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Zygmunt Bauman
Moderne und
Ambivalenz

Das Ende der Eindeutigkeit

Aus dem Englischen
von Martin Suhr

Hamburger Edition

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung

Mittelweg 36

20148 Hamburg

www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2016 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-901-0

© 1992, Neuausgabe 2005, 2. Aufl. 2012 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-936096-52-1

© der Originalausgabe 1991 by Zygmunt Bauman

First published 1991 by Politiy Press

Titel der Originalausgabe: »Modernity and Ambivalence«

Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras

Typografie und Herstellung: Jan Enns

Satz aus Amsterdamer Garamont und Frutiger von Dörlemann Satz, Lemförde

Inhalt

Danksagung

Einleitung: Die Suche nach Ordnung

Der Skandal der Ambivalenz

Der Traum der gesetzgebenden Vernunft

Der Staat als Gärtner

Gärtnerische Ambitionen und der Geist der Moderne

Wissenschaft, rationale Ordnung, Genozid

Über Inhumanität berichten

Die gesellschaftliche Konstruktion der Ambivalenz

Die Angst vor dem Unbestimmten

Der Kampf gegen das Unbestimmte

Mit der Unbestimmtheit leben

Die Verlagerung der Last

Die Selbsterzeugung der Ambivalenz

Ausschluß in die Objektivität

Exkurs: Franz Kafka oder Die Wurzellosigkeit der Universalität

Die neolithische Revolution der Intellektuellen

Die Universalität der Wurzellosigkeit

Die Bedrohung und die Chance

Eine Fallstudie zur Soziologie der Assimilation I: In der Falle der Ambivalenz

Der Fall der deutschen Juden

Die Modernisierungslogik der jüdischen Assimilation

Die Dimensionen der Einsamkeit

Das wirkliche Deutschland imaginieren

Scham und Verlegenheit

Die inneren Dämonen der Assimilation

Unbeglichene Rechnungen

Das Assimilationsprojekt und Strategien der Reaktion

Die letzten Grenzen der Assimilation

Die Antinomien der Assimilation und die Geburt der modernen Kultur

Eine Fallstudie zur Soziologie der Assimilation II: Die Rache der Ambivalenz

Der Gegenangriff der Ambivalenz

Freud oder Ambivalenz als Macht

Kafka oder Die Schwierigkeit des Benennens

Simmel oder Das andere Ende der Moderne

Die andere Seite der Assimilation

Die Privatisierung der Ambivalenz

Die Suche nach Liebe oder Die existentiellen Grundlagen des Fachwissens

Die Verschiebung der Fähigkeiten

Die Selbst-Reproduktion des Fachwissens

Marktkenntnis

Sich vor der Ambivalenz verbergen

Die Tendenzen und Grenzen der von Experten entworfenen Welt

Die Postmoderne oder: Mit Ambivalenz leben

Von der Toleranz zur Solidarität

»Der Exorzist« und »Das Omen« oder Moderne und postmoderne Grenzen des Wissens

Neotribalismus oder Die Suche nach Schutz

Die Antinomien der Postmoderne

Die Zukunft der Solidarität

Sozialismus: Die letzte Festung der Moderne

Hat Sozialtechnologie eine Zukunft?

Die politische Tagesordnung der Postmoderne

Anhang

Namenregister

Sachregister

Zum Autor

Danksagung

In verschiedenen Stadien meiner Arbeit habe ich von verständnisvollen kritischen Kommentaren zu verschiedenen Kapiteln oder Bruchstücken von Kapiteln dieses Buches profitiert, die von David Beetham, Bryan Cheyette, Agnes Heller, Irving Horowitz, Richard Kilminster, Ralph Miliband, Stefan Morawski, Paul Piccone, Ritchie Robertson, Gillian Rose, Nico Stehr, Dennis Warwick, Wlodzimierz Wesolowski, Jerzy J. Wiatr und vielen anderen Kollegen und Freunden stammten. Ich bin für ihre Hilfe zutiefst dankbar. Anthony Giddens’ gründliche und umsichtige Kritik spielte bei der endgültigen Fassung des Projekts eine entscheidende Rolle. Ganz besonders freue ich mich, David Roberts für seine glänzende herausgeberische Leistung danken zu können.

Bei der Abfassung dieses Buches habe ich Material einiger Artikel und Rezensionen benutzt, die ich in Jewish Quarterly, Marxism Today, Sociological Review, Sociology, Telos und Theory, Culture and Society veröffentlicht habe.

 

Man muß auf das Ende der Geschichte

warten, um das Material in seiner

bestimmten Totalität zu begreifen.

Wilhelm Dilthey

Der Tag, an dem es eine Lektüre der

Karte von Oxford geben wird, die

einzige und wahre Lektüre, wird das

Ende der Geschichte sein.

Jacques Derrida

Wer nichts als Postkarten schreibt, dem

stellt sich nicht Hegels Problem, sein

Buch zum Abschluß zu bringen.

Richard Rorty

Einleitung:
Die Suche nach Ordnung

Ambivalenz, die Möglichkeit, einen Gegenstand oder ein Ereignis mehr als nur einer Kategorie zuzuordnen, ist eine sprachspezifische Unordnung: ein Versagen der Nenn-(Trenn-)Funktion, die Sprache doch eigentlich erfüllen soll. Das Hauptsymptom der Unordnung ist das heftige Unbehagen, das wir empfinden, wenn wir außerstande sind, die Situation richtig zu lesen und zwischen alternativen Handlungen zu wählen.

Weil die Erfahrung der Ambivalenz von Angst begleitet wird und Unentschiedenheit zur Folge hat, erfahren wir sie als Unordnung – und werfen entweder der Sprache Mangel an Genauigkeit oder uns selbst sprachlichen Mißbrauch vor. Und gleichwohl ist Ambivalenz nicht das Ergebnis der Pathologie der Sprache oder Rede. Sie ist viel eher ein normaler Aspekt der sprachlichen Praxis. Sie entsteht aus einer der Hauptfunktionen der Sprache: der des Nennens und Klassifizierens. Ihr Umfang wächst in Abhängigkeit von der Effektivität, mit der sie diese Funktion erfüllt. Ambivalenz ist deshalb das alter ego der Sprache und ihr permanenter Begleiter – ja, ihr Normalzustand.

Klassifizieren bedeutet trennen, absondern. Es bedeutet zunächst zu postulieren, daß die Welt aus diskreten und unterschiedenen Elementen besteht; dann, zu postulieren, daß jede Einheit eine Gruppe von ähnlichen oder benachbarten Einheiten hat, zu denen sie gehört und mit denen – gemeinsam – sie bestimmten anderen Einheiten entgegengesetzt ist; und dann bedeutet es, das Postulierte dadurch zu verwirklichen, daß verschiedene Handlungsstrukturen mit verschiedenen Klassen von Einheiten verknüpft werden (wobei die Erzeugung einer spezifischen Verhaltensstruktur zur operativen Definition der Klasse wird). Mit anderen Worten, klassifizieren heißt, der Welt eine Struktur zu geben: ihre Wahrscheinlichkeiten zu beeinflussen; einige Ereignisse wahrscheinlicher zu machen als andere; sich so zu verhalten, als wären Ereignisse nicht zufällig, oder die Zufälligkeit von Ereignissen einzuschränken oder zu eliminieren.

