Wie weiter mit …?«

Unter dieser Fragestellung werden die Werke von acht der wichtigsten Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler des 19. und 20. Jahrhunderts einer »Aktualitätsprüfung« unterzogen. Können, sollen, müssen wir deren Blick auf soziale Phänomene heute noch teilen?

Das Hamburger Institut für Sozialforschung lud 2007 im Rahmen einer Vortragsreihe namhafte deutsche Wissenschafter ein, Werke von Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Émile Durkheim, Michel Foucault, Sigmund Freud, Niklas Luhmann, Karl Marx und Max Weber neu und wieder zu lesen. Die so entstandenen Texte nehmen vernachlässigte Denkansätze in den Fokus, bieten unverhoffte Neuinterpretationen und ermöglichen eine anregende Wiederbelebung mit dem sozialwissenschaftlichen Kanon.

Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.)

Heinz Bude

Wie weiter mit

Karl Marx?

Hamburger Edition

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Mittelweg 36
20148 Hamburg
www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2016 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-694-1
Umschlagfoto: Wikimedia Commons

© 2008 by Hamburger Edition (Print)
Gestaltung: Jan Enns/Wilfried Gandras

Im Jahre 1942 veröffentlichte der damals 32 Jahre alte Paul Sweezy in den USA ein Buch mit dem Titel »Theorie der kapitalistischen Entwicklung«, in dem er die gesamte Geschichte der sich auf Marx berufenden Debatten über die Bewegungsgesetze des Kapitalismus resümierte. Er bezog sich auf Lenins »Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland« (1896–1899), auf Kautskys Überlegungen zur »Agrarfrage« (1899), beschrieb die Entwicklung, die mit Rudolf Hilferdings bedeutendem Werk über das »Finanzkapital« (1910), Rosa Luxemburgs Analyse »Die Akkumulation des Kapitals« (1913), und Nikolai Bucharins Abhandlung »Imperialismus und Weltwirtschaft« (1915) gekennzeichnet werden konnte, und ordnete die Arbeiten von Fritz Sternberg »Der Imperialismus« (1926), von Henryk Grossmann »Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems« (1929) und Otto Bauer »Zwischen zwei Weltkriegen?« (1936) ein, die allesamt das Rätsel der als Imperialismus bezeichneten Stufe der kapitalistischen Entwicklung zu entschlüsseln trachteten.

Das dann 1970 in der Intellektualisierungsphase der Studentenbewegung bei Suhrkamp in deutscher Übersetzung erschienene Buch1 ist nicht nur wegen seiner mustergültigen Klarheit zu rühmen, es handelt sich bei dieser unter dem Eindruck des New Deals in den USA geschriebenen Rekonstruktion um die wohl erste aus dem marxistischen Lager kommende Absetzung von der Marxschen Krisenauffassung, derzufolge Disproportinalitäts- und Unterkonsumptionskrisen im Rahmen der kapitalistischen Wirtschaftsweise unüberwindlich seien. Sweezy gestand der von Keynes begründeten Strategie antizyklischer Staatseingriffe eine mögliche Wirksamkeit für die Sicherung der inneren Stabilität der kapitalistischen Entwicklung zu und überantwortete die Auflösung und Überwindung des Kapitalismus einer externen Determinante: nämlich der größeren ökonomischen Durchsetzungskraft der Sowjetunion und der Länder, von denen man erwarten konnte, dass sie bei Kriegsende dem leuchtenden sowjetischen Beispiel folgen würden. Deren »Überzeugungskraft« könnte für Sweezy sogar einen friedlichen Übergang zum Sozialismus in den USA möglich machen.

Mit dieser Auffassung, dass der Kapitalismus nicht an seinen endemischen Widersprüchen, sondern an der Überzeugungskraft einer sozialistischen Alternative zugrunde gehen würde, bezeichnete »Die Theorie der kapitalistischen Entwicklung«, so Perry Anderson in seiner nach wie vor lesenswerten Schrift aus der Mitte der 1970er Jahre »Über den westlichen Marxismus«,2 das Ende eines intellektuellen Zeitalters.

Heute können wir das Ende dieses Endes konstatieren. Was Sweezy 1942 vor Augen stand, war einerseits die Etablierung der Sowjetunion als großer weltpolitischer Alternative zu den USA, was sich am Ende des Zweiten Weltkriegs bewahrheitete, und andererseits die Entwicklung des reinen besitzindividualistischen zu einem wohlfahrtsstaatlichen, auf garantiertem Sozialeigentum sich gründenden Kapitalismus. Schweden, Deutschland, aber im Grunde die gesamte OECD-Welt belegen diese Transformation des Kapitalismus im Kapitalismus. Beide Entwicklungen gehören zweifellos dem 20. Jahrhundert an, das wir hinter uns gelassen haben. Sicher jedenfalls ist der definitive Untergang des Sozialismus sowjetischen Typs, in Frage steht freilich, ob nicht auch der koordinierte Kapitalismus der Nachkriegszeit Geschichte geworden ist.

Wir haben heute das Ende der tragischen Illusion einer großen Alternative zum Kapitalismus zu verstehen, die, wie François Furet mit aufwühlender Folgerichtigkeit dargelegt hat, sich dem Hass des Bürgers auf sich selbst verdankte.3 Stalin war mit seiner Politik des Verrats der teuflische Dirigent dieses bürgerlichen Selbsthasses. Es durfte nicht sein, dass heroische Arbeiteraufstände wie beispielsweise der Hamburger von 1923 nur eine Inszenierung für ganz andere Zwecke gewesen waren, denn wer die kommunistische Partei einer solch bösartigen Intrige beschuldigte, arbeitete nur dem Klassenfeind in die Hände, der doch am Ende (»Wer vom Kapitalismus schweigt, darf vom Faschismus nicht reden«) ein Regime des Mordes und des Krieges zu verantworten hatte.