cover

Carola Dietze

Die Erfindung
des Terrorismus

in Europa, Russland
und den USA 1858–1866

Hamburger Edition

Meinen russischen Gasteltern,

Nina Michajlovna Kolosova und Sergej Maksimovič Vonskij (†),

sowie CB

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung

Mittelweg 36

20148 Hamburg

www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2016 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-663-7

© 2016 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-299-8

Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras

Karten: Peter Palm, Berlin

Satz aus der DTL Dorian von Dörlemann Satz, Lemförde

Coverabbildungen

Bildausschnitte aus (von oben nach unten):

Felice Orsini: Sailko via Wikimedia Commons
John Brown: Wikimedia Commons/Fotograf: Martin M. Lawrence
Oskar Wilhelm Becker: © Generallandesarchiv Karlsruhe, 250 Nr. 10
John Wilkes Booth: Library of Congress, Prints and Photographs Division,
LC-DIG-ppmsca-19233, Fotograf: Alexander Gardner

Dmitrij Vladimirovič Karakozov: Staatliches Archiv der Russischen Föderation
(GARF), f. 1742, op. 1, d. 14778, 1.1

Inhalt

Einleitung

I Theoretische und historische Voraussetzungen

Bausteine zu einer Theorie des Terrorismus: Begriff, Handlungslogik, Ursachen und Wirkungen

Konturen einer Geschichte des Terrorismus: Freiheit, Nation und Gewalt

II Bomben für die Nation Felice Orsinis Attentat auf Napoleon III. und die Entstehung Italiens

Die politische Blockade in den italienischen Staaten

Ein italienischer Revolutionär

Unter Revolutionären: Im Exil für Italien

Vom politischen Mord zur terroristischen Taktik

Das Attentat vor der Oper

Politisch-symbolisches Scheitern

Dialektik einer Niederlage: Durch Kooperation zum erfolgreichen Märtyrer

Orsinis Attentat und die Entstehung Italiens

III Transatlantische Kommunikation Die Berichterstattung über Orsinis Attentat in den USA

IV Geiseln für die Emanzipation John Browns Überfall auf Harpers Ferry und das Ende der Sklaverei in den USA

Die politische Blockade in den USA

Ein amerikanischer Revolutionär

Guerillakrieg zur Sklavenbefreiung: Die Entstehung eines Plans

Medien und Gewalt: Lektionen aus dem Bürgerkrieg von Kansas

Unter Neuenglands Eliten: Unterstützer und Theorien der Gewalt

Vom Guerillakrieg zur terroristischen Taktik

Vorbild Orsini? Argumente für transatlantische Inspirationen

Der Überfall auf Harpers Ferry

Politisch-symbolisches Scheitern

Mediale Selbstelevation: Vom Stigma zum Charisma

Amerikanische Ikone: Apotheose durch Intellektuelle im Norden

Amerikanischer Dämon: Sprachlosigkeit und Terror im Süden

Exekution und Märtyrerkult

Browns Überfall auf Harpers Ferry und das Ende der Sklaverei in den USA

V Transatlantische Kommunikation Die Berichterstattung zum Überfall auf Harpers Ferry in Europa

»Ein wahrer Michael Kohlhaas« John Brown als Freiheitsheld und Bibelchrist

Die politische Blockade in Russland

Die Radikalisierung der russischen intelligencija

Der wahre Rachmetov? John Brown als Vorbild Černyševskijs in »Was tun?«

VI Weiterentwicklung durch Nachahmer Die Universalisierung der terroristischen Taktik

Wilhelm, Abraham, Aleksandr: Drei terroristische Attentate

Die Täter: Novize, Zaungast und Theoretiker in Sachen (Gegen-)Revolution

Orsini und Brown: Interpersonale, mediale und transmediale Vorbilder

Tat, Propaganda, Opferbereitschaft: Die Erfindung des Bekennerschreibens

Politisch-symbolisches Scheitern

Schluss

Die Erfindung des Terrorismus

Perspektiven auf die Terrorismustheorie

Neue Perspektiven auf die Terrorismusgeschichte

Perspektiven für die weitere Forschung

Quellen und Literatur

Unveröffentlichte Quellen

Zeitungssammlungen und elektronische Datenbanken

Zeitungen

Veröffentlichte Quellen und Literatur

Dank

Register

Zur Autorin

Einleitung

 

Einen kurzen historischen Moment lang schien es so, als ob terroristische Gewalt in den etablierten Demokratien des Westens bald eine Sache der Vergangenheit sein würde. Nachdem die Kämpfe um Dekolonialisierung, in denen vielfach terroristische Taktiken eingesetzt wurden (man denke an den Algerienkrieg), in den 1960er Jahren überwiegend durch die Unabhängigkeit der Kolonien beendet worden waren, wurde der Terrorismus als Aktionsform zur Erreichung politischer Ziele zunächst gerade in Europa, Japan und den USA übernommen. So hielten in Deutschland seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre die Rote-Armee- Fraktion (RAF) und die Bewegung 2. Juni die Öffentlichkeit zunehmend in Atem. In Frankreich war die Action directe aktiv, in Italien die Brigate Rosse, in Japan die japanische Rote Armee Fraktion (Nihon sekigun) und in den USA beispielsweise die Gruppe Weather Underground. Der immer wiederkehrende Einsatz terroristischer Anschläge in langandauernden Konflikten wie dem zwischen Israel und den Palästinensern sowie in Bürgerkriegen von Sri Lanka bis Südamerika kam hinzu. Überdies bedienten sich auch Staaten gelegentlich der terroristischen Taktik.1

Mit dem Zerfall der Sowjetunion und des Warschauer Pakts konnte das Schicksal des Terrorismus in Deutschland und Europa jedoch als besiegelt erscheinen. Denn die Gesellschaftsentwürfe zumindest der linken terroristischen Gruppierungen büßten mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus einen großen Teil ihrer Überzeugungskraft ein. Die Nachricht, dass Wolfgang Grams – Angehöriger der dritten Generation der RAF – 1993 bei einem Schusswechsel mit einem Einsatzkommando der GSG-9 auf dem Bahnhof von Bad Kleinen getötet worden war, wirkte angesichts dessen schon fast wie ein Relikt aus der Vergangenheit. Die Selbstauflösung der RAF im Jahr 1998 konnte dagegen als logische Konsequenz der welthistorischen Entwicklungen gelten, zumal auch Gruppen, die primär für nationalistisch-ethnische Ziele fochten, begannen, ihre Waffen niederzulegen: So rief die Provisional Irish Republican Army (IRA) einen Waffenstillstand aus, und ihr politischer Arm Sinn Féin begann Verhandlungen, die 1998 zum Karfreitags-Friedensabkommen führten; auch die Euskadi Ta Askatasuna (ETA) trat in Gespräche ein, an deren Ende im Jahr 2011 die Aufgabe von Gewalt stand. In den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts konnte es folglich so scheinen, als ob sich Terrorismus als Mittel der politischen Auseinandersetzung in den Demokratien des Westens überlebt hatte.