Durch ihre Benennungs-/Klassifizierungsfunktion stellt sich die Sprache selbst zwischen eine fest gegründete, ordentliche Welt, die für Menschen bewohnbar ist, und eine kontingente Welt des Zufalls, in der menschliche Überlebenswaffen – Gedächtnis und Lernfähigkeit – nutzlos, wenn nicht geradezu selbstmörderisch wären. Sprache strebt danach, die Ordnung aufrechtzuerhalten und Zufall und Kontingenz zu leugnen oder zu unterdrücken. Eine ordentliche Welt ist eine Welt, in der man »weiterweiß« (oder, was auf das gleiche hinausläuft, in der man herauszufinden vermag – und zwar mit Sicherheit –, wie es weitergeht, in der man die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses berechnen und diese Wahrscheinlichkeit erhöhen oder verringern kann; eine Welt, in der die Beziehungen zwischen bestimmten Situationen und den Folgen bestimmter Handlungen im großen und ganzen konstant bleiben, so daß man sich auf vergangene Erfolge als Anleitungen für zukünftige verlassen kann. Wegen unserer Lern-/Erinnerungsfähigkeit haben wir spezifische Interessen an der Aufrechterhaltung der Ordnung der Welt. Aus demselben Grunde erfahren wir Ambivalenz als Unbehagen und als eine Drohung. Ambivalenz wirft die Berechnung von Ereignissen über den Haufen und bringt die Relevanz erinnerter Handlungsstrukturen durcheinander.

Die Situation wird ambivalent, wenn die sprachlichen Werkzeuge der Strukturierung sich als inadäquat erweisen; entweder gehört die Situation zu keiner der sprachlich unterschiedenen Klassen oder sie fällt in verschiedene Klassen zugleich. Es könnte sich erweisen, daß keines der erlernten Muster in einer ambivalenten Situation richtig ist – oder mehr als eines der erlernten Muster angewendet werden kann; was immer der Fall ist, das Ergebnis ist das Gefühl der Unentschiedenheit, Unentscheidbarkeit und infolgedessen des Verlustes an Kontrolle. Die Konsequenzen der Handlung werden unvoraussagbar, während die Zufälligkeit, die doch eigentlich durch die Bemühung um Strukturierung aufgehoben sein sollte, ungebeten zurückzukehren scheint.

Die Benennungs-/Klassifizierungsfunktion der Sprache hat vorgeblich den Zweck, Ambivalenz zu verhindern. Ihre Leistung bemißt sich an der Sauberkeit der Trennungen zwischen den Klassen, der Präzision ihrer definitorischen Grenzen und der Unzweideutigkeit, mit der Objekte Klassen zugewiesen werden können. Und doch sind die Anwendung solcher Kriterien und gerade die Aktivität, deren Fortschritt sie überwachen sollen, letztlich die Quellen der Ambivalenz und die Gründe, die es äußerst unwahrscheinlich machen, daß Ambivalenz jemals wahrhaft ausstirbt, wie groß das Ausmaß und die Leidenschaft der strukturierenden/ordnenden Anstrengung auch immer sein mag.

Das Ideal, das die Benennungs-/Klassifizierungsfunktion zu erreichen sucht, ist eine Art geräumiger Aktenschrank, der all die Akten enthält, die all die Einzelheiten enthalten, welche die Welt enthält – aber jede Akte und jede Einzelheit auf einem gesonderten Platz ganz für sich beschränkt (wobei etwaige Zweifel durch einen Querverweisungsindex gelöst werden). Es ist die Unmöglichkeit eines solchen Aktenschranks, die Ambivalenz unvermeidlich macht. Und es ist die Beharrlichkeit, mit der die Konstruktion eines solchen Schrankes verfolgt wird, die immer neue Schübe an Ambivalenz hervorbringt.

Klassifizieren besteht aus den Handlungen des Einschließens und des Ausschließens. Jede Benennungshandlung teilt die Welt in zwei Teile: in Einheiten, die auf den Namen hören; und in alle übrigen, die dies nicht tun. Bestimmte Einheiten können nur insoweit in eine Klasse eingeschlossen – zu einer Klasse gemacht – werden, wie andere Einheiten ausgeschlossen werden, draußen bleiben. Unabänderlich ist eine solche Operation der Einschließung/Ausschließung ein Gewaltakt, der an der Welt verübt wird, und bedarf der Unterstützung durch ein bestimmtes Ausmaß an Zwang. Sie kann Bestand haben, solange der Umfang des angewandten Zwanges der Aufgabe adäquat bleibt, das Ausmaß der erzeugten Diskrepanz auszugleichen. Ungenügender Zwang zeigt sich in dem offenbaren Widerstreben von Einheiten, die erst im Akt der Klassifikation bestimmt wurden, sich in die zugewiesenen Klassen einzufügen, und in dem Auftreten von unter- oder überdefinierten, mit ungenügender oder übermäßiger Bedeutung beladenen Einheiten – die entweder keine lesbaren Signale für das Handeln aussenden oder aber Signale, die die Empfänger verwirren, weil sie einander widersprechen.

Ambivalenz ist ein Nebenprodukt der Arbeit der Klassifikation; und sie verlangt nach immer mehr Bemühung um Klassifikation. Obgleich sie dem Drang zu benennen/klassifizieren entstammt, kann Ambivalenz nur durch ein Benennen bekämpft werden, das noch genauer ist, und durch Klassen, die noch präziser definiert sind: d.h. durch Eingriffe, die noch härtere (kontrafaktische) Anforderungen an die Diskretheit und Transparenz der Welt stellen und so noch mehr Gelegenheit für Mehrdeutigkeit schaffen. Der Kampf gegen Ambivalenz ist daher selbstzerstörerisch und selbsterzeugend. Er ist unaufhaltsam, weil er seine eigenen Probleme erzeugt, während er sie zu lösen sucht. Seine Intensität variiert freilich mit der Zeit, je nach der Verfügbarkeit von Kraft, die der Aufgabe gewachsen ist, den bestehenden Umfang an Ambivalenz zu kontrollieren, und auch je nach dem Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein des Bewußtseins, daß die Reduktion von Ambivalenz ein Problem der Entdeckung und Anwendung einer richtigen Technologie ist: ein Problem des Managements. Beide Faktoren verbanden sich, um aus der modernen Zeit eine Ära des besonders bitteren und unnachgiebigen Krieges gegen Ambivalenz zu machen.

