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»Wie weiter mit …?«

Unter dieser Fragestellung werden die Werke von acht der wichtigsten Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler des 19. und 20. Jahrhunderts einer »Aktualitätsprüfung« unterzogen. Können, sollen, müssen wir deren Blick auf soziale Phänomene heute noch teilen?

Das Hamburger Institut für Sozialforschung lud 2007 im Rahmen einer Vortragsreihe namhafte deutsche Wissenschafter ein, Werke von Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Émile Durkheim, Michel Foucault, Sigmund Freud, Niklas Luhmann, Karl Marx und Max Weber neu und wieder zu lesen. Die so entstandenen Texte nehmen vernachlässigte Denkansätze in den Fokus, bieten unverhoffte Neuinterpretationen und ermöglichen eine anregende Wiederbelebung mit dem sozialwissenschaftlichen Kanon.

Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.)

Ulrich Bielefeld

Wie weiter mit
Max Weber?

Hamburger Edition

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Mittelweg 36

20148 Hamburg
www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2016 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-696-5
Umschlagfoto: Wikimedia Commons

© 2008 by Hamburger Edition (Print)
Gestaltung: Jan Enns/Wilfried Gandras

Die »Gründerväter« der Soziologie und Gesellschaftstheorie bilden eine Autorentrias: Karl Marx, Max Weber und Émile Durkheim. Der Bezug auf einen oder mehrere ermöglicht es in den Sozialwissenschaften, sich trotz umstrittener methodologischer Ausgangspunkte und nicht geteilter theoretischer Grundannahmen gegenwärtig zu situieren und Legitimität für eigene Aussagen zu gewinnen. So bezieht sich etwa der Neofunktionalismus auf Émile Durkheim, die historische Soziologie auf eine weberianische Tradition. Die Soziologie als Wissenschaft der (Gegenwarts-)Gesellschaft rekurriert also häufig auf Autoren, deren Arbeiten vor mehr als 100 Jahren entstanden sind und deren Autorität durch beständige Bezugnahme über die Zeit weiter anwächst. Sie gehören daher nicht nur zur Ideengeschichte des Fachs, wie dies etwa für die Klassiker der Naturwissenschaften gilt, sondern das Studium ihrer Werke, die Erneuerung ihrer Konzepte und ihre Reinterpretation sollen zu einem tieferen Verständnis der Gegenwart beitragen, ein Bezug auf ihre Arbeiten soll Ernsthaftigkeit und Professionalität signalisieren und die Legitimität des Sprechers erhöhen. Ja, im Falle von Marx konnte und im Falle von Weber kann noch immer ein systematischer Bezug oder eine Reinterpretation als aktuell hinreichend behauptet und anerkannt werden und Spezialisten für bestimmte Klassiker können versuchen, ein Interpretationsmonopol durchzusetzen.

Jede Kanonisierung von Klassikern ist umstritten. Namen können hinzugefügt werden – zur genannten Trias etwa der Georg Simmels –, oder es kann über die Streichung eines Namens debattiert werden. Im Falle Max Webers lässt sich jedoch eine bemerkenswerte internationale Einigkeit beobachten, sein Werk sowohl für die Begründung der soziologischen Perspektive als auch für ihre gegenwärtige Gestaltung als bedeutend anzusehen. Der große thematische und materielle Umfang, die Unabgeschlossenheit des Werkes und die gleichzeitige rigorose Anstrengung, eine exakte Begrifflichkeit auszubilden, ermöglichen prinzipiell zwei verschiedene Umgangsformen mit dem Werk: Man konnte und kann es als Steinbruch nutzen oder systematisch interpretieren und eine »verstehende Soziologie«, eine kulturvergleichende Sozialwissenschaft, eine historische Soziologie, eine rationale Handlungstheorie, eine neoweberianisch inspirierte Sozialgeschichte anschließen, ein Weber-Paradigma oder zumindest ein an ihn anschließendes Forschungsprogramm herausarbeiten. Weberianismus also an vielen Orten, negativ oder positiv gewertet, nicht selten mit bemerkenswerten Resultaten, wie etwa in der Studie Karlheinz Schneiders zu »Judentum und Modernisierung«.

Klassiker gehören in der Soziologie – dies gilt für Max Weber in besonderem Maße – also nicht nur zur Ideengeschichte des Fachs, sondern zur Gegenwart der wissenschaftlichen Diskussion und Arbeit. Ihr Werk wird zur Analyse der heutigen Gesellschaft benutzt und muss sich daran bewähren, was es zu deren Verständnis beiträgt. »Max Weber heute« – Texte und Bücher müssen sich in diesem Kontext verorten lassen und weniger in dem Streit darüber, wem dieser »internationale Heilige der deutschen Gelehrsamkeit« nun gehöre.1 Gerade Max Weber kann dabei als eine Erfindung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschrieben werden, benutzt in den symbolischen und konkreten ideologischen Kämpfen und Auseinandersetzungen. Nicht nur das Werk entsteht als zugängliches und gebündeltes postum, sondern auch die Soziologie Webers ist eine, die erst im Anschluss formuliert wurde.

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