Frank Dikötter

Diktator werden

Populismus,
Personenkult und die
Wege zur Macht

Aus dem Englischen von
Henning Dedekind und
Heike Schlatterer

Klett-Cotta

Hinweis zur Übersetzung: Henning Dedekind hat
die Kapitel 1, 2, 5–​8 übersetzt und die Bibliographie bearbeitet.
Die Übersetzung der Kapitel 2 (»Hitler«) und
4 (»Mao Zedong«) stammt von Heike Schlatterer.

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»How to be a Dictator. The Cult of Personality in the

Twentieth Century« im Verlag Bloomsbury Publishing, London

© 2019 by Frank Dikötter

Für die deutsche Ausgabe

© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung eines Fotos von © World History Archive /
Alamy Stock Photo, Bildnr. EX6GAD

Abbildung auf Seite 8: W. M. Thackeray, The Paris Sketch Book, London:
Collins’ Clear-Type Press, 1840. © INTERFOTO / Sammlung Rauch

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98189-6

E-Book: 978-3-608-11599-4

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

»Zuvörderst wird also angenommen: dass alle Menschen ihr ganzes Leben hindurch beständig und unausgesetzt eine Art der Macht nach der anderen sich zu verschaffen bemüht sind; nicht darum, weil sie nach einer immer größeren Macht als die ist, welche sie schon besitzen, streben, oder sich an einer mäßigen nicht genügen können, sondern weil sie ihre gegenwärtige Macht und Glückseligkeit zu verlieren fürchten, wenn sie dieselben nicht noch vermehren.«

Thomas Hobbes(1), Der Leviathan[1]

Vorwort

Im Jahr 1840 veröffentlichte der für seine Satiren über die Großen und Mächtigen berühmte Romancier William Thackeray(1) eine Karikatur von Ludwig XIV.(1) Zu seiner Linken steht eine Kleiderpuppe mit des Königs Schwert, seinem mit Hermelin und bourbonischen Lilien verzierten Gewand, seiner wallenden Lockenperücke und seinen Schuhen mit den aristokratischen Absätzen. In der Bildmitte steht der Mann selbst als erbärmlicher Ludovicus in Unterwäsche mit dürren Beinen, einem hervorstehenden Bauch, kahl, bloß und zahnlos. Auf der rechten Seite indes sieht man ihn als voll bekleideten, stolzen Ludovicus Rex in vollem Ornat. Thackeray(2) hatte den Sonnenkönig entkleidet, um den Menschen dahinter zu zeigen, zerbrechlich und erbarmungswürdig, ohne die Insignien der Macht: »So machen Barbiere und Schuster die Götter, die wir verehren.«[2]

»L’État, c’est moi«, soll der berühmte Herrscher des 17. Jahrhunderts angeblich gesagt haben: »Der Staat bin ich.« Aus Ludwigs(1) Perspektive war er allein Gott verantwortlich. Er war ein absoluter Monarch, der seine autokratische Macht mehr als siebzig Jahre lang dazu nutzte, den Adel zu schwächen, den Staat zu zentralisieren und sein Hoheitsgebiet mit Waffengewalt zu erweitern. Er stellte sich als unfehlbarer Sonnenkönig dar, um den sich alles andere drehte. Durch Orden, Gemälde, Büsten, Statuen, Obelisken und Triumphbögen sorgte er dafür, dass er im ganzen Reich entsprechend verherrlicht wurde. Dichter, Philosophen und offizielle Geschichtsschreiber hoben seine Errungenschaften hervor und priesen ihn als allwissend und omnipotent. Im Südwesten von Paris(1) ließ er ein königliches Jagdhaus zum Schloss von Versailles(1) umbauen, einem monumentalen Palast mit 700 Zimmern und weitläufigem Anwesen, wo er Hof hielt und seine adligen Höflinge zwang, um seine Gunst zu buhlen.[3]

Ludwig XIV.(2) war ein Meister des Polittheaters, doch betreiben alle Politiker bis zu einem gewissen Grad Meinungsmache und Imagebildung. Ludwig XVI.(1), ein Großenkel des Sonnenkönigs, wurde nach der Revolution 1789 auf der Guillotine hingerichtet, und mit ihm wurde auch die Vorstellung des Gottesgnadentums beerdigt. Die Revolutionäre waren der Ansicht, dass souveräne Rechte vom Volk ausgingen, nicht von Gott. In den Demokratien, die sich in den folgenden zwei Jahrhunderten nach und nach bildeten, begriffen die Führer, dass sie für das Wahlvolk attraktiv sein mussten, da dieses an der Urne über ihre weitere Karriere befand.

Freilich gab es außer Wahlen noch andere Mittel und Wege, an die Macht zu gelangen. Man konnte einen Staatsstreich organisieren oder das System manipulieren. Im Jahr 1917 stürmten Lenin(1) und die Bolschewiki das Winterpalais(1) und riefen eine neue Regierung aus. Später bezeichneten sie ihren Coup als »Revolution« im Geiste von 1789. Wenige Jahre danach, 1922, marschierte Mussolini(1) auf Rom(1) und zwang das Parlament, ihm die Macht zu übergeben. Doch wie auch andere Diktatoren stellten beide fest, dass bloße Macht ein Verfallsdatum besitzt. Durch Gewalt erlangte Macht muss durch Gewalt aufrechterhalten werden, doch Gewalt ist bisweilen ein stumpfes Instrument. Ein Diktator benötigt daher loyale Streitkräfte, eine Geheimpolizei, eine Prätorianergarde, Spione, Informanten, Vernehmer, Folterknechte. Am besten ist es jedoch, so zu tun, als wäre Zwang in Wirklichkeit Zustimmung. Ein Diktator muss seinem Volk Angst einflößen, doch wenn er es dazu verführen kann, ihn zu bejubeln, hält er sich wahrscheinlich länger. Kurz: Das Paradoxon des modernen Diktators ist, dass er die Illusion breiter Unterstützung seitens der Bevölkerung erzeugen muss.