Wie alt die Moderne sei, ist eine umstrittene Frage. Es herrscht keinerlei Übereinstimmung in der Frage der Datierung. Es herrscht keinerlei Konsens in der Frage, was datiert werden soll.1 Und so bald einmal die Anstrengung der Datierung im Ernst beginnt, fängt der Gegenstand selbst an zu verschwinden. Die Moderne, wie alle anderen Quasitotalitäten, die wir aus dem kontinuierlichen Fließen des Seins heraushebeln wollen, entzieht sich uns: Wir entdecken, daß der Begriff mit Vieldeutigkeit überladen ist, während sein Bezugsobjekt gleichzeitig im Innersten dunkel und an den Rändern ausgefranst ist. Infolgedessen ist es unwahrscheinlich, daß sich der Streit lösen läßt. Das die Moderne bestimmende Merkmal, das diesen Essays zugrunde liegt, ist selbst ein Bestandteil des Streits.

Unter den vielen unmöglichen Aufgaben, die die Moderne sich selbst gestellt hat und die die Moderne zu dem gemacht haben, was sie ist, ragt die Aufgabe der Ordnung (genauer und höchst wichtig, der Ordnung als Aufgabe) heraus – als die am wenigsten mögliche unter den unmöglichen und die am wenigsten entbehrliche unter den unentbehrlichen; ja, als der Archetyp für alle anderen Aufgaben, eine, die alle anderen Aufgaben zu bloßen Metaphern ihrer selbst macht.

Ordnung ist, was nicht Chaos ist; Chaos ist, was nicht ordentlich ist: Ordnung und Chaos sind moderne Zwillinge. Sie waren empfangen worden inmitten des Aufruhrs und Zusammenbruchs der göttlichen Weltordnung, die weder Notwendigkeit noch Zufall kannte; eine Welt, die einfach nur war – ohne jemals darüber nachzudenken, wie sie sich selbst erschaffen konnte. Wir finden es schwierig, jene gedankenlose und unbekümmerte Welt, die der Zweiteilung in Ordnung und Chaos voranging, in ihren eigenen Begriffen zu beschreiben. Meistens versuchen wir, sie mit Hilfe von Negationen zu verstehen: Wir erklären uns selbst, was jene Welt nicht war, was sie nicht enthielt, wessen sie sich nicht bewußt war, was sie nicht wahrnahm. Jene Welt hätte sich in unseren Beschreibungen selbst kaum wiedererkannt. Sie verstünde nicht, worüber wir reden. Sie hätte ein solches Verstehen nicht überlebt. Der Augenblick des Verstehens wäre das Zeichen ihres nahenden Todes gewesen. Und er war es. Historisch war dieses Verstehen der letzte Seufzer der vergehenden Welt; und der erste Laut der neugeborenen Moderne.

Wir können uns die Moderne als eine Zeit denken, da Ordnung – der Welt, des menschlichen Ursprungs, des menschlichen Selbst und der Verbindung aller drei – reflektiert wird; ein Gegenstand des Nachdenkens, des Interesses, einer Praxis, die sich ihrer selbst bewußt ist, bewußt, eine bewußte Praxis zu sein und auf der Hut vor der Leere, die sie zurücklassen würde, wenn sie innehalten oder auch nur nachlassen würde. Der Einfachheit halber (das genaue Geburtsdatum, lassen Sie mich das wiederholen, muß strittig bleiben: das Projekt der Datierung ist nur einer der vielen foci imaginarii, die, wie Schmetterlinge, den Augenblick nicht überleben, da eine Nadel durch ihren Leib gestoßen wird, um sie an einem Platz zu fixieren) können wir Stephen L. Collins zustimmen, der in seiner jüngst veröffentlichten Untersuchung Hobbes’ Vision als Geburtsstunde des Bewußtseins der Ordnung nahm, d.h. – in unserer Wiedergabe – des modernen Bewußtseins, der Moderne. (»Bewußtsein«, sagt Collins, »erscheint als die Qualität, Ordnung in den Dingen wahrzunehmen.«)

»Hobbes begriff, daß eine im Fluß befindliche Welt natürlich war und Ordnung geschaffen werden mußte, um das, was natürlich war, zu unterdrücken […] Gesellschaft ist nicht mehr eine metaphysisch begründete Widerspiegelung von etwas schon Definiertem, Externem und jenseits ihrer selbst Befindlichem, das die Existenz hierarchisch ordnet. Sie ist jetzt eine nur nominelle Entität, die von einem souveränen Staat geordnet wird, der sein eigener sich selbst begründender Repräsentant ist […] [Vierzig Jahre nach Elizabeths Tod] wurde Ordnung nicht mehr als etwas Natürliches, sondern als etwas Künstliches verstanden, als von Menschen geschaffen und offensichtlich politisch und sozial […] Ordnung muß geplant werden, um das zu unterdrücken, was als allgegenwärtig erschien [d.h. das Fließen] […] Ordnung wurde zu einer Frage der Macht und Macht zu einer Frage des Willens, der Gewalt und der Berechnung […] Grundlegend für die gesamte Neukonzeptualisierung der Idee der Gesellschaft war der Glaube, daß das Gemeinwohl, wie die Ordnung, eine menschliche Schöpfung sei.«2

Collins ist ein sorgfältiger Historiker, der sich vor den Gefahren der Projektion und des Anachronismus hütet, aber er kann trotzdem kaum vermeiden, auf die Welt vor Hobbes so manche Eigenschaft unserer nachhobbesschen Welt zu übertragen – sei es auch nur dadurch, daß er deren Abwesenheit feststellt; freilich würde die Welt vor Hobbes ohne eine solche Beschreibungsstrategie für uns blaß und bedeutungslos bleiben. Um diese Welt zu uns sprechen zu lassen, müssen wir sozusagen ihr Schweigen hörbar machen: aussprechen, wessen sich diese Welt selbst nicht bewußt war. Wir müssen einen Gewaltakt begehen: jene Welt zwingen, Stellung zu Fragen zu beziehen, an die sie nicht gedacht hat, und auf diese Weise jenes Nichtdenken beiseite zu schieben oder zu übergehen, das sie zu jener Welt machte, einer Welt, so verschieden der unseren und so unmitteilsam. Der Versuch zu kommunizieren wird seinen Zweck verfehlen. In diesem Prozeß der erzwungenen Konversation werden wir uns von der Hoffnung auf Kommunikation noch weiter entfernen. Am Ende werden wir, statt diese »andere Welt« zu rekonstruieren, nicht mehr tun als »das Andere« unserer eigenen Welt zu konstruieren.