Dass dieser Eindruck trog, war aufmerksamen Beobachtern allerdings bereits in dieser Zeit bewusst. Denn im gleichen Jahr, in dem im Juni Wolfgang Grams erschossen wurde, war im Februar eine Bombe in einem Transportfahrzeug explodiert, das in der Parkgarage unter dem World Trade Center in New York City abgestellt war. Die Bombe riss ein Loch in das Gebäude, das sich über sieben Stockwerke hinweg zog; sechs Personen starben, über tausend wurden verletzt. Die Ermittlungen brachten die Täterschaft sunnitischer Extremisten zutage. Und im gleichen Jahr, in dem im April das Karfreitags-Friedensabkommen geschlossen wurde und die RAF ihre Selbstauflösung bekannt gab, erfolgten im August Bombenanschläge auf die US-Botschaften in Nairobi und Dar es Salaam. Beide Anschläge wurden von Osama Bin Ladens Netzwerk verübt.2 In Deutschland beging derweil nur ein Jahr, nachdem die RAF die Waffen niedergelegt hatte, die rechtsextremistische Gruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) nach derzeitigem Ermittlungsstand die ersten terroristischen Gewalttaten: einen Sprengstoffanschlag in einer Nürnberger Kneipe sowie womöglich auch noch einen zweiten auf die sogenannte Wehrmachts-Ausstellung in Saarbrücken. Weitere Sprengstoffanschläge, Morde und ein Nagelbombenattentat folgten, wobei die Opfer Migranten und Migrantinnen der ersten und zweiten Generation sowie eine Polizistin waren. Nicht zuletzt weil diese Gewalttaten von den Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder über viele Jahre hinweg nicht als terroristische Anschlagsserie gedeutet wurden, beachtete die Öffentlichkeit sie zunächst allerdings wenig.

Die Anschläge vom 11. September 2001 (9/11) auf das World Trade Center in New York City und das Pentagon in Arlington, Virginia, setzten den Terrorismus unübersehbar auf die Agenda – und das weltweit. Auf der Insel Bali töteten im Oktober 2002 koordinierte Bombenanschläge auf Paddy’s Bar und den Sari Club, die vor allem von Urlaubern aus Europa und Australien besucht wurden, über 200 Menschen. Weitere 200 wurden zum Teil schwer verletzt. Verantwortlich für den Anschlag zeichnete die islamistische Organisation Jemaah Islamiyah; Osama Bin Laden, der sie bei der Ausführung unterstützt haben soll, übernahm ebenfalls Verantwortung. Da die meisten Opfer australische Staatsangehörige waren, ging der Anschlag im pazifischen Raum als »Südostasiatisches« oder »Australisches 9/11« in die Erinnerung ein. Ebenfalls im Oktober 2002 nahmen tschetschenische Separatisten über 900 Geiseln während des Musicals »Nord-Ost« im Moskauer Dubrovka-Theater. Als Spezialeinheiten das Gebäude stürmten, starben mindestens 130 Menschen – viele von ihnen durch den Einsatz eines Betäubungsgases. Im September 2004 wurden in einer Schule in Beslan in der zur Russischen Föderation gehörenden Republik Nordossetien-Alanien über eintausend Geiseln genommen, von denen nach offiziellen Angaben mehr als 300 ermordet wurden, als die Sicherheitskräfte das Gebäude einnahmen. Ein tschetschenischer Rebellenführer bekannte sich zu der Tat. Am 11. März (11-M) des gleichen Jahres starben nach offiziellen Angaben fast 200 Menschen bei zehn Bombenexplosionen in vollbesetzten Vorortzügen in Madrid; mehr als 2000 Menschen wurden teilweise schwer verletzt. Ein Jahr später, am 7. Juli 2005 (7/7), erfolgten ähnliche Anschläge auf die U-Bahn in London – wieder ein Jahr später in Mumbai und im November 2008 kamen dort noch einmal über 170 Menschen bei Überfällen zu Tode. Im Januar und im November 2015 erschütterten die Überfälle auf die Redaktion der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo, auf einen Supermarkt für koschere Waren, den Stade de France, die Teilnehmer eines Rockkonzerts im Bataclan-Theater sowie die Gäste verschiedener Cafés und Restaurants in den 10. und 11. Arrondissements von Paris Europa und die Welt. Nach offiziellen Angaben starben fast 150 Menschen; über 350 wurden verletzt, davon etwa 100 schwer. Im März 2016 folgten Anschläge auf den Flughafen und eine Metro-Station in Brüssel.3 Diesen terroristischen Anschlägen ließen sich viele weitere hinzufügen.

Heute sind beständig Bilder und Nachrichten von Anschlägen, Geiselnahmen und Entführungen präsent: in China, Thailand, Bangladesch, Indien, Pakistan, Afghanistan, im Irak, in Kuwait und im Jemen, in Israel und im Libanon, in Ägypten, Libyen, Tunesien, Algerien, Marokko, Mali, Nigeria, Kamerun oder Kenia. Seit der Eroberungszüge der Milizen des sogenannten ad-daula al-islāmiyya (Islamischer Staat; IS oder ISIS) sind zudem Syrien und die Türkei zunehmend vom Terrorismus betroffen. Anschläge in den USA, in Australien, Großbritannien, Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Norwegen, Schweden, Dänemark und Russland kommen hinzu. Innerhalb weniger Jahre ist terroristische Gewalt epidemisch geworden, und immer weniger Regionen der Welt sind davon ausgenommen.