Das gesamte 20. Jahrhundert hindurch jubelten Hunderte Millionen Menschen ihren jeweiligen Diktatoren zu, selbst wenn diese sie unterjochten und versklavten. In vielen Ländern der Erde blickte ein Diktator von Plakatwänden und Gebäuden herab; in den Schulen, Büros und Fabriken hingen seine Porträts. Gewöhnliche Menschen mussten sich vor seinem Ebenbild verneigen, an seiner Statue vorbeidefilieren, seine Taten rühmen, seinen Namen loben, sein Genie preisen. Moderne Technologien von Radio und Fernsehen bis hin zur industriellen Produktion von Postern, Plaketten und Büsten machten diese Diktatoren in einem Maße allgegenwärtig, das zu Zeiten Ludwigs XIV.(3) unvorstellbar gewesen wäre. Selbst in relativ kleinen Ländern wie Haiti(1) waren Tausende regelmäßig gezwungen, ihrem Führer zuzujubeln, vor dem Präsidentenpalast(1) aufzumarschieren und damit die in Versailles(2) veranstalteten Festivitäten in den Schatten zu stellen.

Im Jahr 1956 denunzierte Nikita Chruschtschow(1) Josef Stalin(1) und schilderte dessen Schreckensherrschaft in allen Einzelheiten. Die »widerliche Verherrlichung« und den »Größenwahn« seines einstigen Herrn und Meisters bezeichnete er als »Kult des Individuums«. Später wurde in der Übersetzung daraus der Begriff des »Personenkults«. Es mag sich dabei nicht um das exakt entwickelte Denkmodell eines großen Gesellschaftswissenschaftlers handeln, aber die meisten Historiker finden ihn ziemlich passend.[4]

Ludwig XIV.(4) war noch minderjährig, da wurde Frankreich(1) durch eine Reihe von Aufständen erschüttert, als der Adel versuchte, die Macht der Krone zu beschränken. Dieses Ziel wurde nicht erreicht, doch die Ereignisse hinterließen einen tiefen Eindruck bei dem jungen König(5), der sich zeit seines Lebens vor einer Rebellion fürchtete. Er verlegte das Machtzentrum von Paris(2) nach Versailles (3)und zwang die Adligen, Zeit am Hofe zu verbringen, wo er(6) sie dabei beobachten konnte, wie sie um seine königliche Gnade wetteiferten. Diktatoren hatten ebenfalls Angst vor ihrem eigenen Volk, aber noch mehr fürchteten sie sich vor ihrer höfischen Entourage. Sie waren schwach. Wären sie stark gewesen, hätte eine Mehrheit sie gewählt. Stattdessen entschlossen sie sich dazu, eine Abkürzung zu nehmen, und gingen dabei oft über die Leichen ihrer Gegner. Wenn jedoch sie die Macht an sich reißen konnten, würde dies auch anderen gelingen, sodass jederzeit die Möglichkeit eines Meuchelmordes im Raum stand. Rivalen, die meist nicht weniger skrupellos waren, gab es durchaus. So war Mussolini(2) lediglich einer von mehreren etablierten Faschistenführern und hatte vor seinem Marsch auf Rom(2) im Jahr 1922 eine Rebellion in den eigenen Reihen überstehen müssen. Stalin(2) verblasste im Vergleich zu Trotzki(1). Mao(1) wurde in den 1930er-Jahren mehrfach von mächtigeren Rivalen seiner Posten enthoben. Kim(1) Il-sung wurde 1945 von der Sowjetunion(1) einer unwilligen Bevölkerung vorgesetzt und sah sich von kommunistischen Führern umgeben, die ein weit beeindruckenderes Portfolio an Untergrundaktivitäten vorweisen konnten.

Für einen Diktator bestanden viele Möglichkeiten, sich den Weg an die Macht zu ebnen und dabei seine Rivalen loszuwerden. Es gab blutige Verfolgungen, Manipulationen oder Teile-und-herrsche-Strategien, um nur einige zu nennen. Langfristig jedoch erwies sich der Personenkult als effizienteste Option. Der Kult erniedrigte Verbündete und Gegner gleichermaßen, da er sie durch eine allgemeine Unterdrückung zur Kooperation zwang. In erster Linie aber machte ein Diktator die Menschen zu Lügnern, indem er sie nötigte, ihm vor den Augen und Ohren der anderen zu huldigen. Wenn aber alle logen, wusste niemand mehr, wer tatsächlich log, was es schwieriger machte, Komplizen zu finden und einen Staatsstreich zu organisieren.

Wer schuf den Kult? Beteiligt waren Hagiographen, Fotografen, Theaterschriftsteller, Komponisten, Dichter, Redakteure und Choreographen ebenso wie mächtige Propagandaminister und bisweilen sogar ganze Industriezweige. Letztendlich aber lag die Verantwortung bei den Diktatoren selbst. »In einer Diktatur beginnt die Politik mit der Persönlichkeit des Diktators«, schrieb Mao(2) Zedongs Leibarzt(1) in seinen Memoiren.[5] Die acht Diktatoren in diesem Buch besaßen ganz unterschiedliche Persönlichkeiten, doch jeder von ihnen traf die wichtigsten Entscheidungen zur eigenen Verherrlichung selbst. Manche griffen öfter ins Geschehen ein als andere. Einem Bericht zufolge soll Mussolini(3) die Hälfte seiner Zeit damit verbracht haben, sich als allwissender, allmächtiger und unverzichtbarer Herrscher Italiens(1) zu inszenieren – daneben leitete er noch über ein halbes Dutzend Ministerien. Stalin(3) stutzte seinen Personenkult regelmäßig zurecht, wenn er den Eindruck gewann, dass bestimmte Lobeshymnen nun zu viel des Guten seien – jedoch nur um sie ein paar Jahre später wieder zuzulassen, wenn er befand, nun sei die Zeit reif dafür. Ceauşescu(1) propagierte zwanghaft seine eigene Person. Auch Hitler(1) achtete hinsichtlich seines Bildes in der Öffentlichkeit in den Anfangsjahren peinlich genau auf jedes Detail, wenngleich er später im Vergleich zu anderen Diktatoren ungewöhnlich viel delegierte. Alle schöpften die Ressourcen des Staates voll aus, um Eigenwerbung zu betreiben. Schließlich waren sie ja der Staat.