Wenn es wahr ist, daß wir wissen, daß die Ordnung der Dinge nicht natürlich ist, bedeutet dies nicht, daß sich die andere, die Welt vor Hobbes Ordnung als Werk der Natur vorstellte: Sie dachte überhaupt nicht über Ordnung nach, nicht in einer Form, die wir uns als »nachdenken über« denken, nicht in dem Sinne, wie wir jetzt darüber nachdenken. Die Entdeckung, daß Ordnung nicht natürlich ist, war die Entdeckung der Ordnung als solcher. Der Begriff der Ordnung trat gleichzeitig mit dem Problem der Ordnung ins Bewußtsein, der Ordnung als einer Sache von Entwurf und Handlung, Ordnung als einer Obsession. Um es noch grober auszudrücken, Ordnung als Problem tauchte erst im Kielwasser der Beunruhigung über Ordnung auf, als eine Reflexion auf die ordnenden Praktiken. Die Erklärung der »Nicht-Natürlichkeit von Ordnung« stand für eine Ordnung, die bereits das Dunkel, die Nicht-Existenz und das Schweigen hinter sich gelassen hatte. »Natur« bedeutet schließlich nichts anderes als das Schweigen des Menschen.

Wenn es wahr ist, daß wir, die Modernen, Ordnung als eine Sache des Entwurfs denken, bedeutet dies nicht, daß die Welt vor der Moderne hinsichtlich des Entwerfens gleichgültig gewesen sei und erwartet hätte, daß Ordnung sich von allein und ohne Hilfe einstellen und bestehenbleiben würde. Jene Welt lebte ohne eine solche Alternative; sie wäre überhaupt nicht jene Welt, hätte sie Gedanken darauf verwendet. Wenn es wahr ist, daß unsere Welt durch den Verdacht der Sprödigkeit und Zerbrechlichkeit der künstlichen, von Menschen entworfenen und von Menschen gemachten Inseln der Ordnung inmitten eines Meeres von Chaos geformt wurde, so folgt daraus nicht, daß die Welt vor der Moderne glaubte, daß sich die Ordnung über das Meer und den menschlichen Archipel gleichermaßen erstreckte; sie war sich eher des Unterschieds von Land und Wasser nicht bewußt.3

Wir können sagen, daß die Existenz modern ist, sofern sie sich in Ordnung und Chaos spaltet. Die Existenz ist modern, insoweit sie die Alternative von Ordnung und Chaos enthält.

Ordnung und Chaos, Punkt. Wenn sie überhaupt erstrebt wird (d.h. insoweit über sie nachgedacht wird), wird Ordnung nicht als Ersatz für eine alternative Ordnung angestrebt. Der Kampf um Ordnung ist nicht ein Kampf der einen Definition gegen eine andere, einer Möglichkeit, Realität auszudrücken, gegen eine andere. Es ist ein Kampf der Bestimmung gegen die Mehrdeutigkeit, der semantischen Präzision gegen Ambivalenz, der Durchsichtigkeit gegen Dunkelheit, der Klarheit gegen Verschwommenheit. Ordnung als ein Konzept, als eine Vision, als ein Zweck konnte nicht ausgedrückt werden, hätte es nicht die Einsicht in die totale Ambivalenz, die Zufälligkeit des Chaos gegeben. Ordnung ist ständig im Überlebenskampf begriffen. Das Andere der Ordnung ist nicht eine andere Ordnung: Die einzige Alternative ist das Chaos. Das Andere der Ordnung ist das Miasma des Unbestimmten und Unvorhersagbaren. Das Andere ist die Ungewißheit, jener Ursprung und Archetyp aller Furcht. Entsprechungen für das »Andere der Ordnung« sind: Undefinierbarkeit, Inkohärenz, Widersinnigkeit, Unvereinbarkeit, Unlogik, Irrationalität, Mehrdeutigkeit, Verwirrung, Unentscheidbarkeit, Ambivalenz.

Chaos, »das Andere der Ordnung«, ist reine Negativität. Es ist die Verneinung all dessen, was Ordnung zu sein sucht. Gegen ebendiese Negativität konstituiert sich die Positivität der Ordnung. Aber die Negativität des Chaos ist ein Produkt der Selbstkonstitution der Ordnung: ihre Nebenwirkung, ihr Abfall, und gleichwohl die conditio sine qua non ihrer (reflexiven) Möglichkeit. Ohne die Negativität des Chaos gibt es keine Positivität der Ordnung; ohne Chaos keine Ordnung.

Wir können sagen, daß die Existenz modern ist, sofern sie von dem Gefühl »ohne uns die Sintflut« durchdrungen ist. Die Existenz ist modern, insofern sie von dem Drang geleitet wird, zu entwerfen, was andernfalls nicht da wäre: von dem Drang, sich selbst zu entwerfen.

Das bloße Dasein, das Dasein ohne jede Intervention, das ungeordnete Dasein, oder der Rand des geordneten Daseins, werden jetzt zur Natur: etwas, was als menschlicher Wohnort einzigartig ungeeignet ist – etwas, dem man nicht trauen kann und das man nicht sich selbst überlassen kann, etwas, das beherrscht, unterworfen, neu gemacht werden muß, damit es von neuem an menschliche Bedürfnisse angepaßt werden kann. Etwas, das unter Kontrolle gehalten, eingeschränkt und gezügelt werden, das aus dem Zustand der Formlosigkeit in eine Form überführt werden muß – durch Anstrengung und durch Gewalt. Selbst wenn die Form von der Natur selbst vorgegeben war, wird sie ohne Hilfe nicht zustande kommen und ohne Verteidigung nicht überleben. Das naturgemäße Leben bedarf einer Menge Entwürfe, organisierter Anstrengung und wachsamer Kontrolle. Nichts ist künstlicher als Natürlichkeit; nichts weniger natürlich, als sich den Gesetzen der Natur auszusetzen. Macht, Unterdrückung und zielgerichtete Handlung stehen zwischen der Natur und jener sozial bewirkten Ordnung, in der Künstlichkeit natürlich ist.

Wir können sagen, daß die Existenz modern ist, insoweit sie durch Entwurf, Gestaltung, Verwaltung und Technologie aufrechterhalten wird. Die Existenz ist modern, insoweit sie durch ressourcenreiche (an Wissen, Geschicklichkeit und Technologie) souveräne Agenturen verwaltet wird. Agenturen sind souverän, insofern sie das Recht, die Existenz privat und öffentlich zu verwalten, beanspruchen und erfolgreich verteidigen: das Recht, Ordnung zu definieren und infolgedessen Chaos als jenen Rest, der sich der Definition entzieht, zu beseitigen.

Die typisch moderne Praxis, die Substanz moderner Politik, des modernen Intellekts, des modernen Lebens, ist die Anstrengung, Ambivalenz auszulöschen: eine Anstrengung, genau zu definieren – und alles zu unterdrücken oder zu eliminieren, was nicht genau definiert werden konnte oder wollte. Die moderne Praxis ist nicht auf Eroberung fremder Länder gerichtet, sondern auf das Ausfüllen der leeren Stellen in der completa mappa mundi. Es ist die moderne Praxis, nicht die Natur, die wahrhaft keine Leere duldet.