Diese Intensivierung terroristischer Gewalt innerhalb weniger Jahrzehnte wurde sofort in historischen Kategorien gedeutet. Das gilt insbesondere für die Anschläge am 11. September 2001 in New York City und Arlington, Virginia. Um das Ausmaß und die Bedeutung der Ereignisse zu ermessen, betonten Kommentatoren und Politiker das Neue, das nie Dagewesene dieser Gewalt: »Diese neu aufgedeckte Gefahr eines groß angelegten, hochentwickelten Terrorismus« stelle »eine völlig neue Form von Gefahr dar«, »eine neue Form von Krieg«, ja »eine neue Form des Bösen«.4 Damit einher ging die Überzeugung von der welthistorischen Bedeutung der Anschläge. Kommentatoren sprachen vom »Wendepunkt der Geschichte«, von einem tiefen »Einschnitt in der Entwicklung der Menschheit« und vom Beginn eines neuen »Zeitalter des Terrorismus«.5 Von einer bedeutenden Zäsur ging auch der amerikanische Journalist Fareed Zacharia aus, als er »Das Ende vom Ende der Geschichte« konstatierte.6 Überdies waren historische Großkategorien präsent, wenn es um die Attentäter oder die Deutung ihrer Ziele ging. Sie wurden als »Barbaren« im Krieg gegen Amerika, gegen die »zivilisierte Völkergemeinschaft« und die westliche Moderne oder als eine unheilvolle Verbindung beider Welten charakterisiert: »Das Zusammentreffen der Internet-Geschwindigkeit aus dem 21. Jahrhundert mit dem Fanatismus des 12. Jahrhunderts hat unsere Welt in ein Pulverfass verwandelt«, so die Washington Post.7 Aus diesen und weiteren, ähnlich gelagerten Beobachtungen gingen Geschichtsbilder hervor, denen zufolge es sich bei den terroristischen Anschlägen seit der Jahrtausendwende einerseits um eine neue und andererseits um eine im Kern vormoderne, da mittelalterliche, religiöse (vor allem islamistische) Form von Gewalt handle, die sich insbesondere gegen die säkular-modernen, hochindustrialisierten Gesellschaften sowie ihre Institutionen und Repräsentanten richte. Diese weit verbreiteten Geschichtsinterpretationen blieben in der Folge abruf- und aktualisierbar – nicht zuletzt, weil sie bis heute in ihrem historischen Gehalt nicht grundlegend hinterfragt worden sind.

Solche historischen Einschätzungen vom Neuen und Beispiellosen der terroristischen Gewaltakte dienten bald schon der Legitimation neuer sicherheitspolitischer Maßnahmen und Strategien. »Seiner Meinung nach ist die Gefahr momentan die, zu traditionellen Antworten auf den Terrorismus zurückzufallen, die offensichtlich nicht funktioniert haben«, so David Remnick am 24. September 2001 in The New Yorker über den ehemaligen Chefunterhändler für den Nahost-Friedensprozess Dennis Ross: »Er sagte, ›Wir können nicht einfach die üblichen Maßnahmen ergreifen – ein paar Ziele bombardieren, falls es sich zeigt, dass diese Tat von Osama bin Laden begangen wurde. Wenn wir in der gewohnten alten Weise reagieren, wird sich nichts ändern.‹«8 Und als der stellvertretende Verteidigungsminister Paul D. Wolfowitz auf eine mögliche Verbindung der Attentäter zum Irak angesprochen wurde, sagte er: »Ich glaube, der Präsident hat heute sehr klar formuliert, dass es hier um mehr geht als um eine Organisation, um mehr als nur ein Ereignis […]. Und ich denke, jeder muss dieses Problem mit ganz anderen Augen und in einem ganz anderen Licht sehen nach dem, was am Dienstag vergangene Woche passiert ist.«9 Was damit konkret gemeint war, legte der Kolumnist William Safire einige Tage später in der New York Times in Form einer Frage nahe: »Beantworten wir unsere erste, katastrophale Niederlage auf einem gänzlich multilateralen Wege? […] Das hieße, einen terroristischen Krieg von gestern zu kämpfen. Oder erkennen wir jetzt die größere Gefahr einer Kriegführung mit Bakterien oder nuklearer Anschläge vonseiten einer nachweislich terroristischen Nation und verbinden die erwartete Vergeltung für die Anschläge dieses Monats mit einer Strategie des präventiven Gegenschlags?«10 Auf das Ungeheuerliche und Neue des Anschlags mussten neue Antworten gefunden werden.11 Auf diese Weise wurde die Geschichte des Terrorismus zum Argument für Politik und damit zugleich zum Gegenstand von Geschichtspolitik.

Die Geschichte des Terrorismus ist folglich politisch relevant. Rekurse auf normativ aufgeladene Dualismen wie Barbarei und Zivilisation, Mittelalter und Moderne – so verständlich sie auch sein mögen, um die Dimension des Geschehens in Worte zu fassen – bieten allerdings keinen Erklärungsansatz, der geeignet wäre, die neueren und älteren Entwicklungen in der Anwendung politischer Gewalt angemessen zu erfassen. Aufgabe der Geschichtswissenschaft ist es deshalb, gängige Narrative zur Geschichte des Terrorismus mit den ihr eigenen Mitteln zu überprüfen und zu korrigieren sowie gegebenenfalls neue Zusammenhänge aufzuzeigen, die zu einem besseren Verständnis der Geschichte und der Gegenwart dieses Gewaltphänomens beitragen können. Ziel dieses Buches ist eine solche historische Neuverortung der Entstehung des Terrorismus – nicht in der jüngeren Zeitgeschichte, sondern im 19. Jahrhundert –, und zwar im Kontext dessen, was üblicherweise und im analytischen Sinne als die sich herausbildende westliche Moderne bezeichnet wird.12 Denn diese Geschichte liefert den Schlüssel für ein Verständnis auch der gegenwärtigen Ausprägungen und Entwicklungen des Terrorismus im Kontext der Globalisierung dieser Moderne im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert.