Natürlich rückten nicht alle Historiker einen Diktator in den Mittelpunkt. Ian Kershaw(1) bezeichnete Hitler(2) bekanntlich als »Unperson«, als mittelmäßigen Menschen, dessen persönliche Eigenschaften seine Wirkung in der Öffentlichkeit nicht erklären könnten. Seiner Meinung nach galt es, »das deutsche(1) Volk« und dessen Wahrnehmung Hitlers genauer zu beleuchten.[6] Woher aber soll man wissen, wie die Menschen über ihren Führer dachten, wenn doch die Meinungsfreiheit stets das erste Opfer einer Diktatur ist? Hitler(3) wurde nicht von einer Mehrheit gewählt, und nach der Machtergreifung steckten die Nazis innerhalb eines Jahres an die 100 000 ganz normale Leute ins Konzentrationslager. Die Gestapo, die SA und die Gerichte zögerten ebenfalls nicht, diejenigen einzusperren, die ihrem Führer nicht gebührend huldigten.

Bisweilen schien die vermeintliche Ergebenheit des Volkes so spontan Ausdruck zu finden, dass außenstehende Beobachter – und spätere Historiker – diese für echt hielten. Der Stalin(4)-Kult, so hieß es immer, »war allgemein anerkannt und innerhalb der Bevölkerung von Millionen Menschen aller Schichten, Alters- und Berufsgruppen verinnerlicht, insbesondere in den Städten«.[7] Diese Aussage ist vage und unbegründet; sie ist nicht mehr oder weniger falsch als ihr Gegenteil: Millionen sowjetischer(2) Bürger unterschiedlichster Herkunft waren dem Stalin(5)-Kult nicht verfallen, insbesondere auf dem Land. Selbst treue Anhänger vermochten nicht die Gedanken ihres Führers zu lesen, geschweige denn die Gedanken der Millionen Menschen, deren Leben vom System reglementiert wurde.

Diktatoren, die sich an der Macht hielten, besaßen viele Fähigkeiten. Viele konnten außergewöhnlich gut ihre Gefühle verbergen. Mussolini(4) hielt sich für den besten Schauspieler Italiens(2). In einem Augenblick der Unachtsamkeit bezeichnete sich auch Hitler(4) einmal als größten Darsteller Europas. In einer Diktatur lernten jedoch auch viele gewöhnliche Menschen, sich zu verstellen. Sie mussten auf Kommando lächeln, die Linie der Partei nachbeten, deren Slogans brüllen und ihren Führer grüßen. Kurz, man erwartete von ihnen, dass sie eine Illusion der Zustimmung erzeugten. Diejenigen, denen dies nicht gelang, wurden bestraft, inhaftiert und gelegentlich auch erschossen.

Es ging nicht so sehr darum, dass wenige Menschen ihre Diktatoren bewunderten, sondern darum, dass niemand so recht wusste, was die anderen dachten. Der Sinn und Zweck des Kults war es nicht zu überreden oder zu überzeugen. Er bestand vielmehr darin, Verwirrung zu stiften, den gesunden Menschenverstand ad absurdum zu führen, Gehorsam zu erzwingen, Individuen voneinander zu isolieren und ihre Würde zu brechen. Die Menschen mussten sich selbst zensieren und gleichzeitig andere beobachten. Wer in seinen Treuebekundungen dem Führer gegenüber nicht hinreichend aufrichtig erschien, wurde denunziert. Unter der Oberfläche der scheinbaren Gleichförmigkeit existierte ein breites Spektrum: von denjenigen, die ihren Führer tatsächlich idealisierten – echte Anhänger, Opportunisten, Schläger –, bis hin zu jenen, die gleichgültig, apathisch oder sogar feindselig waren.

Diktatoren waren zuhause beliebt, wurden jedoch auch von Ausländern bewundert, etwa von angesehenen Intellektuellen und bekannten Politikern. Einige der größten Geister des 20. Jahrhunderts waren bereit, im Namen eines höheren Ziels die Tyrannei zu ignorieren oder sogar zu rechtfertigen, und festigten damit die Legitimation ihrer Lieblingsdiktatoren. Auf diesen Seiten treten sie nur flüchtig in Erscheinung, da sie bereits Gegenstand einiger ausgezeichneter Studien sind, nicht zuletzt eines jüngeren Werks von Paul Hollander(1).[8]

Da ein Kult aufrichtig populär wirken musste, so als wäre er aus den Herzen der Menschen hervorgetreten, war er unweigerlich mit Aberglauben und Magie durchtränkt. In manchen Ländern waren die religiösen Untertöne so auffällig, dass man versucht sein könnte, an eine bestimmte Form von säkularer Anbetung zu denken. In jedem einzelnen Fall wurde dieser Eindruck jedoch bewusst von oben kultiviert. Hitler(5) präsentierte sich als Messias, den ein mystischer, quasireligiöser Bund mit den Massen vereinte. François Duvalier(1)(1) gab sich große Mühe, als Voodoo-Priester zu erscheinen, was Gerüchte um seine übernatürlichen Kräfte entfachte.

Besonders in kommunistischen Regimen bestand die Notwendigkeit eines wie auch immer gearteten traditionellen Fundaments. Der Grund dafür war einfach: In vorwiegend ländlich geprägten Gesellschaften wie Russland(1), China(1), Korea(1) oder Äthiopien(1) konnten nur wenige etwas mit dem Marxismus-Leninismus anfangen. Den Führer als eine Art Heiligen verehren zu lassen war deutlich wirksamer als die abstrakte politische Philosophie des dialektischen Materialismus, die von einer vorwiegend analphabetischen Bevölkerung auf dem Lande kaum verstanden wurde.

Was in einer Diktatur noch mehr zählte als Gesinnungstreue, war die Loyalität gegenüber einer Person. Eine Ideologie kann polarisieren und spalten. Ein Werk kann auf unterschiedliche Weise interpretiert werden, was möglicherweise zu verschiedenen Lagern führt. Die größten Feinde der Bolschewiki waren die Menschewiki, doch beide beriefen sich auf Marx(1). Mussolini(5) lehnte Ideologien ab und hielt den Faschismus bewusst vage. Er war niemand, der sich in ein straffes Denkkorsett pressen ließ. Anstatt ein festgefügtes Weltbild zu vertreten, war er stolz auf sein intuitives, instinktgesteuertes Handeln. Wie Mussolini(6) hatte auch Hitler(6), über seine Anziehungskraft auf Nationalisten und Antisemiten hinaus, außer sich selbst im Grunde wenig anzubieten.