Intoleranz ist deshalb die natürliche Neigung der modernen Praxis. Konstruktion von Ordnung setzt der Eingliederung und der Zulassung Grenzen. Sie verlangt nach der Verneinung der Rechte – und der Gründe – all dessen, was nicht assimiliert werden kann – nach der Delegitimierung des Anderen. Solange der Drang, einen Schlußstrich unter die Ambivalenz zu ziehen, das kollektive und individuelle Handeln leitet, wird Intoleranz folgen – selbst wenn sie sich verschämt hinter der Maske der Toleranz verbirgt (die oft bedeutet: du bist abscheulich, aber ich lasse dich, weil ich großzügig bin, leben).4

Das Andere des modernen Staates ist Niemandsland oder umkämpftes Gebiet: die Unter- oder Überdefinition, der Dämon der Mehrdeutigkeit. Da die Souveränität des modernen Staates in der Definitionsmacht und deren Anwendung liegt – ist alles, was sich selbst definiert oder der machtgestützten Definition entzieht, subversiv. Das Andere dieser Souveränität ist unbetretbares Gebiet, Unruhe und Ungehorsam, der Zusammenbruch von Recht und Ordnung.

Das Andere des modernen Intellekts ist Polysemie, kognitive Dissonanz, polyvalente Definitionen, Kontingenz; einander überschneidende Bedeutungen in der Welt der sauberen Klassifikationen und Schubladen. Da die Souveränität des modernen Intellekts die Macht ist, zu definieren und den Definitionen Wirksamkeit zu verschaffen – ist alles, was sich der unzweideutigen Zuordnung entzieht, eine Anomalie und eine Herausforderung. Das Andere dieser Souveränität ist die Verletzung des Gesetzes vom ausgeschlossenen Dritten.

In beiden Fällen schränkt Widerstand gegen die Definition die Souveränität, die Macht, die Transparenz der Welt, ihre Kontrolle, die Ordnung ein. Dieser Widerstand ist die störrische, grimmige Mahnung an das Fließen, das die Ordnung, wenn auch vergeblich, einzudämmen wünschte; an die Grenzen der Ordnung und an die Notwendigkeit des Ordnens. Der moderne Staat und der moderne Intellekt brauchen beide gleichermaßen das Chaos – wenn auch nur, um weiterhin Ordnung zu schaffen. Beide gedeihen auf dem Boden der Vergeblichkeit ihrer Anstrengung.

Die moderne Existenz wird durch das moderne Bewußtsein sowohl geplagt wie zu ruheloser Aktion angestachelt; und das moderne Bewußtsein ist der Verdacht oder die Wahrnehmung, daß es der bestehenden Ordnung an Endgültigkeit fehlt; ein Bewußtsein, das von der Ahnung der Unangemessenheit, ja Lebensunfähigkeit des Ordnung-entwerfenden, Ambivalenz-eliminierenden Projekts angespornt und in Bewegung gesetzt wird; ein Bewußtsein der Zufälligkeit der Welt und der Kontingenz von Identitäten, die sie konstituieren. Bewußtsein ist modern, insofern es immer neue Schichten von Chaos unter der Ebene machtgestützter Ordnung aufdeckt. Das moderne Bewußtsein kritisiert, warnt und ruft zur Wachsamkeit auf. Es macht das Handeln unaufhörlich, indem es seine Wirkungslosigkeit immer von neuem demaskiert. Es verewigt die ordnende Geschäftigkeit dadurch, daß es ihre Errungenschaften disqualifiziert und ihre Mängel bloßlegt.

Infolgedessen ist die Beziehung zwischen moderner Existenz und moderner Kultur von einer Haßliebe geprägt (in der fortgeschrittensten Form der Selbst-Wahrnehmung), eine Symbiose, die immer wieder von Bürgerkriegen heimgesucht wird. In der Moderne ist Kultur jene widerspenstige und wachsame Opposition Ihrer Majestät, die die Regierung ermöglicht. Es gibt keine verlorene Liebe oder Harmonie noch eine spiegelbildliche Ähnlichkeit zwischen den beiden: Es gibt nur einen wechselseitigen Bedarf und Abhängigkeit – jene Komplementarität, die aus der Opposition kommt, die Opposition ist. Wie sehr die Moderne auch ihrer Kritik grollt – sie würde den Waffenstillstand nicht überleben.

Es wäre vergeblich, entscheiden zu wollen, ob die moderne Kultur die moderne Existenz untergräbt oder ihr dient. Sie tut beides. Sie kann das eine nur zusammen mit dem anderen tun. Zwanghafte Negation ist die Positivität der modernen Kultur. Die Dysfunktionalität der modernen Kultur ist ihre Funktionalität. Der Kampf der modernen Mächte um eine künstliche Ordnung bedarf der Kultur, die die Grenzen und Beschränkungen der Macht der Künstlichkeit erkundet. Der Kampf um Ordnung belebt jene Erforschung und wird seinerseits durch ihre Ergebnisse belebt. In diesem Prozeß verliert der Kampf seine anfängliche Hybris: seine aus Naivität und Ignoranz geborene Streitsucht. Er lernt statt dessen mit seiner eigenen Permanenz, seiner Ergebnislosigkeit – und seiner Aussichtslosigkeit zu leben. Vielleicht wird er am Ende sogar die schwierige Kunst der Mäßigung und Toleranz lernen.

Die Geschichte der Moderne ist eine Geschichte der Spannung zwischen gesellschaftlicher Existenz und ihrer Kultur. Die moderne Existenz zwingt ihre Kultur in eine Opposition zu sich selbst. Diese Disharmonie ist genau jene Harmonie, deren die Moderne bedarf. Die Geschichte der Moderne zieht ihre unheimliche und beispiellose Dynamik aus der Geschwindigkeit, mit der sie einander ablösende Versionen der Harmonie ad acta legt, nachdem sie sie zuvor als nur blasse und fleckige Widerspiegelungen ihrer foci imaginarii diskreditiert hat. Aus demselben Grunde kann sie als eine Geschichte des Fortschritts angesehen werden, als die Naturgeschichte der Menschheit.

Als Lebensform ermöglicht sich die Moderne dadurch selbst, daß sie sich eine unmögliche Aufgabe stellt. Es ist gerade die endemische Ergebnislosigkeit der Anstrengung, die das Leben der beständigen Ruhelosigkeit sowohl möglich als auch unentrinnbar macht und in Wirklichkeit die Möglichkeit ausschließt, daß die Anstrengung jemals zur Ruhe kommen kann.