Wann, wo und auf welche Weise entstand der Terrorismus? Das sind die Ausgangsfragen dieses Buches. Wie wurde diese spezifische Form politischer Gewalt erfunden, und wie und von wem wurde diese Taktik zuerst rezipiert, verbreitet und weiterentwickelt? Wenn hier bewusst von »Erfindung« gesprochen wird – im Gegensatz etwa zur allgemeinen Rede von den »Ursprüngen« oder der »Entstehung« des Terrorismus –, so nimmt dieser Begriff Konzepte aus der Soziologie und Philosophie auf, denen zufolge es nicht nur technische, sondern auch soziale, kulturelle und psychische Erfindungen gibt.13 Die Entstehung des Terrorismus ist das Ergebnis solcher Erfindungen. Dabei bezieht sich dieser Begriff konkret auf das Denken und Handeln einiger Akteure, die im Folgenden in den Blick genommen werden. Diese Akteure proklamierten (genau wie später die Mitglieder des NSU) »Taten statt Worte«. Zudem experimentierten sie mit älteren und neueren Formen aufständischer Gewalt und konnten dabei mit mehr oder weniger Geschick und Erfolg die Medienberichterstattung für sich nutzen. Über diese Medienberichterstattung erfuhren sie von ihren jeweiligen Vorgängern, lernten voneinander und entwickelten in diesem Lernprozess Muster des Gewalthandelns, die als Terrorismus zu bezeichnen sind, ohne dass die Täter selbst oder die Gesellschaften, in denen sie lebten, diesen Begriff bereits benutzt hätten – mit einer Ausnahme, wie sich zeigen wird. Dieser Lernprozess, in dem der Terrorismus folgenreich erfunden wurde, erstreckte sich über eine vergleichsweise kurze Zeitperiode, nämlich die acht Jahre von 1858 bis 1866, dafür aber über einen relativ ausgedehnten geografischen Raum: Europa, die USA und Russland – Länder und Kontinente, die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts durch ein dichtes Netz medialer Kommunikation miteinander verbunden waren.14

Wer waren die Erfinder des Terrorismus? Zunächst sind es zwei Personen, welche Gewalttaten begingen, die erstens den Kriterien für Terrorismus entsprechen, die zweitens das Ergebnis eines eigenständigen und eigensinnigen Denk- und Handlungsprozesses sind (und nicht etwa primär eine Kopie anderer, vorangegangener Taten) und die drittens anderen, späteren Terroristen nachweisbar als Vorbilder dienten: Felice Orsini, der 1858 in Paris ein Attentat auf Napoleon III. verübte, sowie John Brown, der im Jahr 1859 einen Überfall auf das Arsenal der US-Armee in Harpers Ferry, Virginia, beging. Die ersten Personen, für die hier nachgewiesen werden konnte, dass sie die terroristische Gewalttaktik Browns und Orsinis rezipierten und nachahmten sowie dabei weiterentwickelten und verbreiteten, waren Oskar Wilhelm Becker mit seinem gescheiterten Attentat auf den preußischen König Wilhelm I. im Jahr 1861, John Wilkes Booth, der 1865 den amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln erschoss, sowie Dmitrij Vladimirovič Karakozov, der 1866 einen Anschlag auf Zar Aleksandr II. versuchte. Mit diesen fünf Personen und ihren Gewalttaten ist der Terrorismus in seinen (zumindest für das 19. und 20. Jahrhundert signifikanten) politischen Richtungen – sozialrevolutionär, ethnisch-nationalistisch und rechtsradikal – fertig ausgeprägt.15

Diese fünf Gewalttäter und ihre Gewaltakte werden in diesem Buch eingehend untersucht. So wird jeweils nach historischen Kontexten, politischen Dynamiken, Vorbildern, Weltbildern, Ideen und Netzwerken sowie anderen Ursachen gefragt, die dazu beitrugen, dass die Täter sich entschieden, terroristische Gewalt anzuwenden. Überdies werden die Rezeption und die Deutungen und Wirkungen analysiert, die den Erfolg der Gewalttaten ermöglichten oder ihren Misserfolg bedingten.

Dabei zeigen sich insbesondere bei den Ursachenanalysen weitreichende Gemeinsamkeiten. Erstens knüpften alle fünf Täter an das Erbe der Französischen und der Amerikanischen Revolution an. Denn sie versuchten alle fünf, die Ideen dieser Revolutionen (so wie sie sie verstanden) konsequent umzusetzen, wo ihre Umsetzung nicht zu Ende geführt war, oder sie zu verteidigen, wo sie bedroht erschienen. Zwei revolutionäre Ideen standen dabei im Mittelpunkt: die Idee der Nation und die Idee der Freiheit. Bezüglich der Nationsidee ging es um politische Freiheit und staatliche Souveränität, also konkret um Nations- und Nationalstaatsbildung – »ein Zentralproblem der Zeit zwischen der Revolution 1848/49 und den 1870er Jahren«, wie Friedrich Lenger betont. Seine Feststellung ist auf die deutschen Länder bezogen, lässt sich jedoch auf andere Regionen Europas übertragen, etwa die italienischen Staaten.16 Hinsichtlich der Idee der Freiheit ging es konkret um die Abschaffung von Institutionen persönlicher Unfreiheit, also um die Emanzipation aus Sklaverei und Leibeigenschaft sowie die Verleihung sozialer und politischer Rechte an die ehemals Unfreien, oder um deren Verhinderung (wie im Fall von John Wilkes Booth).17

Zu den gemeinsamen gesellschaftspolitischen Voraussetzungen der Gewalttaten zählen zweitens politische Blockaden in den jeweiligen Gesellschaften, die zwar immer historisch spezifisch gelagert sind, sich aber in jedem Fall auf eine dieser beiden Ideen – Freiheit und Nation (oder im Fall Booths auf beide im Zusammenhang) – beziehen. Terrorismus als spezifische Form individueller, politischer Gewalt entstand genau dort, wo – wie in Italien und Frankreich sowie in den USA – die Versprechen der Amerikanischen und der Französischen Revolution und eine revolutionäre Tradition besonders präsent, diese Versprechen jedoch nur teilweise eingelöst worden waren und die dadurch entstehenden Konflikte zwischen sozialen Bewegungen, die dafür eintraten, diese Versprechen umzusetzen, und anderen gesellschaftlichen Kräften, die eine solche Umsetzung zu verhindern suchten, weder auf dem Weg etablierter politischer Institutionen noch auf dem Weg kollektiver Gewalt gelöst werden konnten.18 Entscheidend für die Rezeption und weitere Geschichte des Terrorismus ist jedoch, dass diese Form der Gewaltanwendung als universal einsetzbare Taktik sofort auch von gegenrevolutionären Akteuren und politischen Gruppierungen in anderen Teilen der Welt übernommen wurde: Das zeigen die Ermordung des amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln durch John Wilkes Booth sowie die Übernahme terroristischer Taktiken von Personen und Gruppen etwa in Indien oder China. Die revolutionären Forderungen nach persönlicher, politischer und nationaler Freiheit und Gleichheit oder der Kampf gegen die Verwirklichung ebendieser Forderungen blieben dabei auch für die Zukunft zentrale Antriebsmomente terroristischen Handelns.