Im Falle kommunistischer Regime ist die Angelegenheit bedeutend komplizierter, da diese ja schließlich marxistisch ausgerichtet sein sollten. Doch auch hier wäre es sowohl für gewöhnliche Menschen als auch für Parteimitglieder unklug gewesen, allzu vehement auf die Werke von Karl Marx(2) zu pochen. Unter Stalin(6) war man Stalinist, unter Mao(3) Maoist und unter Kim(2) eben Kimist.

Im Falle von Mengistu(1) nahm man es, über die obligatorischen roten Sterne und Flaggen hinaus, mit der sozialistischen Lehre nicht so genau. In ganz Äthiopien(2) hingen Plakate mit der heiligen Dreifaltigkeit: Marx(3), Engels(1) und Lenin(2). Doch war es Lenin, nicht Marx(4), der es Mengistu(2) angetan hatte. Marx(5) hatte seine Vision von Gleichheit aufgezeigt, Lenin(3) hingegen hatte ein Instrument zur Machtergreifung ersonnen: die revolutionäre Avantgarde. Statt darauf zu warten, dass die Arbeiterschaft ein Klassenbewusstsein entwickelte und den Kapitalismus beseitigte, wie Marx(6) es vorhergesagt hatte, führte eine Gruppe professioneller, militärisch straff organisierter Revolutionäre die Revolution an und errichtete eine Diktatur des Proletariats, um den Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus von oben zu steuern. Sämtliche Feinde des Fortschritts eliminierte man rücksichtslos. Für Mengistu(3) mochte die Kollektivierung der Landwirtschaft marxistisch gewesen sein, doch in erster Linie war sie ein Mittel, um noch mehr Getreide aus den ländlichen Gebieten zu pressen, was es ihm ermöglichte, seine Truppen aufzubauen.

Kommunistische Diktatoren veränderten die Marx(7)’sche Lehre bis zur Unkenntlichkeit. Marx(8) hatte gefordert, dass sich die Arbeiter aller Länder in einer proletarischen Revolution vereinigen sollten, Stalin(7) indes vertrat die Auffassung vom »Sozialismus in einem Land« – mit dem Argument, dass die Sowjetunion(3) erst erstarken müsse, bevor sie die Revolution ins Ausland exportieren könne. Mao(4) las Marx(9), stellte ihn jedoch auf den Kopf, indem er anstelle der Arbeiter die Bauern zur Speerspitze der Revolution machte. Statt die klassische Ansicht beizubehalten, dass die materiellen Bedingungen die primäre Kraft historischen Wandels seien, behauptete Kim(3) Il-sung genau das Gegenteil, nämlich, dass die Menschen nur dann wahren Sozialismus erreichen könnten, wenn sie nach Autarkie und Unabhängigkeit strebten. Im Jahr 1972 wurde die Lehre des Großen Führers in die Verfassung aufgenommen, und der Marxismus verschwand gänzlich aus Nordkorea(1). In sämtlichen dieser Fälle blieb die leninistische Idee einer revolutionären Avantgarde jedoch praktisch unverändert.

Häufig war die Ideologie ein Akt des Glaubens, eine Prüfung der Loyalität. Das soll nicht heißen, dass es den Diktatoren an Weltsichten oder Glaubensgrundsätzen gemangelt hätte. Mussolini(7) etwa glaubte an wirtschaftliche Autarkie und beschwor sie wie einen Zauber. Mengistu(4) war darauf fixiert, dass Eritrea(1) eine aufständische Provinz sei, und überzeugt, dass ein unerbittlicher Krieg die einzige Lösung darstelle. Schließlich und endlich aber war jede Ideologie so, wie sie der Diktator auskleidete, und was der Diktator anordnete, konnte sich mit der Zeit ändern. Er personalisierte die Macht, sodass sein Wort zum Gesetz wurde.

Diktatoren belogen ihr Volk, aber auch sich selbst. Manche wurden zu Gefangenen ihrer eigenen Welt, überzeugt von ihrem eigenen Genie. Andere entwickelten ein krankhaftes Misstrauen gegenüber ihrem persönlichen Gefolge. Alle waren von Kriechern umgeben. Sie schwankten zwischen Selbstüberschätzung und Paranoia und trafen infolgedessen wichtige Entscheidungen ganz alleine – mit verheerenden Folgen, die Millionen von Menschen das Leben kosteten. Einige verloren jeden Bezug zur Realität, etwa Hitler(7) in seinen letzten Jahren, ganz zu schweigen von Ceauşescu(2). Viele aber überwanden alle Schwierigkeiten und blieben an der Macht. Stalin(8) und Mao(5) starben eines natürlichen Todes, nachdem sie sich viele Jahrzehnte lang selbst überhöht hatten. Duvalier(2)(2) gelang es, seinem Sohn(1) die Macht zu übertragen und den Kult um seine Person damit um weitere zwölf Jahre zu verlängern. Und was den extravagantesten Kult aller Zeiten betrifft, so regiert der nordkoreanische(2) Kim(1)-Klan inzwischen in dritter Generation.

Die Liste der Staatenlenker, die allgemein als moderne Diktatoren betrachtet werden, umfasst weit über hundert Namen. Manche waren nur wenige Monate an der Macht, andere jahrzehntelang. Unter denjenigen, die man ebenfalls in diesem Buch hätte aufführen können, sind – in willkürlicher Reihenfolge – Franco(1), Tito(1), Hoxha(1), Sukarno(1), Castro(1), Mobutu(1), Bokassa(1), Gaddafi(1), Saddam(1) Hussein(1), Assad(1)(1) (Vater und Sohn), Khomeini(1) und Mugabe(1).