Die unmögliche Aufgabe wird durch die foci imaginarii5 der absoluten Wahrheit, der reinen Kunst, der Menschlichkeit als solcher, der Ordnung, der Gewißheit, der Harmonie, des Endes der Geschichte gestellt. Wie alle Horizonte können sie niemals erreicht werden. Wie alle Horizonte ermöglichen sie ein zielgerichtetes Gehen. Wie alle Horizonte weichen sie zurück, während und weil man geht. Wie alle Horizonte weichen sie um so schneller zurück, je schneller man geht. Wie alle Horizonte erlauben sie niemals, daß der Wille zu gehen erlahmt oder Kompromisse schließt. Wie alle Horizonte bewegen sie sich kontinuierlich mit der Zeit und verleihen auf diese Weise dem Gehen die hilfreiche Illusion eines Zieles, eines Wegweisers und und eines Zwecks.

Foci imaginarii – die Horizonte, die den Raum der Moderne ausschließen und eröffnen, umzingeln und aufblähen – beschwören das Phantom der Reise im Raum, der an sich ohne Richtung ist. In jenem Raum entstehen Wege beim Gehen und verwischen sich wieder, wenn die Wanderer vorüber sind. Vor den Wanderern (und vorn ist da, wo der Wanderer hinschaut) ist die Straße markiert durch die Entschlossenheit des Wanderers weiterzugehen; hinter ihnen können die Wege aus den dünnen Linien der Fußabdrücke erschlossen werden, die auf beiden Seiten von dickeren Linien von Müll und Abfall gesäumt werden. »In einer Wüste« – sagte der französische Dichter und Essayist Edmond Jabès – »gibt es keine Avenuen, keine Boulevards, keine Sackgassen und keine Straßen. Nur – hier und da – bruchstückhafte Fußabdrücke, die schnell ausgelöscht und vernichtet werden.«6

Die Moderne ist das, was sie ist – ein besessener Marsch nach vorne – nicht deshalb, weil sie immer mehr will, sondern weil sie niemals genug bekommt; nicht weil sie ehrgeiziger und abenteuerlustiger wird, sondern weil ihre Abenteuer bitter sind und ihre Hoffnungen nichtig. Der Marsch muß weitergehen, weil jeder Ort der Ankunft nur eine zeitweilige Station ist. Kein Ort ist privilegiert, kein Ort besser als ein anderer, da von keinem Ort aus der Horizont näher ist als von jedem anderen. Das ist der Grund, weswegen die Unruhe und die Hast als ein Marsch nach vorne erlebt werden; das ist in Wirklichkeit der Grund, weswegen die Brownsche Molekularbewegung ein Vorne und ein Hinten zu erwerben scheint und Ruhelosigkeit eine Richtung: Es sind die Reste verbrannten Treibstoffs und der Ruß erloschener Flammen, die die Flugbahnen des Fortschritts markieren.

Wie Walter Benjamin beobachtete, treibt der Sturm die Gehenden unwiderstehlich in die Zukunft, der sie ihren Rücken zuwenden, während der Trümmerhaufen vor ihnen gen Himmel wächst. »Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«7 Bei näherem Hinsehen erweist sich die Hoffnung auf Ankunft als der Drang zu fliehen. In der linearen Zeit der Moderne steht nur der Punkt der Abreise fest: Und es ist die unaufhaltsame Bewegung jenes Punktes, die das unglückliche Dasein an einer historischen Zeitlinie ausrichtet. Nicht die Antizipation einer neuen Seligkeit gibt dieser Linie eine Richtung, sondern die Gewißheit vergangener Schrecken; das Leiden von gestern, nicht das Glück von morgen. Was das Heute betrifft – es verwandelt sich in Vergangenheit, noch bevor die Sonne untergegangen ist. Die lineare Zeit der Moderne erstreckt sich zwischen der Vergangenheit, die nicht dauern, und der Zukunft, die nicht sein kann. Es gibt keinen Raum für ein Mittleres. Im Verfließen verflacht sich die Zeit in ein Meer des Elends, so daß sich der Wegweiser über dem Wasser halten kann.

Sich eine unmögliche Aufgabe zu stellen bedeutet nicht, die Zukunft überzubewerten, sondern die Gegenwart abzuwerten. Nicht zu sein, was sie sein soll, ist die unverzeihliche Ursünde der Gegenwart. Das Gegenwärtige ist immer mangelhaft, was es häßlich, abschreckend und unerträglich macht. Das Gegenwärtige ist obsolet. Es ist obsolet, bevor es entsteht. In dem Augenblick, da sie in der Gegenwart landet, ist die begehrte Zukunft von den toxischen Ausdünstungen der verwüsteten Vergangenheit vergiftet. Ihr Genuß kann nur einen flüchtigen Moment lang dauern: darüber hinaus (und das Darüberhinaus beginnt am Anfangspunkt) gewinnt die Freude eine nekrophile Färbung, Leistung wird zur Sünde und Unbeweglichkeit zum Tod.

In den ersten beiden Zitaten, mit denen diese Essays beginnen, sprechen Dilthey und Derrida von demselben: Vollständige Klarheit bedeutet das Ende der Geschichte. Der erste spricht aus dem Inneren der noch jugendlichen und wagemutigen Moderne: Die Geschichte wird zu einem Ende kommen, und wir werden sie für verfallen erklären, indem wir sie universal machen. Derrida schaut zurück auf die zerschlagenen Hoffnungen. Er weiß, daß die Geschichte nicht enden wird und daß deshalb der Zustand der Ambivalenz ebenfalls nicht enden wird.

Es gibt einen weiteren Grund, weshalb die Moderne der Ruhelosigkeit gleichkommt; die Ruhelosigkeit ist eine Sisyphusarbeit, und der Kampf mit der Unbehaglichkeit der Gegenwart nimmt das Aussehen historischen Fortschritts an.

Der Krieg gegen das Chaos zersplittert sich in eine Vielzahl lokaler Kämpfe um Ordnung. Solche Kämpfe werden von Guerilla-Einheiten geführt. Den größten Teil der modernen Geschichte über gab es keine Hauptquartiere, um die Schlachten zu koordinieren – gewiß keine Oberkommandierenden, die imstande gewesen wären, die ungeheure Weite des zu erobernden Universums zu kartographieren und lokales Blutvergießen in eine territoriale Eroberung umzuformen. Es gab nur die mobilen Propagandaeinheiten mit ihrem aufmunternden Gerede, das darauf abzielte, den Kampfgeist wachzuhalten. »Die Regierenden und Wissenschaftler (ganz zu schweigen von der Geschäftswelt) betrachten menschliche Angelegenheiten stets nach dem Muster Absicht, Mittel und Zwecke […]«8 Aber Regierende und Wissenschaftler gibt es viele, und ebenso zahlreich sind ihre Absichten. Alle Gouverneure und Wissenschaftler bewachen eifersüchtig ihre Jagdgründe und ganz genauso ihr Recht, Zwecke zu setzen. Weil die Jagdgründe auf die Größe ihrer Zwangsgewalt und/oder intellektuellen Kräfte zurechtgeschnitten sind und die Zwecke auf das Maß ihrer Gründe, sind ihre Schlachten siegreich. Absichten werden erreicht, das Chaos wird vor die Tür gesetzt, Ordnungen werden im Innern eingerichtet.

