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ISBN 978-3-218-01031-3

Copyright © 2016 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Schutzumschlaggestaltung: Christine Link

unter Verwendung einer Illustration von alex.makarova/shutterstock.com

Lektorat: Tanja Raich

Satz und typografische Gestaltung: Ekke Wolf

Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

Muttergehäuse

Für alle meine Kinder

The claw
Of the magnolia,
Drunk on its own scents,
Asks nothing of life.

Sylvia Plath, Paralytic

Prolog

Ich bin fünf Jahre alt. Im Sonntagnachmittagsfilm gebärt eine Frau brüllend in Schwarzweiß, etwas geht schief. Sie liegt am Rücken wie ein Käfer, wirft den Kopf hin und her, der Arzt tobt unter dem Leintuch, er schreit: Saubere Laken! Heißes Wasser! Mehr heißes Wasser! Eine Dicke mit Kopftuch bringt eine riesige, dampfende Schüssel und stellt sie neben das Entbindungsszenario. Alle sind in Panik, nur der Arzt scheint zu wissen, wie gebären geht. Was macht er nur mit dem Wasser? Ich fürchte mich davor, dass er die Schenkel der Frau verbrüht. Ich bin überwältigt von Mitgefühl und Abscheu, ich habe mehr Angst, als in mich hineinpasst. Ich ziehe die Beine ganz eng an mich und schwöre mir, niemals Kinder zu bekommen. Die Schmerzen durchbrechen das knisternde Glas des Fernsehers und machen sich in meinem Kopf breit. Pressen, pressen, ruft der Arzt unter dem Leintuch hervor. Noch ein spitzer Schrei, dann schwenkt die Kamera auf den blassen Vater, der von seinem Warten erlöst wird. Das Wickelkind blickt ernst aus dem Fernseher.

Es ist ein Junge!

MUTTER

1.

In der Waschmittellade meiner Waschmaschine im Keller wächst was. Schleim, fleischig und vielfarbig. Ich weiß, dass es sich um eine Lebensgemeinschaft aus Bakterien, Pilzen und Protozoen handelt, aber ich frage mich, warum ausgerechnet dort etwas wächst. Das ist doch kein Platz. Ich würde hier nicht wachsen wollen.

Ich entferne den Film mithilfe einer halben Küchenrolle und eines chinesischen Stäbchens und werfe die schweren Fetzen in den Mistkübel. Ich desinfiziere die Lade. Von irgendetwas wird mir schlecht; und ich muss warten, bis ich wieder hinaufgehen kann. Geduldig sitze ich auf dem Fliesenboden.

So ist das, wenn man vielleicht schwanger ist. Immer ist einem vielleicht schlecht. Oder auch nicht. Dauernd diese Option. Seit wir versuchen, ein Kind zu bekommen, rechne ich. In Wahrscheinlichkeiten. In Eisprungzyklen. In 9-Monatszyklen. Falls ein Kind kommen würde. In Tagen bis zur Regel. Falls kein Kind kommen sollte. In Urlauben, die gebucht werden sollten, dann aber storniert werden müssten. In Zimmern, die benötigt werden könnten. In Kosten, die drohen könnten. Ist bald ein großes Auto fällig?

Bis wieder »nichts ist«.

Die anderen machen vor, wie es geht. Paare, die die Neuigkeiten stolz präsentieren. Frauen, die dicker werden. Gespräche, die so wahnsinnig interessant für Kinderhabende sind und schrecklich fad für Kinderlose. Themen, die sich eintiefen zwischen uns und denen.

Dann verschwinden die zukünftigen Mütter mehr und mehr und die zukünftigen Väter kommen öfter alleine. Irgendwann tauchen sie wieder gemeinsam auf, dann haben sie sehr, sehr viel Babyzubehör dabei und mittendrin die kleinen rosa Babys, über die dann so lange geredet wird, bis die Kleinen es unterbrechen. Wenn sie schreien, werden sie gestillt oder haben Bauchweh oder sind müde. Bei Bauchweh hilft nur Heimgehen. Die Schreie sind durchdringend und guttural. An den Schreien hört man, was alles falsch läuft in dieser Evolution. Wie haben die Menschen das nur früher gemacht, ohne Schwangerschaftsvorbereitung, ohne Babybäuchlein-Öl, Zahngel, Kinderwägen und Stilleinlagen?

Wenn ich nicht rechtzeitig ausweichen kann und ein paar Momente zuhöre, lerne ich sogar etwas. Ich lerne, dass sich die Themen mit den Schwangerschaftswochen verändern. Dass nicht nur Alkohol eine Gefahr für den Fötus ist, sondern Parmesan, Camembert und Beef Tartare. Dass Frauen unbedingt normal gebären wollen und Kaiserschnitte eine Niederlage für Mutter und Kind sind. Dass Hebammen wie Hexen mit Kräuterzigaretten auf den Füßen von Schwangeren herumräuchern, damit sich Babys drehen. Dass es offensichtlich eine Gebär- und Säuglingspflegeindustrie gibt, die an mir vorübergegangen ist. Ein Industriezweig, der wie alle anderen Industriezweige Modeströmungen unterliegt.