Die meisten pflegten eine Form des Personenkults, boten Variationen ein und desselben Themas. Nur für sehr wenige trifft dies nicht zu, etwa für Pol Pot(1). Nach seiner Machtübernahme blieb selbst seine genaue Identität zwei Jahre lang im Dunkeln. Die Bewohner Kambodschas(1) gebrauchten die allumfassende Bezeichnung Angkar (»Organisation«). Wie der Historiker Henri Locard(1) darlegt, hatte die Entscheidung gegen den Aufbau eines Personenkults jedoch katastrophale Folgen für die Roten Khmer. Die Idee, sich hinter einer anonymen Organisation zu verstecken, die jeden Widerstand im Keim erstickte, war ein Schuss, der bald nach hinten losging. »Da die Angkar es versäumte, Verherrlichung und Ergebenheit zu induzieren, konnte sie nur Hass hervorrufen.«[9] Selbst der Große Bruder in George Orwells(1) 1984 hatte ein Gesicht, das die Menschen an jeder Straßenecke anstarrte.

Diktatoren, die sich an der Macht hielten, bedienten sich häufig zweier Instrumente: Kult und Terror. Trotzdem wurde der Personenkult allzu oft als bloße Verirrung betrachtet, als abstoßendes, aber marginales Phänomen. Dieses Buch verortet ihn dort, wo er hingehört: im Herzen der Tyrannei.

Mussolini(8)

Das am Rande des historischen Zentrums gelegene EUR(1) ist eines der nüchternsten Viertel Roms, durchzogen von breiten, schnurgeraden Straßen und voller beeindruckender Gebäude aus glänzend weißem Travertin – demselben Baustoff, mit dem einst das Kolosseum(1) errichtet wurde. EUR(2) steht für Esposizione Universale di Roma, eine gigantische Weltausstellung, mit der Benito Mussolini(9) 1942 den 20. Jahrestag des Marsches auf Rom(3) (der Machtübernahme der Faschisten) begehen wollte. Wie der leitende Architekt Marcello Piacentini(1) sagte, sollte das Projekt »eine neue Zivilisation« zeigen, »die Zivilisation von Mussolini(10)«. Die Ausstellung fand zwar niemals statt, weil zuvor der Zweite Weltkrieg ausbrach, doch wurden noch bis in die fünfziger Jahre zahlreiche Gebäude fertiggestellt. Einer der symbolträchtigsten Bauten des EUR(3), der, umgeben von Schirmkiefern, wie ein antiker römischer Tempel auf einem erhöhten Podium thront, beheimatet das Staatsarchiv.[1]

In einem majestätischen Lesesaal mit hohen Regalen kann man sich durch die verstaubte und vergilbte an den Duce(11) gerichtete Korrespondenz lesen. Auf der Höhe seines Ruhms erhielt er täglich bis zu 1500 Briefe. Diese durchliefen allesamt ein persönliches Sekretariat, in dem etwa 50 Personen arbeiteten. Dort wurden mehrere Hundert Schreiben zu seiner persönlichen Kenntnisnahme aussortiert. Als Mussolini(12) im Sommer 1943 gestürzt wurde, beherbergte das Archiv eine halbe Million Akten.[2]

Am 28. Oktober, der im faschistischen Kalender als »Tag eins« gefeiert wurde, trafen Telegramme aus allen Winkeln des Reichs ein. Darunter waren Oden an »Seine erhabene und ruhmreiche Exzellenz«, und ein gewisser Salustri Giobbe(1) pries »das erhabene Genie, das über alle Stürme dieser Welt obsiegt hat«. Der Präfekt von Triest, um ein anderes Beispiel zu nennen, ließ wissen, dass die gesamte Bevölkerung Mussolinis(13) Genie huldige, während die Stadt Alessandria(1) ihn offiziell als den Schöpfer der Herrlichkeit bejubelte.[3]

In erster Linie jedoch wollten die Bewunderer des Duce(14) handsignierte Fotos. Die Anfragen kamen von Menschen aus allen Schichten und Lebenssituationen, von Schulkindern, die Weihnachtsgrüße schickten, bis hin zu Müttern, die über den Tod ihrer gefallenen Söhne trauerten. Mussolini(15) kam diesen Wünschen oft und gerne nach. Als die 95-jährige Rentnerin Francesca Corner(1) aus Venedig(1) eine Antwort erhielt, war sie von einem »immensen Gefühlsausbruch« überwältigt – so der örtliche Präfekt, der dem Geschehen pflichtschuldig beiwohnte und Bericht erstattete.[4]

Wie den meisten Diktatoren gefiel auch Mussolini(16) der Gedanke, ein Mann des Volkes zu sein, der für jeden ansprechbar war. Im März 1929 prahlte er vor der versammelten Führung damit, er habe 1887 einhundertzwölf einzelne Fälle beantwortet, die ihm von seinem Sekretariat vorgelegt worden seien. »Wann immer sich Bürger an mich wandten, und stammten sie auch aus den entlegensten Dörfern, erhielten sie eine Antwort.«[5] Das war eine kühne Behauptung. Doch, wie die Archive zeigen, entbehrt sie nicht jeglicher Grundlage.

Einer Darstellung zufolge verbrachte Mussolini(17) die Hälfte seiner Zeit damit, sein Bild in der Öffentlichkeit zu pflegen.[6] Er war der ultimative Meister der Propaganda, Schauspieler, Bühnendirektor, Redner und glänzender Selbstdarsteller in einer Person.

Seinen Aufstieg zur Macht hatten nur wenige vorhersehen können. Der junge Mussolini(18) versuchte sich als Journalist für die Sozialistische Partei Italiens(3), fiel jedoch bei seinen Kameraden in Ungnade, weil er Italiens(4) Eintritt in den Ersten Weltkrieg befürwortete. Er wurde zum Wehrdienst eingezogen und 1917 durch die versehentliche Explosion einer Mörsergranate verwundet.