Die Moderne rühmt sich der Fragmentierung der Welt als ihrer bedeutendsten Leistung. Fragmentierung ist die primäre Quelle ihrer Stärke. Die Welt, die in eine Fülle von Problemen auseinanderfällt, ist eine handhabbare Welt. Oder besser, seitdem die Probleme handhabbar sind – erscheint die Frage der Handhabbarkeit der Welt vielleicht niemals auf der Tagesordnung oder wird zumindest unbegrenzt aufgeschoben. Die territoriale und funktionale Autonomie, die die Fragmentierung der Kräfte zur Folge hat, besteht zuerst und vor allem in dem Recht, nicht über den Zaun zu schauen und nicht von der anderen Seites des Zauns aus angeschaut zu werden. Autonomie ist das Recht zu entscheiden, wann man die Augen offenhält und wann man sie schließt; das Recht zu trennen, zu unterscheiden, zu beschneiden und zu stutzen.

»Die gesamte Tendenz der Wissenschaft ging dahin […] das Ganze als die Summe seiner Teile und als nichts mehr zu erklären. In der Vergangenheit wurde angenommen, daß dann, wenn ein holistisches Prinzip gefunden wurde, es lediglich als ein Organisator zu den schon bekannten Teilen hinzugefügt werden konnte. Mit anderen Worten, das holistische Prinzip würde so etwas sein wie ein Verwalter, der eine Bürokratie beherrscht.«9

Die Ähnlichkeit, das muß hinzugefügt werden, ist keineswegs zufällig. Wissenschaftler und Verwalter teilen das Interesse an Souveränität und an Grenzen und können das Ganze kaum anders begreifen denn als immer mehr Verwalter und immer mehr Wissenschaftler mit ihren souveränen und sauber eingezäunten Funktionen und Feldern des Expertenwissens (ziemlich genau in der Weise, wie sich Mrs. Thatcher Europa vorstellte). Urologen und Laryngologen hüten die Autonomie ihrer klinischen Abteilungen (und also, stellvertretend, von Nieren und Ohren) genauso eifersüchtig wie die Whitehall-Bürokraten, die Industrie und Beschäftigung verwalten, die Unabhängigkeit ihrer Abteilungen und der Gebiete menschlicher Existenz, die ihrer Rechtsprechung unterstellt sind.

Eine Form, dies auszudrücken, ist, die großartige Vision der Ordnung in lauter kleine lösbare Probleme einzuwechseln. Etwas genauer: Die große Vision der Ordnung entsteht (wenn überhaupt) aus der Problemlösungs-Aufregung – als die »unsichtbare Hand« oder eine ähnliche »metaphysische Stütze«. Denkt man darüber nach, soll sich die harmonische Totalität, wie einst Phönix aus der Asche, aus den eifrigen und erstaunlich erfolgreichen Anstrengungen, sie abzuspalten, erheben.

Aber die Fragmentierung verwandelt das Problem-Lösen in eine Sisyphusarbeit und macht es als Werkzeug des Ordnung-Schaffens untauglich. Lokale und funktionale Autonomie ist nur eine Fiktion, die durch Erlasse und Gesetzbücher plausibel gemacht wird. Sie ist wie die Autonomie eines Flusses oder eines Strudels oder eines Hurrikans (unterbinde den Zu- und Abfluß von Wasser und es gibt keinen Fluß mehr; unterbinde den Zu- und Abfluß von Luft und es gibt keinen Hurrikan mehr). Selbstherrschaft (Autarkie) ist der Traum aller Macht. Mangelt es ihr an Autarkie, ohne die keine Selbstherrschaft leben oder sicher sein kann, kommt sie nur langsam voran. Es sind die Mächte, die fragmentiert sind; die Welt ist es störrischerweise nicht. Leute bleiben multifunktional, Wörter polysem. Oder besser, Menschen werden multifunktional aufgrund der Fragmentierung von Funktionen; Worte werden polysem aufgrund der Fragmentierung von Bedeutungen. Undurchsichtigkeit entsteht am anderen Ende des Kampfes um Transparenz. Verwirrung entsteht aus dem Kampf um Klarheit. Kontingenz wird an der Stelle entdeckt, wo viele fragmentarische Werke der Bestimmung sich treffen, zusammenstoßen und sich miteinander verwirren.

Je sicherer die Fragmentierung, desto flüchtiger und weniger kontrollierbar ist das daraus resultierende Chaos. Selbstherrschaft erlaubt es, die Mittel auf die vorliegende Aufgabe zu konzentrieren (es gibt eine starke Hand, die die Aufgabe sicher festhält), und macht auf diese Weise die Aufgabe möglich und das Problem lösbar. Insofern Problem-Lösen eine Funktion des Erfindungsreichtums der Macht ist, steigt die Skala der lösbaren und gelösten Probleme mit dem Umfang an Selbstherrschaft (in dem Grad, bis zu dem Praktiken der Macht, die die relativ autonome Enklave zusammenhalten, sich vom »Relativen« auf das »Autonome« verlagern). Probleme werden größer. Und ebenso ihre Konsequenzen. Je weniger relativ die eine Autonomie, um so relativer die andere. Je gründlicher die anfänglichen Probleme gelöst worden sind, um so weniger handhabbar sind die Probleme, die sich daraus ergeben. So gab es die Aufgabe, die Ernten zu vergrößern – gelöst dank der Nitrate. Und es gab die Aufgabe, die Wasserversorgung zu sichern – gelöst dank des Aufstauens von Wasser mit Hilfe von Staudämmen. Dann gab es die Aufgabe, die Wasservorräte vor dem Einsickern unabsorbierter Nitrate zu schützen – gelöst dank der Anwendung von Phosphaten in speziell gebauten Abwasserverarbeitungsanlagen. Dann gab es die Aufgabe, toxische Algen zu zerstören, die in Reservoirs gedeihen, die reich an Phosphatverbindungen sind …

Der Trieb nach zweckgerichteter Ordnung bezog seine Energie, wie jeder Ordnungstrieb, aus dem Abscheu vor Ambivalenz. Das Produkt des modernen, fragmentierten Ordnungsdrangs aber war letztlich mehr Ambivalenz. Die meisten Probleme, mit denen die Verwaltungen lokaler Ordnungen heute konfrontiert sind, sind das Ergebnis der Problemlösungs-Aktivität. Der größte Teil der Ambivalenz, denen sich Praktiker und Theoretiker der gesellschaftlichen und intellektuellen Ordnungen gegenübersehen, entsteht aus dem Bemühen, die endemische Relativität der Autonomie zu unterdrücken oder als nicht-existent zu erklären. Probleme werden durch das Problem-Lösen geschaffen, neue Gebiete des Chaos werden durch die Ordnungs-Aktivität erzeugt. Fortschritt besteht zuerst und vorrangig im Veralten der Lösungen von gestern.