Es gibt auch eine Industrie für die ungewollt Kinderlosen. Osteopathinnen, chinesische Ärzte, Gynäkologen überweisen bei Bedarf an die Kinderwunschklinik, und das Internet ist hoffnungsvoll.

Die Kinderwunschindustrie eröffnet sich einem erst, wenn Defizite im Raum stehen. Sie ist allerdings eine verschwiegene, heimliche Industrie, nicht so eine hoffnungsvolle, sich überall anbietende und aufdrängende wie die Gebär- und Babyindustrie.

Es gibt neuerdings so unendlich viel über Kinder zu besprechen, dass die Gespräche überall sind. Im Zug, im Büro, in der Mittagspause, beim Nachmittagskaffee, zwischendurch bei einer wildfremden Person, die im Park telefoniert, am Abend, am Wochenende, in den Zeitungen, nirgends ist man sicher.

Erst wenn die Kinder abgestillt sind, wird es scheinbar wieder leichter, dann kommt man als Kinderlose wieder etwas zu Wort.

Auf die geschilderten nächtlichen Strapazen könnte ich verzichten. Aufs Gebären bin ich nicht scharf, aufs viele Kinderwagenschieben und Spielplatzsitzen auch nicht.

Man entspannt sich nicht richtig. Man will es zu sehr. Man hat nicht mehr so viel Zeit, man soll zusehen, anzaahn, denn: Worauf will man denn noch warten?

Ich sehe zu, wie es bei den anderen klappt. Ich versuche, den Erfolg der anderen auf meine Einstellung abfärben zu lassen. Positiv in die Zukunft sehen! Doch am Horizont wächst eine Mauer, mit 40 sieht es bald traurig aus, da legen die Ärzte mit ziemlich deprimierenden Gesichtsausdrücken sehr entmutigende Zahlen vor. Ich war nie eine große Optimistin. Das Ende der Dreißiger kann sich als biografische Sackgasse herausstellen, und auf die gehe ich langsam zu. Wer erst mit Anfang Dreißig das Kinderkriegen angeht, hat schon Zeit verloren, lese ich. Möglichst früh soll man sich »Hilfe suchen«, möglichst wenig Zeit verlieren! Haben wir noch genug Zeit, um es ohne Hilfe zu probieren? Brauchen wir überhaupt Hilfe? Wie sieht diese Hilfe aus? Tierärzte fallen einem ein, den Arm bis zur Achselhöhle in einer Kuh hinten drin. Pelzige, abgewetzte Tierattrappen, auf denen aufgeritten und abgesamt wird.

Ich habe viel zu viel Zeit, um nachzudenken. In den kleinen Denkpausen, die der Tag mir anbietet, schiebt sich sofort die Mutterschaft dazwischen oder das Scheitern daran. Ich stelle mir vor, wie das wäre, positiv zu denken, und dazwischen fürchte ich mich vor dem, was passieren könnte, wenn das negative Denken recht behält. Wenn kein Kind kommt. Wenn ein behindertes Kind kommt. Ich reiße die Gedanken ungeduldig herum.

Ein Kind haben ist sicher großartig!

Kinderwagenschieben fühlt sich sicher wunderbar an.

Ein Kind kriegen ist sicher toll.

Das Leben war früher für mich eine naturwissenschaftliche Institution. Das Leben, Mutter Natur, war weise, allwissend und letztendlich unfehlbar. Das hat sich geändert. Das Leben könnte auch eine feindliche, mir nicht wohlgesonnene Despotin werden. Das Leben ist überall präsent. Es starrt mir von allen Seiten entgegen. Nacktschnecken legen Eier. Insekten mit aneinander montierten Geschlechtsapparaten liegen auf dem Gehsteig. Die Nachbarin kriegt schon das zweite Kind. Schusterkäfer, Mücken, Maikäfer, Fallobst. Alles wird von Mutter Natur in Massen produziert, es ersäuft, wird vergiftet, erschlagen, von Autos überfahren. Aber es ist immer noch genug von allem da.

Ist von uns schon genug da?

Interessanterweise hat mein Mann gar keine Bedenken und kann diese also auch nicht mit mir teilen. Warum sollte es nicht klappen? Sei nicht paranoid. Darauf hat man ja Einfluss. Er beschäftigt sich erst damit, wenn es soweit ist. Zuerst beneide ich ihn um seine Gelassenheit, dann beginne ich, seine Gelassenheit anmaßend und unsympathisch zu finden.

Mutter Natur ist nicht zimperlich, wenn es um Extreme geht.

Ich verliere keine Zeit und gehe zum Gynäkologen. Der beruhigt mich. Dann nehme ich meinen Mann und wir gehen zum nächsten Gynäkologen. Der beruhigt uns. Wir sollen uns nicht aufregen. Warten sollen wir. Warten ist die Therapie! Und nicht zu viel denken.

Am besten auf Urlaub fahren und entspannt vögeln. Vielleicht auch keine Zeit verlieren und zum Urologen, ein Spermiogramm. Nur zur Sicherheit.