Dem Kriegsende in Italien(5) folgte wie im übrigen Europa eine Phase wirtschaftlicher Instabilität. Nach blutigen Jahren auf dem Schlachtfeld und dem strengen Regiment in den Fabriken nahmen nun immer mehr Arbeiter an Streiks teil, welche die Wirtschaft lahmlegten. Inspiriert von Lenins(4) Machtergreifung in Russland(2) im Jahr 1917, wurden ganze Gemeinden sozialistisch, hissten die rote Flagge und erklärten sich zu Befürwortern einer Diktatur des Proletariats. Dies waren die »Roten Jahre«, in denen die Sozialistische Partei auf mehr als 200 000 Mitglieder im Jahr 1920 anwuchs und die Zahl der Anhänger der Gewerkschaft Confederazione Generale Italiana del Lavoro auf über zwei Millionen stieg.[7]

Im Jahr 1919 gründete Mussolini(19) eine Bewegung, aus der schließlich die Faschistische Partei Italiens(6) hervorging. Ihr Programm war vage libertär, patriotisch und antiklerikal und wurde in Mussolinis(20) Tageszeitung Popolo d’Italia (»Das Volk Italiens(7)«) unablässig propagiert. Dennoch konnten die Faschisten bei den Parlamentswahlen nicht genügend Stimmen gewinnen, um auch nur einen einzigen Sitz zu ergattern. Mitglieder verließen scharenweise die Partei, die nun auf landesweit 4000 überzeugte Angehörige zusammenschrumpfte. Der von seinen politischen Gegnern verspottete Mussolini(21) verkündete erbittert, der Faschismus sei »in eine Sackgasse« geraten, und spekulierte offen darüber, ob er der Politik nicht ganz den Rücken kehren und eine Theaterlaufbahn anstreben solle.[8]

Mussolini(22) verlor jedoch nur kurzzeitig die Nerven. Im September 1919 zog der Dichter Gabriele d’Annunzio(1) mit 186 Besatzern nach Fiume(1), in eine Stadt, die Italien(8) in der Folge des Zusammenbruchs der österreichisch-ungarischen Monarchie im Jahr zuvor für sich beansprucht hatte. Mussolini(23) erkannte, dass er die Macht, die er durch freie Wahlen nicht hatte erlangen können, auch mittels brutaler Gewalt an sich reißen konnte. D’Annunzio(2) inspirierte Mussolini(24) aber noch auf andere Weise. In Fiume erklärte sich der extravagante Dichter zum Duce. Der Begriff war von dem lateinischen Wort dux abgeleitet, dem »Führer«. Fünfzehn Monate lang, bis er von der Armee vertrieben wurde, hielt d’Annunzio(3) die istrische Hafenstadt in seinem Bann. Regelmäßig erschien er auf einem Balkon, um zu seinen Anhängern zu sprechen, die schwarze Hemden trugen und ihren Anführer mit ausgestrecktem Arm grüßten. Es gab tägliche Paraden und Fanfaren, Medaillen wurden verteilt und zahllose Parolen ausgegeben. Wie es ein Historiker ausdrückte, übernahm der Faschismus von d’Annunzio(4) weniger ein politisches Bekenntnis als vielmehr eine politische Vorgehensweise. Mussolini(25) begriff, dass Pomp und Prunk bei der Masse viel besser ankamen als flammende Leitartikel.[9]

Der Faschismus blieb als Ideologie vage, doch Mussolini(26) erkannte nun die Gestalt, die er annehmen würde: Er selbst wäre der Führer, der Eine, den das Schicksal gesandt hatte, um das Glück seiner Nation zu erneuern. Im Jahr 1920 begann er(27), Flugstunden zu nehmen, und posierte als der neue Mann, der die Vision und den Tatendrang besaß, um erfolgreich eine Revolution anzuführen. Er war bereits ein erfahrener Journalist, der sich eines knappen, direkten und schmucklosen Stils zu bedienen wusste, um Aufrichtigkeit und Entschlusskraft zu vermitteln; nun übte er sich in der Schauspielkunst, sprach im Staccato und gebrauchte sparsame, doch gebieterische Gesten, um sich als unbeugsamer Führer zu präsentieren: den Kopf nach hinten geneigt, das Kinn nach vorn gestreckt, die Hände an den Hüften.[10]

Von 1921 an unterstützte das Parlament offen die Faschisten. Man hoffte, mit ihrer Hilfe die linken Oppositionsparteien zu schwächen. Auch seitens der Armee gab es Sympathien. Faschistische Freischärler zogen durch die Straßen, schlugen ihre Gegner zusammen und überfielen Hunderte von Gewerkschaftszentralen und Zweigstellen der Sozialistischen Partei – nicht selten geduldet von den örtlichen Behörden. Als das Land auf einen Bürgerkrieg zusteuerte, beschwor Mussolini(28) das Bild einer bolschewistischen Gefahr herauf und machte den Faschismus zu einer Partei, die sich die Vernichtung des Sozialismus auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Italien(9), so schrieb er, brauche einen Diktator, der es vor einem kommunistischen Aufstand bewahre. Im Herbst 1922 waren die faschistischen Trupps so mächtig geworden, dass sie große Teile des Landes kontrollierten. Mussolini(29) drohte nun, 300 000 bewaffnete Faschisten in die Hauptstadt zu entsenden, obgleich ihm weniger als 30 000 Schwarzhemden zur Verfügung standen, von denen die meisten so schlecht ausgerüstet waren, dass sie für die römischen Garnisonstruppen keine Gegner dargestellt hätten. Doch der Bluff funktionierte. Als die Faschisten in der Nacht vom 27. auf den 28. Oktober begannen, Regierungsbüros in Mailand(1) und andernorts zu besetzen, bestellte König Viktor Emanuel(1), dem das Schicksal der Romanows(1) nach 1917 noch gut im Gedächtnis war, Mussolini(30) nach Rom(4) und ernannte ihn zum Premierminister.[11]

Eine königliche Ernennung war eine Sache, ein öffentliches Image eine andere. Mussolini(31), immer noch in Mailand(2), wollte den Mythos eines Marsches auf Rom(5) schaffen, bei dem er die Hauptstadt auf dem Rücken eines Pferdes erreichte und seine Legionen über den Rubikon(1) führte, um einem schwachen Parlament seinen Willen aufzuzwingen. Doch selbst nachdem man ihn mit der Regierungsbildung beauftragt hatte, gab es nur ein paar Tausend Faschisten in der Hauptstadt. Hastig wurde ein fingierter Marsch organisiert. Schwarzhemden machten sich nach Rom auf. Ihre erste Aufgabe bestand in der Zerstörung der Druckerpressen oppositioneller Zeitungen, um dafür zu sorgen, dass sich die faschistische Lesart der Ereignisse durchsetzte. Mussolini(32) traf am Morgen des 30. Oktober mit dem Zug ein. Seine siegreichen Truppen wurden vom König(2) in Augenschein genommen und am Tag darauf nach Hause geschickt. Sieben Jahre später wurde zum Jahrestag des Marsches auf Rom in Bologna(1) ein fünf Meter hohes Reiterstandbild errichtet. Es zeigte den Duce(33), der in die Zukunft blickt, die Zügel in einer Hand, eine Flagge in der anderen.[12]