Der Schrecken vor der Vermischung reflektiert die Besessenheit von dem Gedanken an Trennung. Die lokale, spezialisierte Leistungsfähigkeit, die moderne Methoden, Dinge zu tun, ermöglicht haben, hat die Trennungspraktiken zu ihrer einzigen – wenngleich empfehlenswert soliden – Grundlage. Der zentrale Rahmen sowohl des modernen Intellekts wie der modernen Praxis ist die Opposition – genauer, die Dichotomie. Intellektuelle Visionen, die baumähnliche Bilder fortschreitender Zweiteilungen schaffen, reflektieren und durchdringen die Verwaltungspraxis des Aufsplitterns und der Trennung: Mit jeder weiteren Zweiteilung wächst die Distanz zwischen Abzweigungen von dem ursprünglichen Stamm, ohne horizontale Glieder, um die Isolierung auszugleichen.

Dichotomie ist eine Übung in Macht und zur gleichen Zeit ihre Verhüllung. Obgleich keine Dichotomie ohne die Macht, zu trennen und abzusondern, Bestand hätte, schafft sie eine Illusion der Symmetrie. Die vorgespiegelte Symmetrie der Resultate verbirgt die Asymmetrie der Macht, die ihre Ursache ist. Die Dichotomie stellt ihre Glieder als gleich und austauschbar dar. Trotzdem bezeugt gerade ihre Existenz das Vorhandensein einer differenzierenden Macht. Es ist die machtgestützte Differenzierung, die den Unterschied macht. Man sagt, daß nur der Unterschied zwischen Einheiten der Opposition, nicht die Einheiten selbst, bedeutungsvoll seien. So wird Bedeutsamkeit, wie es scheint, in den Praktiken der Macht ausgetragen, die imstande ist, einen Unterschied zu machen – zu trennen und auseinanderzuhalten.

In für die Praxis und die Vision gesellschaftlicher Ordnung entscheidend wichtigen Dichotomien versteckt sich die differenzierende Macht in der Regel hinter einem der Glieder der Opposition. Das zweite Glied ist nur das Andere des ersten, die entgegengesetzte (degradierte, unterdrückte, exilierte) Seite des ersten und seine Schöpfung. Auf diese Weise ist die Abnormität das Andere der Norm, Abweichung das Andere der Gesetzestreue, Krankheit das Andere der Gesundheit, Barbarei das Andere der Zivilisation, das Tier das Andere des Menschen, die Frau das Andere des Mannes, der Fremde das Andere des Einheimischen, der Feind das Andere des Freundes, »sie« das Andere von »wir«, Wahnsinn das Andere der Vernunft, der Ausländer das Andere des Staatsbürgers, das Laienpublikum das Andere des Experten. Beide Seiten hängen voneinander ab, aber die Abhängigkeit ist nicht symmetrisch. Die zweite Seite hängt von der ersten hinsichtlich ihrer ins Werk gesetzten und erzwungenen Isolierung ab. Die erste hängt von der zweiten hinsichtlich ihrer Selbstbehauptung ab.

Geometrie ist der Archetyp des modernen Geistes. Das Raster ist ihr beherrschender Ausdruck (und unter diesem Aspekt ist Mondrian der repräsentativste unter ihren bildenden Künstlern). Taxonomie, Klassifikation, Inventar, Katalog und Statistik sind vorherrschende Strategien der modernen Praxis. Moderne Meisterschaft besteht in der Macht zu trennen, zu klassifizieren und zuzuteilen – im Denken, in der Praxis des Denkens und im Denken der Praxis. Paradoxerweise ist aus diesem Grund die Ambivalenz der größte Schmerz der Moderne und die beunruhigendste ihrer Sorgen. Geometrie zeigt, wie die Welt wäre, wäre sie geometrisch. Aber die Welt ist nicht geometrisch, sie kann nicht in geometrische Raster eingezwängt werden.

Somit ist die Erzeugung von Abfall (und infolgedessen das Interesse an Abfallbeseitigung) ebenso modern wie die Klassifikation und das Entwerfen von Ordnung. Unkraut ist der Abfall des Gärtnerns, armselige Straßen der Abfall der Stadtplanung, Dissidenz der Abfall der ideologischen Einheit, Häresie der Abfall der Orthodoxie, Fremdheit der Abfall der Errichtung des Nationalstaates. All das ist Abfall, da es der Klassifikation trotzt und die Sauberkeit des Rasters zerstört. All das ist die unerlaubte Mischung von Kategorien, die sich nicht mischen dürfen. Sie haben ihr Todesurteil verdient, weil sie der Trennung widerstanden haben. Die Tatsache, daß sie nicht quer über der Barrikade sitzen würden, wäre nicht zuerst die Barrikade gebaut worden, würde vor dem modernen Gerichtshof nicht als gültige Verteidigung in Betracht gezogen werden. Das Gericht ist dazu da, die Sauberkeit der errichteten Barrikaden zu bewahren.

Wenn die Moderne es mit der Erzeugung von Ordnung zu tun hat, dann ist Ambivalenz der Abfall der Moderne. Ordnung wie Ambivalenz sind gleichermaßen Produkte der modernen Praxis; und keine von beiden besitzt irgend etwas anderes außer der modernen Praxis – kontinuierliche, wachsame Praxis –, um sie zu stützen. Beide teilen sich in die typisch moderne Kontingenz, die Grundlosigkeit des Seins. Ambivalenz stellt unstrittig die genuinste Beunruhigung und Sorge für die Moderne dar, da sie, anders als andere Feinde, geschlagen und versklavt, mit jedem Erfolg der modernen Mächte an Stärke zunimmt. Es ist ihr eigenes Versagen, das die Aufräumaktivität als Ambivalenz konstruiert.

Die folgenden Essays konzentrieren sich zunächst auf verschiedene Aspekte des modernen Kampfes gegen Ambivalenz, der in seinem Verlauf und kraft seiner inneren Logik zur Hauptquelle gerade des Phänomens wird, das er doch auslöschen sollte. Weitere Essays verfolgen die allmähliche Einigung der Moderne mit der Differenz und fragen, wie ein friedliches Zusammenleben mit Ambivalenz aussehen könnte.

Das Buch beginnt mit der Skizzierung der Bühne für den modernen Krieg gegen Ambivalenz, die mit Chaos und Mangel an Kontrolle identifiziert wird, deshalb Angst erregt und für die Vernichtung freigegeben wird. Sodann wird ein Überblick über die Elemente des Projekts der Modernefoci imaginarii