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Andreas Sator

ALLES GUT?!

Unangenehme Fragen & optimistische Antworten für eine gerechtere Welt

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Für meine Eltern. Ich liebe euch über alles.

www.kremayr-scheriau.at

eISBN 978-3-218-01194-5

Copyright © 2019 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Schutzumschlaggestaltung: Sheila Ehm

Lektorat: Paul Maercker

Satz und typografische Gestaltung: Matthias Schmidt

Inhalt

Einleitung

1. Beim Einkaufen die Welt retten? Es ist kompliziert

2. Ich habe eine Idee: Wie Österreich reich wurde

3. Warum es noch immer extreme Armut gibt

4. Fast alles auf der Welt wird immer besser

5. Politik rettet die Welt: Einige Vorschläge

6. So mache ich im Alltag einen Unterschied

7. Der Kampf gegen die Klimakrise ist zentral

8. Und jetzt? Was ich mir von diesem Buch mitnehme

Anmerkungen

Einleitung

Ich habe alles. Einen Job, den ich mag und von dem ich gut leben kann. Eine schöne Wohnung in Wien, einer der lebenswertesten Städte der Welt. Mit dem Rad sind es nur ein paar Minuten zu meinem liebsten Kaffeehaus, in dem mir die Kellner*innen Suppe servieren. Gleich daneben eine Bücherei, für ein paar Euro im Jahr kann ich dort so viele Bücher lesen, wie ich möchte. Fahre ich ein bisschen weiter, bin ich im Grünen, in einem Park, in dem die Menschen ihre Hunde spazieren führen und Eltern ihren Kleinen beim Spielen zusehen. Es gibt unzählige Kinos, gutes Essen, viele schöne Lokale. Wenn ich nachts weggehe, muss ich mir am Heimweg keine Sorgen machen. Wenn ich krank werde, kümmert sich die Ärztin um mich. Wenn ich meinen Job verliere, fängt mich das AMS auf.

Ich habe alles. Sicherheit. Gute Infrastruktur. Die Chance auf Bildung. Ein soziales Netz und einen Rechtsstaat. Nicht alles ist perfekt, Probleme gibt es zur Genüge. Wäre ich eine Frau, hätte ich es schwerer. Wäre ich nicht weiß, noch viel schwerer. Ich verdiene weniger als der/die typische Österreicher*in, kann aber gut leben. Natürlich gibt es auch Armut, aber das Leben hier ist für die meisten Menschen gut und besser, als es für ihre Eltern einmal war. Meine Eltern haben beide keine Matura, ich habe studiert. Die meisten Menschen hier können etwas aus ihrem Leben machen.

601 Millionen Menschen auf der Welt leben in extremer Armut. Sie haben eigentlich nicht genug, um zu überleben, die meisten schaffen es irgendwie doch. Aber nur irgendwie: Sie gehen hungrig schlafen, werden krank und haben Angst um ihre Kinder. 601 Millionen. Das ist, als würde ich mich in Wien in einen Zug durch halb Europa nach Istanbul setzen, weiter nach Russland fahren, über Weißrussland und das Baltikum nach Skandinavien, zurück über Hamburg, Brüssel und Paris, weiter in den Süden nach Lissabon, Madrid und über die Alpen Italiens wieder nach Österreich und wenn wir uns jetzt vorstellen, alle Menschen, die in all diesen Ländern wohnen, die ich durchquert habe, sind extrem arm und nagen am Hungertuch – dann kommen wir in etwa auf 601 Millionen.

601 Millionen Menschen auf der Welt leben in extremer Armut. Sie haben keine Chance auf ein gutes Leben. Stellen wir uns nur eine einzige Mutter vor, die ihr Baby verliert, das Leid, die Trauer, die sie spüren muss. Den Schmerz, den das verursacht, für Vater, Geschwister, Bekannte, nicht nur für einen Moment, sondern für immer, denn ganz geht das – glaube ich – nie weg. Das passiert alle acht Sekunden. Alle acht Sekunden stirbt statistisch ein Kleinkind, das seinen ersten Geburtstag noch nicht erlebt hat.1 Nicht nur Kinder sterben, sondern Menschen werden umgebracht, es gibt Kriege und Konflikte, viele haben überhaupt keine Chance, irgendetwas aus ihrem Leben zu machen. Dass es noch immer so viel Armut gibt, sorgt für wahnsinniges Leid, jeden Tag, das können wir uns gar nicht vorstellen. Und dass wir uns das gar nicht vorstellen können, ist vielleicht auch gut. Denn wer von uns könnte sein Leben leben, wenn wir auch nur kurz mit einem Bruchteil dieser Menschen mitleiden würden?