Von größter Bedeutung für alle fünf Fälle ist drittens der in der Forschung etablierte Befund, dass es sich beim Terrorismus um eine Form von Gewalt handelt, die auf mediale Verstärkung einer symbolischen Gewalttat angewiesen ist, um politischen Erfolg erzielen zu können: »Terrorismus, das gilt es festzuhalten, ist primär eine Kommunikationsstrategie«, heißt es etwa bei Peter Waldmann.19 Dementsprechend ist Terrorismus – zumindest als überregionales Phänomen – nur im Kontext von Massenmedien und neuer Massenöffentlichkeit zu verstehen, also im Kontext der Transport- und Kommunikationsrevolution, die sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts durch Massenpresse, Telegrafie, Dampfschifffahrt und Eisenbahn im globalen Maßstab vollzog – am rasantesten zwischen Europa und den USA.20 Anders formuliert: Die Taktik des Terrorismus wurde in den Teilen der Welt erfunden und erfolgreich weiterentwickelt, wo die Transport- und Kommunikationstechnologien sowie die Medienlandschaft besonders weit fortgeschritten und wo die politisch interessierten Öffentlichkeiten besonders stark ausgeprägt waren: in Europa, Russland und den USA.21

Diese Feststellung nivelliert nicht die Unterschiede, die es diesbezüglich zwischen den und innerhalb der geografischen Einheiten gab. Denn gerade den beiden Personen, die als die entscheidenden Erfinder des Terrorismus gelten müssen, die beide mit ihren Gewalttaten erfolgreich waren und die zum Vorbild für die drei Nachahmer avancierten – Felice Orsini und John Brown – standen die französische und die amerikanische Transport-, Kommunikations- und Medienlandschaften zur Verfügung, die im Vergleich zu anderen Ländern in Europa sowie auch im Vergleich zu Russland noch einmal eine Vorreiterrolle einnahmen. Die Nachahmer hingegen, die den Terrorismus zwar weiterentwickelten, mit der Taktik jedoch keinen unmittelbaren Erfolg erzielten, konnten in den deutschen Ländern, in den USA unter den Bedingungen des Bürgerkriegs und in Russland in keiner vergleichbaren Medien- und Kommunikationssituation agieren. Doch wohnt der Feststellung dieser Unterschiede kein medialer Determinismus inne, das heißt: die Transport-, Kommunikations- und Medieninfrastruktur allein entschied nicht über den Erfolg oder Misserfolg der Gewalttaten. Wie die historische Analyse zeigt, waren andere Faktoren ausschlaggebend.

Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um eine Form der Geschichtsschreibung, die sich am besten als »transnationale Gesellschaftsgeschichte« fassen lässt.22 Denn es ist eine historische Untersuchung, die in der Orientierung am Phänomen des Terrorismus gesellschaftliche Strukturen, technisch-mediale Entwicklungen und Konstellationen, politische Dynamiken, soziale Bewegungen, Gruppen und Netzwerke, individuelle Akteure, politisch-soziale Ideen, gesellschaftliche und mediale Ereignisse sowie nationale und transnationale Rezeptionsprozesse für Europa, Russland und die USA analysiert, und zwar vergleichend sowie auch im nationalen und transnationalen Zusammenhang. Um das Ineinandergreifen und die wechselseitige Bedingtheit dieser für die Entstehung des Terrorismus entscheidenden Strukturen, Prozesse, Ereignisse, Akteure und Ideen zu erfassen, ist ein breites Spektrum historiografischer Herangehensweisen notwendig.23

Dementsprechend wird hier eine vergleichende Politik-, Sozial- und Ideengeschichte mit biografischen Fallstudien sowie einer transnationalen Kommunikations-, Medien- und Ideengeschichte verknüpft. Die strukturellen Ausgangsbedingungen, gesellschaftlichen Voraussetzungen, politischen Entwicklungen und Ideen sowie die sozialen Bewegungen, denen sich die Täter zugehörig fühlten, werden mit sozial-, politik- und ideengeschichtlichen Ansätzen vergleichend untersucht.24 Für die akteurszentrierte Analyse der Erfinder des Terrorismus sowie der von ihnen geplanten und ausgeübten Gewalthandlungen wird auf die inzwischen gut entwickelten Methoden der Biografieforschung zurückgegriffen. Mit ihrer Hilfe werden die Lebensläufe, Netzwerke, Weltbilder, Denkhorizonte, Motivationen sowie die Deutungen, Intentionen und Erwartungen der Täter historisch verortet.25 Da die terroristische Tat auf Rezeptionen und Reaktionen setzt, die über den Erfolg oder Misserfolg der Gewaltat entscheiden, kommt diesen Rezeptionen und Reaktionen für die Erfindung des Terrorismus eine entscheidende Bedeutung zu. Bei der Analyse dieser nationalen sowie transnationalen Rezeptionsprozesse erwiesen sich insbesondere die theoretischen und methodischen Reflexionen zur Transferforschung von Jürgen Osterhammel und Albert Wirz als inspirierend.26 Neben der Analyse von nationenübergreifenden Transferprozessen erforderten die Untersuchungen zur Rezeptionsgeschichte jedoch auch, die Reaktionen konkret in Raum und Zeit zu verankern, und das heißt: auf lokale räumliche Gegebenheiten sowie konkrete Transport- und Kommunikationsmittel zurückzuführen.27 Nur im Zusammenspiel all dieser Analyseebenen und -faktoren sowie der unterschiedlichen Perspektiven, die sie bedingen, lässt sich die Erfindung des Terrorismus angemessen analysieren.28

Genuin geschichtswissenschaftliche Forschung zur Entstehung und Entwicklung des Terrorismus ist rar.29 Die einflussreichsten Arbeiten zu terroristischen Anschlägen und Gruppen der Vergangenheit mit einer globalen Perspektive stammen von dem Politologen David C. Rapoport. Sein Aufsatz »Fear and Trembling: Terrorism in Three Religious Traditions« und seine Theorie der vier Wellen (four wave theory) ergeben zusammen eine übergreifende Theorie zur Entwicklungsgeschichte des Terrorismus.30 Demnach gibt es einen vormodernen Terrorismus, der religiös inspiriert sei, wofür Rapoport in Anschluss an Walter Laqueur die jüdischen Sicarii in ihrem Kampf gegen das Römische Reich, die Assassinen im mittelalterlichen Persien sowie die indischen Thugs nennt. Der moderne Terrorismus beginnt ihm zufolge im Jahre 1879 in Russland und lasse sich in vier ideologische Wellen einteilen: eine anarchistische, eine antikoloniale, eine neu-linke und eine religiöse. Als Welle definiert er einen »Zyklus an Aktivitäten in einer gegebenen Periode« von internationalem Charakter: »Ähnliche Aktivitäten geschehen in vielen Ländern; sie sind von einer gemeinsamen, vorherrschenden Energie angetrieben, welche die teilnehmenden Gruppen und ihre gegenseitigen Beziehungen untereinander formt.« Dabei sei jede Welle von einer anderen Energie angetrieben. Rapoport zufolge hielten diese Wellen jeweils eine Generation lang an, weshalb seine Theorie in den Terrorismusstudien wegen ihrer prognostischen Fähigkeit geschätzt wird.31 Die Entstehung der ersten Welle erklärt Rapoport mit Veränderungen in der Transport- und Kommunikationstechnologie (der Erfindung des Telegrafen, dem Ausbau der Eisenbahn und der Entstehung der Massenpresse) sowie ideengeschichtlich mit der Verbreitung demokratischer Vorstellungen und der Entdeckung der Logik des Terrors durch russische Revolutionäre.32