Mussolini(34) war gerade neununddreißig Jahre alt. Er war von kleinem Wuchs, wirkte jedoch größer, weil er stets den Rücken gerade und den Rumpf starr hielt. »Sein Gesicht war farblos, sein schwarzes Haar wich von den hervorstehenden Brauen zurück; er hatte einen großen Mund, ein markantes Kinn, und in der Mitte seines Kopfes zwei große, ganz schwarze, stechende Augen, die beinahe aus seinem Gesicht hervorzuquellen schienen.« Seine Art zu sprechen und seine theatralischen Gesten – der halb zurückgelehnte Kopf, das scharf hervorstehende Kinn, die rollenden Augen – waren freilich kalkuliert, um den Eindruck von Macht und Lebenskraft zu erwecken. Im Privatleben konnte er(35) umgänglich und äußerst charmant sein. Der englische Journalist George Slocombe(1), der ihn 1922 kennenlernte, stellte fest, dass sich Mussolinis öffentliches Auftreten dramatisch von der persönlichen Begegnung unterschied: Seine Muskeln verloren ihre Spannung, sein starres Kinn wurde beweglicher und seine Stimme freundlich. Slocombe(2) meinte, Mussolini(36) sei sein gesamtes Leben lang in der Defensive gewesen. »Nun, da er die Rolle des Aggressors eingenommen hatte, konnte er sein instinktives Misstrauen gegenüber Fremden nicht so einfach ablegen.«[13]

Sein Misstrauen gegenüber anderen Menschen, auch gegenüber seinen eigenen Ministern und Parteioberen, verließ ihn bis zu seinem Lebensende nicht. Wie Ivone Kirkpatrick(1), ein in der britischen(1) Botschaft tätiger Diplomat und scharfer Beobachter, sich ausdrückte, »war er stets wachsam, da er mögliche Rivalen fürchtete, und betrachtete alle Menschen mit dem Argwohn eines Bauern«.[14]

Es gab eine ganze Menge Rivalen, die ihm Sorgen bereiteten. Mussolini(37) spiegelte zwar das Bild einer straffen Führungsstruktur vor, doch war der Faschismus weniger eine geeinte Bewegung denn ein loses Amalgam lokaler Scharführer. Nur ein Jahr zuvor noch hatte Mussolini(38) mit einer Rebellion in den eigenen Reihen zu kämpfen gehabt, die von einigen der bekanntesten Faschisten ausgegangen war, darunter Italo Balbo(1), Roberto Farinacci(1) und Dino Grandi(1). Sie hatten ihn einer zu großen Nähe zu den Parlamentariern in Rom(6) bezichtigt. Grandi(2), ein Faschistenführer aus Bologna(2), der für seinen Hang zur Gewalt berüchtigt war, hatte versucht, Mussolini(39) zu stürzen. Balbo(2), ein dünner junger Mann mit wirrem Haar, war äußerst beliebt und sollte auch in den folgenden Jahrzehnten ein ernster Rivale bleiben. Mussolini(40) reagierte mit der Bildung einer Koalitionsregierung, die sämtliche prominenten Faschisten aus ihren Ämtern ausschloss. Bei seinem ersten Auftreten als Premierminister schüchterte er die ihm feindlich gesinnte Abgeordnetenkammer ein und schmeichelte dem Senat, der freundlich gestimmt war. Vor allem aber versicherte er, dass er sich an die Verfassung halten werde. Erleichtert gab eine Mehrheit Mussolini(41) volle Entscheidungsgewalt, und ein paar Redner baten ihn sogar, eine Diktatur zu errichten.[15]

Mussolini(42) erschien kurzzeitig auf internationalem Parkett, um sich bei Reisen nach Lausanne(1) und London(1) von potenziellen Verbündeten hofieren zu lassen. An der Victoria Station bot man ihm und seinem Gefolge einen triumphalen Empfang. Die Gruppe musste sich durch eine »schreiende Menschenmasse [bewegen], geblendet von den Blitzlichtern der Fotografen«. Mussolini(43), der immer noch vom Ruhm seines Marsches auf Rom(7) zehrte, wurde von der Presse zum Cromwell(1) Italiens(10) hochgejubelt, zum italienischen Napoleon(1)(2), zum neuen Garibaldi(1) im schwarzen Hemd. Obwohl sein Bild in der Weltöffentlichkeit mehr und mehr an Stärke gewann, sollte es sechzehn Jahre dauern, bis er die italienische Grenze wieder überschritt.[16]

Zuhause hatten nur wenige Menschen den Duce(44) noch nicht zu Gesicht bekommen. Mussolini(45) arbeitete mit Hochdruck daran, die Bevölkerung für sich einzunehmen. Er veranstaltete ausgedehnte Tourneen durchs ganze Land, machte zahllose unangekündigte Besuche in Dörfern, sprach bei Massenbegegnungen mit Arbeitern und bei Einweihungen öffentlicher Projekte. Bald schon verfügte er über einen eigenen Eisenbahnzug. Wenn eine große Menschenmenge zusammengelaufen war, trat er stets ans Fenster und verlangte, dass die Fahrt verlangsamt würde. »Alle sollen mich sehen können«, erklärte er seinem Diener(1), dessen Aufgabe es war herauszufinden, auf welcher Seite der Bahngleise die Massen versammelt waren. Was zunächst eine politische Notwendigkeit war, wurde mit der Zeit zur Obsession.[17]

Mussolini(46) war sich der Gefahr bewusst, die von möglichen Rivalen ausging. Daher übertrug er einem seiner treuesten Mitarbeiter die Verantwortung für die Presse im Innenministerium, das der Duce(47) höchstpersönlich leitete. Cesare Rossis(1) Aufgabe bestand darin, für den Faschismus die Werbetrommel zu rühren. Um Mussolini(48) freundlich gesinnte Publikationen zu finanzieren und unabhängige Zeitungen in den Einflussbereich der Regierung zu bringen, konnte er sich eines geheimen Fundus bedienen. Außerdem unterstützte Rossi(2) auch eine geheime Gruppe militanter Faschisten, denen es oblag, Feinde des Regimes zu eliminieren.[18] Einer dieser Männer war Amerigo Dumini(1), ein junger Abenteurer, der auch »Auftragskiller des Duce(49)« genannt wurde. Im Juni 1924 entführten er und mehrere seiner Komplizen Giacomo Matteotti(1), einen Sozialistenführer und Abgeordneten, der Mussolini(50) offen kritisiert hatte. Sie stachen mehrere Male mit einer Zimmermannsfeile auf ihn ein und verscharrten dann seine Leiche in einem Straßengraben außerhalb Roms(2).