Siehst du, ich habe es dir doch gesagt. Mein Mann greift nach meiner Hand. Wir lächeln ein Maul voll Zuversicht.

Die Beschwichtigung des Gynäkologen hält leider nicht lange bei mir. Ich war nie besonders optimistisch und schon gar nicht geduldig. Warum sollte ich es jetzt plötzlich sein? Das bisschen Geduld fermentiert zu Irritation. Schwangere Frauen sind irritierend. Kinderwagenschiebende sind es. Leben, das in Überdosen produziert wird, ist es. Algenwatten, Lauspölster, Mückenschwärme, Stadttauben. Das Blut ist jetzt eine Art Feind, pünktlich sickert mein Versagen zwischen meinen Schenkeln hervor. Die Leute sagen, wir sollen nicht so viel denken. Die Leute sind plötzlich alle gescheit, weil Kinderkriegen jeder Trottel kann. Außer uns. Doch wir halten zusammen.

Liebe ist die Währung, mit der wir unser Scheitern bezahlen.

2.

Mit 33 habe ich zum ersten Mal in meinem Leben nicht verhütet, in einem Schiurlaub, nach einem Gespräch, in dem wir darin übereinkamen, dass es Zeit wurde. Worauf warten? Sich nicht fortzupflanzen, kommt überhaupt nicht in Frage! Es ist eine Art genetischer Juckreiz. Die komplette Familie! Das vorbestimmte Glück! Der Sinn des Lebens. Mit 33 verheiratet zu sein und das Kinderkriegen noch länger hinauszuzögern, heißt: sich gegen eine biografische Schwerkraft zu wehren.

Der vermeintliche Zeugungsakt fühlte sich ungeheuerlich an. Schicksalsträchtig, richtig. Ich war nie unvorsichtig davor. Bin ich zu vernünftig gewesen? Oder schon spröde? War ich nie geil genug, ein Risiko einzugehen, so wie die anderen, die dauernd zitterten, weil die Regel nicht und nicht kam? Dieses erste Nicht-Verhüten kostete mich in dieser Nacht den Schlaf. Alleine schlich ich durch die Ferienwohnung und trank Tee. Ich stellte mir vor, wie das Leben jetzt in mir einschlagen würde wie ein Komet. Falsch. Wie ein Wunder. Ich öffnete die Balkontür und sah in die verschneite Nacht. Falsch. Wie ein Plan, den ich in den letzten 20 Jahren verhindert habe. Der ganz normale Kreislauf des Lebens. Ich schloss die Balkontür und setzte mich im Dunkeln an den Küchentisch. Ich musste den Drang unterdrücken, den Mann aufzuwecken, wachzuschütteln, fest, an den Schultern, ihn in die Pflicht zu nehmen, ihm meine Aufregung aufzuzwingen, sie mit mir zu teilen.

Wach auf, du Ignorant! Wie kann man nur schlafen, wenn gerade ein Kind entsteht? Bist du nicht neugierig, wie es aussehen wird? Wird es ein Mädchen oder ein Bub werden? Wessen Augenfarbe wird das Kind bekommen? Wie stehen wir die nächsten neun Monate durch, ohne vor Ungeduld zu platzen?

Die Zeit läuft. Schnell Augen zu und durch, dachte ich. Alles Übrige wird ohnehin das Leben für dich entscheiden, die Gene, Mutter Natur, usw. Dachte ich.

Der Schlaf kam und zwei Wochen später die Regel.

Der Frühling kommt, der Mai kommt, das Maibaumaufstellen, die Hochzeiten, die Geburten, die Regel kommt dazwischen. Hoffnung ist etwas Labiles. Die Leute können wohl riechen, dass wir in die nächste Phase unserer Zweisamkeit kommen wollen. In die Dreisamkeit, die optimalerweise in eine Viersamkeit mündet. Vielleicht hat es auch etwas mit dem Heiraten zu tun. Heiraten ist eine Vorstufe zum Kinderkriegen. Aus den Mündern von Freunden und Fremden kommen Hinweise, Ratschläge, Ermunterungen, die unsere Familienplanung vorwegnehmen. Sätze, die mit »Na?« beginnen. Falls wir in die nächste Sitzreihe vorrücken wollen, näher an die Bühne des Lebens, wähnen wir uns in einer kompetenten Umgebung, lässt man uns wissen. Freunde und Fremde klopfen auf die freien Plätze neben sich und sagen: Kommt schon. War das vorher schon so? Ich fühle mich verbal getätschelt. Die Sätze gehen mir auf die Nerven, sie bleiben mir im Magen liegen, egal, wie lieb sie gemeint sind. Ich lächle und mache eine Liste mit Sätzen, die ich »Favoriten« nenne und in ein Dokument schreibe, das ich unter »Wehenschreiber« abspeichere.

»Hab Geduld.«

»Du darfst es nicht zu sehr wollen!«

»Du musst lockerlassen!«

»Ich kenne ein Paar, das …«

»Ich kenne wen, der …«

»Hast du schon?«

»Das wird schon.«

»Du wirst schon noch schauen!«

3.