Rapoports Entwicklungstheorie erfasst gut den internationalen Charakter der großen Zyklen, wie sie sich für die Geschichte des Terrorismus vom Ende des 19. bis zum beginnenden 21. Jahrhundert beobachten lassen. Terroristische Gruppen, deren Anliegen keinen internationalen Widerhall fanden oder deren Forderungen den gerade global vorherrschenden Themen nicht entsprachen, bleiben dabei jedoch ausgeklammert.33 Das führt praktisch zum Ausschluss nationalistischer Gruppen aus der Entwicklungsgeschichte des Terrorismus.34 Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht ist zudem der Erklärungsansatz problematisch, denn das Explanans, also die Erklärung, der four wave theory (die Entdeckung der Logik des Terrorismus durch russische Revolutionäre oder die »Energie«, die die »Wellen« antreibt) ist in der historischen Untersuchung gerade das Explanandum, das Erklärungsbedürftige. Zudem handelt es sich bei dieser Theorie um eine Geschichte bekannter, großer Strukturen, die auf die Geschichte des Terrorismus hin gelesen werden. Analysen konkreter historischer Situationen oder Ereignisse fehlen dagegen. Aus diesem Grund behält die four wave theory einen hypothetischen Charakter und kann zwar Plausibilität, nicht aber Beweiskraft beanspruchen.

Das genaue Gegenteil trifft auf die Literatur zum politischen Attentat zu: Sie handelt vom politischen Mord als Ereignis.35 Die Bücher, die zu dieser umfangreichen Gattung gehören, stellen zumeist ausgewählte Attentate der Weltgeschichte in chronologischer Reihenfolge oder alphabetisch nach Täternamen vor. Manche dieser Darstellungen geben eine gute Einführung zu den Hintergründen, dem Ablauf und der Wirkungsgeschichte einzelner Attentate. Dies gilt etwa für den von Alexander Demandt herausgegebenen Band »Das Attentat in der Geschichte« oder Franklin L. Fords Monografie »Political Murder«. Ford, der sein Vorgehen explizit als »episodenhaft« und seine Methode als eine »Ereignisgeschichte« beschreibt,36 verfolgt den Anspruch, politische Morde in der gesamten Weltgeschichte von biblischen Zeiten bis zum Beginn der 1980er Jahre darzustellen. Er interessiert sich vor allem für die politischen Folgen von Attentaten. In seinen stärker analytisch geprägten Zusammenfassungen formuliert er überzeugende Beobachtungen zu den Zusammenhängen zwischen politischen Systemen und dem Vorkommen sowie der Funktion politischer Attentate; auch gelingt es ihm, weltweite Trends und Rezeptionsprozesse auszumachen. Insofern finden sich in diesem Genre wertvolle Beiträge zur Geschichte politischer Gewalt.

Für eine Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Terrorismus bleiben Geschichten politischer Morde gleichwohl eher Ausgangspunkt und Hilfsmittel. Denn da das einzige Auswahlkriterium der Bücher, die diesem Genre zuzurechnen sind, eine politische Motivation für den Mord ist, finden sich hier terroristische Angriffe neben Attentaten, die nicht als Terrorismus zu klassifizieren sind. Zudem kommen durch die vereinzelnde Behandlung der Fälle – oft durch unterschiedliche Autoren – die gemeinsamen Strukturen, die den politischen Morden unterliegen, sowie die Verbindungen, die es zwischen ihnen gibt, nur ausnahmsweise in den Blick.37 Eine zusammenhängende Geschichte der Entwicklung des Terrorismus entsteht auf diese Weise nicht.

Das Standardnarrativ zur Globalgeschichte des Terrorismus hat der Historiker Walter Laqueur in seiner 1977 erschienenen Studie zum Terrorismus als Phänomen politischer Gewalt ausgeprägt.38 Auch Laqueur zufolge lassen sich frühe Formen von Terrorismus bei den Sicarii, den Assassinen sowie den Thugs finden. Als Zäsur zum modernen Terrorismus bezeichnet er die Französische Revolution, in welcher der Begriff »Terror« (terreur) in seiner politisch-säkularen Bedeutung geprägt wurde. Als Ursache für die Entstehung des modernen Terrorismus benennt Laqueur die Aufklärung und den Aufstieg der revolutionären Prinzipien Demokratie und Nationalismus, also die Idee der Nation. Als wichtigste Organisation bezeichnet er allerdings die 1879 gebildete russische Gruppe Narodnaja Volja, und als ersten Höhepunkt terroristischer Gewalt beschreibt er die anarchistische »Propaganda der Tat« der 1890er Jahre.39 Darüber hinaus geht er am Beispiel von Iren, Armeniern und Mazedoniern auf den separatistischen Terrorismus ein und behandelt auch rechte Gruppen, etwa die rumänische Eiserne Garde, die deutschen Freikorps, die zionistischen Irgun und LEHI sowie die ägyptischen Muslimbrüder.40

Diese Erzählung von den antiken Vorformen in religiöser Gewalt und Tyrannenmord, den Ursprüngen des revolutionären Terrorismus im Terror der Französischen Revolution und seiner Entfaltung durch Narodnaja Volja im Zarenreich sowie durch anarchistische Einzeltäter in Westeuropa und den USA wird in den Terrorismusstudien bis heute als gültig angesehen. Über die Typenbildung von sozialrevolutionärem, ethnischnationalistischem und rechtsradikalem Terrorismus herrscht in der Terrorismusgeschichte im Prinzip ebenfalls Einigkeit. Dieser Konsens hat sich allerdings nicht in einer gleichgewichtigen Integration aller drei Typen von Terrorismus in der Terrorismusgeschichte niedergeschlagen.41