Der Mord erregte allgemeine Abscheu. Die öffentliche Meinung wandte sich gegen Mussolini(51), der nun isolierter war als je zuvor. Er hielt eine beschwichtigende Rede, die ihn wiederum von seinen Anhängern entfremdete, die unter Beschuss von Parlament und Presse standen. Da er fürchtete, sie könnten sich gegen ihn wenden, unternahm er am 3. Januar 1925 mit einer zornigen Rede vor dem Abgeordnetenhaus den letzten Schritt in Richtung einer Diktatur. Trotzig verkündete Mussolini(52), sämtliche Bemühungen, eine parlamentarische Koalition zu bilden, seien fruchtlos verlaufen, daher werde er nun den Pfad einer faschistischen Alleinherrschaft beschreiten. Er allein, behauptete er dreist, sei verantwortlich für alles, was geschehe. »Wenn der Faschismus eine kriminelle Vereinigung ist, dann bin ich der Chef dieser kriminellen Vereinigung.« Er(53) allein werde die Dinge ins Lot bringen – notfalls mit Gewalt im Rahmen einer persönlichen Diktatur.[19]

Es folgte eine Einschüchterungskampagne auf allen Ebenen, in deren Verlauf die bürgerlichen Freiheiten beseitigt wurden. Innerhalb weniger Tage durchsuchte die Polizei – mithilfe faschistischer Milizen – Hunderte von Häusern und verhaftete Mitglieder der Opposition.

Die Presse wurde mundtot gemacht. Noch vor Mussolinis(54) Rede am 3. Januar 1925 hatte ein im Juli 1924 erlassenes Dekret Präfekten mit der Befugnis ausgestattet, jedes beliebige Presseorgan ohne Vorwarnung zu schließen. Dennoch verkaufte die liberale Presse weiterhin zwölfmal mehr Zeitungen als faschistische Blätter, was einer täglichen Auflage von vier Millionen Exemplaren entsprach. Jetzt aber wurden viele Redaktionen geschlossen und die kritischsten Journalisten verfolgt. In den Druckereien, denen der Betrieb weiterhin gestattet war, installierte man Polizeibeauftragte, die dafür sorgten, dass die staatliche Propaganda alle erreichte. Der Corriere della Sera, eine der wichtigsten Oppositionszeitungen, wurde in ein faschistisches Organ umgewandelt. Im November 1926 zählte ein drakonisches Gesetz die Gründe für eine sofortige Beschlagnahmung durch die Polizei auf – darunter Artikel, die dazu geeignet seien, »das Ansehen des Staates oder seiner Behörden zu beschädigen«. Wie ein Sargtuch legte sich Schweigen über das Land. Telefonleitungen und Post wurden überwacht, während die Geheimpolizei und die Schläger im schwarzen Hemd die Straßen unter ihre Kontrolle brachten.[20]

Diese »Revolution« wurde infolge mehrerer Anschläge auf Mussolinis(55) Leben noch beschleunigt. Am 7. April 1926 schoss die irische Adlige Violet Gibson(1) auf den Duce(56) und streifte dessen Nase. Ein halbes Jahr später gab ein fünfzehnjähriger Junge während einer Parade zum Gedenken an den Marsch auf Rom(8) einen Schuss auf Mussolini(57) ab. Er wurde auf der Stelle von den Faschisten gelyncht, was den Verdacht aufkommen ließ, das Ganze sei zu politischen Zwecken inszeniert worden. Von November 1925 bis Dezember 1926 gelangten alle bürgerlichen Vereinigungen und politischen Parteien unter den Einfluss des Staates. Die Vereinigungsfreiheit wurde abgeschafft, selbst für kleine Gruppen von drei oder vier Personen. Mussolini(58) verkündete: »Alles im Staate, nichts außerhalb des Staates, nichts gegen den Staat.«[21]

An Heiligabend 1925 erlangte Mussolini(59) unter seinem neuen Titel des Capo del Governo volle Exekutivgewalt und beseitigte damit die noch bestehende Abhängigkeit vom Parlament. In den Worten eines ausländischen Besuchers(1) war er nun »wie ein Gefängniswärter mit sämtlichen Schlüsseln an seinem Gürtel und einem Revolver in der Hand, der unangefochten durch ganz Italien(11) auf und ab schritt wie durch die stillen und tristen Gänge eines riesigen Gefängnisses«.[22]

Doch auch den Faschisten stand Mussolini(60) misstrauisch gegenüber. Im Februar 1925 ernannte er Roberto Farinacci(2) zum Sekretär der Nationalen Faschistischen Partei, der einzigen gesetzlich zugelassenen Organisation im Land. Farinacci(3) machte sich daran, die Macht der Faschisten einzudämmen und den Parteiapparat zu zerschlagen, und ebnete so den Weg für ein System persönlicher Herrschaft mit Mussolini(61) an der Spitze. Tausende der radikaleren Parteimitglieder wurden entfernt. Hatte sich der Duce(62) bereits 1922 geweigert, faschistische Führer in die Koalitionsregierung aufzunehmen, so stützte er sich nun auf direkt vom Staat ernannte örtliche Präfekten, um die Nation zu kontrollieren. Mussolini(63) teilte und herrschte gern, sorgte dafür, dass Parteifunktionäre und die Staatsbürokratie sich gegenseitig überwachten, und behielt die Zügel der Macht dadurch selbst in der Hand.[23]

(4)(64)(1)(5)(2)(65)[24]