Seit 1977 gab es lediglich eine Veränderung und eine Erweiterung dieses Standardnarrativs: Die Veränderung besteht darin, dass die jüngere Literatur den Terrorismus irischer Gruppen des 19. Jahrhunderts als eine weitere Wurzel des Terrorismus gleichbedeutend neben die Gewalt der russischen und anarchistischen Bewegungen stellt.42 Darüber hinaus hat das Narrativ seit Ende der 1990er Jahre eine Erweiterung erfahren: Als neuer Typus ist der religiöse Terrorismus hinzugekommen, und die Gefahr neuer Waffen – insbesondere Massenvernichtungswaffen – ist stärker in den Blick getreten. Zusammengenommen brachten diese Entwicklungen in den Augen einiger Terrorismusexperten einen »neuen Terrorismus« hervor, der sich qualitativ vom Terrorismus bis etwa 1970 unterscheidet.43

Im Rahmen dieses Standardnarrativs zur Entstehung und Entwicklung des Terrorismus im 19. Jahrhundert – mit oder ohne Veränderung und Erweiterung – haben viele Autoren seit Ende der 1970er Jahre die Forschung mit wichtigen Beiträgen bereichert. So haben neben Laqueur auch verschiedene andere Autoren zu einer Ideengeschichte des Terrorismus im 19. Jahrhundert beigetragen, indem sie anhand von Selbstaussagen und Strategiepapieren von Terroristen die Entstehung des Konzepts der »terroristischen Revolution« und die Entwicklung des professsionellen Revolutionärs als Typus analysiert, die Rezeption des Jakobinischen Terrors und der Idee der »Propaganda der Tat« beschrieben und die Auseinandersetzungen zwischen Marx, Engels und den Anarchisten behandelt haben. Dabei betonen die meisten von ihnen die Bedeutung der gescheiterten Revolutionen von 1848/49 und die Erfahrung der brutalen Niederschlagung der Pariser Commune von 1871, die einen Strategiewechsel und neue Taktiken im revolutionären Kampf notwendig erscheinen ließen.44 Populäre Abhandlungen über die Geschichte des Terrorismus sind fasziniert von terroristischen Organisationen als Geheimgesellschaften; sie verweisen damit auf einen Aspekt der Terrorismusgeschichte, der in akademischen Abhandlungen bislang zu wenig systematisch erforscht wurde.45 Darüber hinaus hat Matthew Carr damit begonnen, kulturelle Reaktionen, Rezeptionen und Repräsentationen von Terroristen und ihren Gewalttaten insbesondere auf dem Feld der Literatur zu erschließen und in die Geschichte des Terrorismus zu integrieren, Christine Hikel und Sylvia Schraut haben ähnliche Vorstöße auf dem Feld von Terrorismus, Geschlecht und Erinnerung vorgenommen, und Dirk Blasius sowie jetzt auch Martin A. Miller haben die Geschichte des Terrorismus als Interaktion von staatlicher und aufständischer Gewalt erzählt.46

In der Historiografie, die dem Standardnarrativ folgt, herrscht im allgemeinen Konsens, dass der Terrorismus ein Produkt der europäischen Moderne war, und zwar in Bezug auf beide Dimensionen der Aussage: Terrorismus als Produkt Europas und der Moderne. So findet sich die Annahme Noel O’Sullivans, »der Terrorismus in seiner modernen Form ist als ein spezifisch europäisches Phänomen entstanden«, explizit oder implizit in den meisten Darstellungen zur Terrorismusgeschichte.47

Dementsprechend kommen die Vereinigten Staaten im Standardnarrativ nur am Rande vor. Denn diesem Narrativ zufolge kam der Terrorismus in die USA durch die Immigration von traditionell gewaltbereiten Iren sowie deutschen und russischen Sozialisten und Anarchisten wie Karl Heinzen, Johannes Most und Emma Goldman, die wegen ihrer radikalen politischen Anschauungen aus Europa fliehen mussten.48 Diese Sicht entspricht ganz der zeitgenössischen Wahrnehmung in den USA: So behauptete der russische Immigrant Alexander Berkman nach seinem Attentat auf den Industriellen Clay Frick 1892, »den ersten terroristischen Akt in Amerika« ausgeführt zu haben, und in Politik und Öffentlichkeit galten strengere Immigrationsgesetze als entscheidender Beitrag zur Terrorismusbekämpfung.49 Zwar räumt Laqueur ein, dass die Auseinandersetzungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern in den USA von Anfang an gewalttätiger gewesen seien als in Europa, und Albert Parry führt zahlreiche gewaltsame Auseinandersetzungen an, angefangen bei den Kriegen zwischen Siedlern und den amerikanischen Ureinwohnern. Da es sich hierbei nicht um »absichtlichen politischen Terror sozialistischer oder anarchistischer Kategorie« gehandelt habe, zählt Parry diese Gewaltakte jedoch nicht zum Terrorismus. Auch die Attentate auf Abraham Lincoln 1865 und James Garfield 1881 gehören für ihn nicht dazu, da es sich dabei seiner Ansicht nach nicht um revolutionäre Gewalt gehandelt habe.50 Damit folgte er ganz der Definition von Terrorismus als Gewalt im Dienste sozialistischer und anarchistischer Ziele, die Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre in den Sozialwissenschaften verbreitet war. Doch selbst die Haymarket-Square-Ereignisse in Chicago oder der Anschlag auf das Gebäude der Los Angeles Times, die typischerweise als Beispiele für Terrorismus in den USA gelten,51 waren Laqueur zufolge nicht dem europäischen Terrorismus vergleichbar, da in den USA nicht die Regierung gestürzt oder ein Systemwechsel herbeigeführt werden sollte, sondern es um begrenzte Ziele gegangen sei.52 Dagegen schrieb Rapoport bereits 1971, dass mit den Sons of Liberty aus der Zeit der Amerikanischen Revolution und dem Ku-Klux-Klan die ersten erfolgreichen terroristischen Bewegungen in den USA entstanden seien. Da diese amerikanischen Bewegungen – anders als die europäischen – keine Theorie ihres Handelns entworfen hätten, sah aber auch Rapoport den Ursprung des modernen Terrorismus in Europa.53

Nicht zuletzt wegen dieser europäischen Orientierung des Standardnarrativs der Terrorismusgeschichte wurde in den USA der Terrorismus lange als ein dem Land äußerliches Phänomen wahrgenommen. So stellte 2004 der Publizist Michael Kronenwetter selbstkritisch fest: »Vor dem 11. September 2001 haben die meisten Amerikaner Terrorismus als etwas betrachtet, das Amerika fremd war. Terrorismus war eine fürchterliche Sache, sagten wir uns, aber es war etwas, das im Nahen Osten passierte. Oder in Lateinamerika. Oder in Nordirland. Oder auf dem europäischen Kontinent. Es passierte nicht hier. […] Sogar wenn es unbestreitbar hier passierte – etwa als 1995 das Alfred-P.-Murrah-Gebäude [in Oklahoma City, C. D.] von einer Bombe zerstört wurde, die in einem Laster versteckt war –, haben wir das als Anomalie abgetan.«54 Terrorismus – so beschreibt Kronenwetter das Selbstverständnis in den USA vor dem Anschlag vom 11. September 2001 – passierte nur anderswo. Zu dieser Überzeugung konnte man ihm zufolge kommen, weil die terroristischen Anschläge, die es in den USA gab, nicht als Terrorismus bezeichnet worden seien, sondern als Widerstand gegen die Politik der Reconstruction nach dem Bürgerkrieg, als Arbeitsunruhen oder als Alleingänge von Amokläufern. Nach den Angriffen auf das World Trade Center und das Pentagon, so Kronenwetter, habe sich diese Wahrnehmung nun ins andere Extrem verkehrt: »Amerikaner haben aufgehört, terroristische Anschläge als seltene, vereinzelte und fast anarchische Ereignisse zu betrachten, und begonnen, sie als Zwischenfälle in einem permanenten Krieg zu sehen.«55 Der Historiker Michael Fellman bestätigte Kronenwetters Befund, als er 2010 schrieb: »Amerikaner ziehen es vor, Terrorismus als etwas zu sehen, was dem ›American Way‹ äußerlich ist, als abnorm.«56 Zu einer weitergehenden Erforschung dieses Phänomens politischer Gewalt reizt eine solche Grundüberzeugung nur wenig.

Vielleicht ist dies der Grund, warum die Geschichte des Terrorismus in den USA in der amerikanischen Nationalgeschichtsschreibung bis heute wenig untersucht ist. Zwar haben Historiker seit Beginn des 20. Jahrhunderts und verstärkt seit den 1970er Jahren eine Reihe von Studien zu Klassenkämpfen in den USA, dem amerikanischen Anarchismus und zum Ku-Klux-Klan vorgelegt,57 in diesen Untersuchungen liegt der primäre Fokus jedoch nicht auf der Gewalt. Gerade in der Geschichtsschreibung zum linken Radikalismus wurde der Begriff »Terrorismus« sorgsam gemieden, um gängigen Stereotypisierungen vorzubeugen. In ihrem Forschungsüberblick zum Terrorismus in den USA hat Beverly Gage deshalb 2011 festgestellt: »Als die Anschläge vom 11. September geschahen, hatten Amerikaner bereits Geschichten vom Terrorismus […]. Was es nicht gab, war eine kohärente Geschichtsschreibung zum Terrorismus, eine eindeutige Art und Weise, die Rolle einzuschätzen, die solche Gewalt in der amerikanischen Geschichte gespielt hat (oder auch nicht).«58 Daran hat sich seit den Anschlägen vom 11. September 2001 nur wenig geändert. Zwar scheint es, dass der Begriff »Terrorismus« seitdem als verkaufsfördernd eingeschätzt wird und deshalb für verschiedene Personen und Gruppen verwandt wird, vom outlaw Jesse James und den konföderierten Guerillas im Bürgerkrieg bis hin zu den Bomben auf dem Haymarket Square und Angriffen auf die Gebäude der Los Angeles Times und der Wall Street.59 Der Mehrzahl dieser Untersuchungen bleibt der Aspekt des Terrorismus jedoch äußerlich, und die Studien, die sich tiefer auf diese Form der Gewaltausübung einlassen, beschränken sich auf einzelne Ereignisse, ohne längere Entwicklungslinien oder breitere Kontexte in den Blick zu nehmen. »Während nun beides – der Begriff und das Konzept des Terrorismus – häufiger und in einer großen Bandbreite von Büchern erscheinen, sprechen wenige dieser Arbeiten zueinander, und bei Weitem noch weniger unternehmen auch nur den Versuch, zu einem umfassenden Verständnis der Rolle des Terrorismus in der Geschichte Amerikas zu gelangen«, resümiert Gage dementsprechend.60

Allerdings gibt es inzwischen erste Versuche, die Bedeutung von Attentaten und terroristischer Gewalt für die amerikanische Geschichte aufzuzeigen. Sie stammen von dem Journalisten James McKinley, von dem Politikwissenschaftler James M. Lutz und seiner Frau Brenda J. Lutz sowie von den Historikern Michael Fellman und Martin A. Miller. McKinley begann nach der Ermordung John F. Kennedys, nach Attentaten und ihren Auswirkungen in der amerikanischen Geschichte zu suchen. Er stellte mithilfe der Literatur unterschiedliche Mordanschläge mit einem ereignishaften Charakter zusammen, ohne diese Attentate selbst zu erforschen oder in Kontexte und Strukturen einzubetten. Lutz und Lutz, Fellman, aber auch Miller definieren Terrorismus so breit, etwa als »gegenseitiger Austausch einschüchternder Gewalt«, dass es sich ihnen zufolge bei der überwiegenden Anzahl von Gewaltphänomenen der amerikanischen Geschichte um Terrorismus handelt.61 Damit wird die Analyse des Terrorismus im engeren Sinne jedoch unscharf.

Abgesehen von ihrer Übereinstimmung hinsichtlich der geografischen Verortung des Terrorismus stellen die Autoren, die dem Standardnarrativ folgen, ebenfalls übereinstimmend fest, dass der Terrorismus ein Phänomen der Moderne ist. Zwar habe es in den Jahrhunderten vor der Französischen Revolution Vorformen dieses Typus politischer Gewalt gegeben.62 Der Terrorismus im modernen Sinn habe sich jedoch im ausgehenden 18. Jahrhundert bzw. im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Europa herausgebildet, wobei meist die Anarchistische Internationale 1876 (auf der erstmals die Strategie der »Propaganda der Tat« vorgeschlagen wurde) oder das Gründungsjahr der Narodnaja Volja 1879 als Entstehungsdaten gelten.63 Zudem hat Claudia Verhoeven die Reaktion der russischen Regierung auf das Attentat von Karakozov 1866 als Entstehungsmoment vorgeschlagen.64

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