Was kann ich tun? Als ich vor neun Jahren nach Wien gezogen bin, habe ich überlegt, später einmal in die Entwicklungshilfe zu gehen. In ein ärmeres Land zu ziehen und vor Ort zu helfen. Das ist doch die wichtigste Sache der Welt: Wie können wir ärmeren Menschen in ärmeren Ländern helfen? Mit 19 war das, zugegeben, eine große Frage, aber an Selbstbewusstsein mangelte es mir nie. Jetzt studiere ich erst einmal, dachte ich mir damals und schrieb mich auf der Uni für Ökonomie und Internationale Entwicklung ein, jetzt verstehe ich erst einmal, warum die Welt so aussieht, wie sie aussieht. Dann mache ich mir Gedanken darüber, wie ich sie retten kann. Ich habe studiert und debattiert und nachgedacht und geschrieben. Eine endgültige Antwort auf meine Frage fand ich nie. Das Schreiben aber machte mir Spaß. Ich merkte, dass ich das kann, also habe ich mehr geschrieben und es zu meinem Beruf gemacht. Heute bin ich Journalist und ich bin es für mein Leben gerne. Und das mit dem Weltretten? Irgendwann habe ich begonnen, einfach mein Leben zu leben, im schönen Wien, auf meiner Couch, mit Freund*innen, gutem Essen und tollen Büchern, in den Parks und Cafés, weil es bequemer ist, sich nicht zu viele Gedanken zu machen. Weil die Welt viel zu kompliziert ist und weil ich nicht wusste, was ich denn hier und jetzt, bitte, schon ändern sollte. Irgendwann habe ich dann beschlossen, dass es das nicht sein kann. Es war der Moment, in dem ich mich dazu entschlossen habe, dieses Buch zu schreiben. Ich wollte verstehen, wie die Welt so wurde, wie sie heute ist. Warum wir so unendlich reich sind und andere so unfassbar arm. Ich wollte erfahren, ob ich etwas tun kann, und wenn ja, was ich tun kann, damit sich das ändert.

Also machte ich mich auf die Suche nach einer Antwort auf die wichtigste Frage der Welt. Ich habe mit Expert*innen gesprochen, Studien und Bücher verschlungen, das Internet leergelesen und unzählige Handy-Akkus leertelefoniert. Das Ergebnis meiner Recherchereise hältst du in deinen Händen.

Bevor es losgeht, noch zwei Einschränkungen. Erstens: Ich habe bis auf ein halbes Jahr in Süd- und ein halbes Jahr in Nordamerika mein ganzes Leben in Europa verbracht. Das schränkt meinen Blick notgedrungen ein. Für ein Buch, das über die Lebensumstände von Menschen in extremer Armut aufklärt, empfehle ich »Der Hunger« vom argentinischen Schriftsteller Martín Caparrós, ein großartiges Werk. Dieses Buch ist ein äußerst analytisches. Jedes Buch zum Thema Armut auf der Welt muss eine Antwort auf die berechtigte Frage finden, warum es noch ein weiteres dazu braucht. Ich versuche, eine Lücke zu schließen, die andere Bücher über globale Ungleichheit häufig offen lassen: Manche sind fachlich fundiert, aber schwierig zu lesen. Die anderen sind verständlich geschrieben, ignorieren aber dafür häufig die wissenschaftliche Literatur. Ich versuche, die Brücke zwischen den beiden zu schlagen.

Zweitens: Ich bin studierter Ökonom. Die Weltsicht, die ich mir so angeeignet habe, prägt mich. Ich versuche, seit ich denken kann, zu hinterfragen, was mir aufgetischt wird. Aber dieses Buch ist trotzdem und aufgrund der Fragestellung ein »ökonomisches« geworden. Das heißt, ich habe wirtschaftliche Phänomene genauer betrachtet als andere. Ich hätte es auch mit größerem Augenmerk auf politische Konflikte und Entwicklungen schreiben können oder auf soziale Dynamiken, die das Zusammenleben einfach oder schwer machen.

Das Buch gibt den Stand meines Wissens und der Forschung im Juli 2019 wieder. Ich hoffe, dass ich es in einigen Jahren anders schreiben würde. Denn sonst wäre ich auf meinem Wissensstand von heute verharrt und auch die zahlreichen Forscher*innen hätten nichts Neues dazugelernt und alte, als plausibel erachtete Erkenntnisse nicht wieder verworfen.

Wer Belege für die getätigten Aussagen sucht, wird bei den Anmerkungen am Ende des Buches fündig. Dort ist für jede einzelne Seite belegt, auf welche Quellen ich mich stütze. Wer lieber online nachschaut, findet auf www.a-sator.at/buch alle Verweise auf Studien oder Bücher mit einem Link.

Ich wünsche eine spannende Lektüre.

Der Leser hüte sich vor meiner lebhaften Parteinahme, meinen Fehlern in der Darstellung der Fakten und der Verzerrung, die unausweichlich dadurch verursacht wird, dass ich nur eine Ecke des Geschehensgesehen habe.

– George Orwell in »Mein Katalonien«

1. Beim Einkaufen die Welt retten? Es ist kompliziert

Wenn das T-Shirt bei H&M fünf oder zehn Euro kostet, fühlst du dich dann schlecht? Ich mich bislang nicht wirklich. Ja, die Bilder sind schrecklich, und Rana Plaza habe ich bis heute im Kopf – mehr als 1100 Menschen sind 2013 beim Einsturz von Textilfabriken in Bangladesch gestorben. Aber so übel die Jobs auf uns hier in Österreich auch wirken mögen, zumindest schaffen Fabriken für die Menschen dort Arbeit. Sie sind eine zusätzliche Option vor Ort. Vielen Menschen bieten sie die Chance, der extremen Armut zu entkommen. Zumindest habe ich mir das bisher eingeredet. Gibt es dafür eigentlich irgendwelche Belege? Sorgen Konzerne, die in armen Ländern produzieren, dafür, dass sich die Situation mit der Zeit bessert? 2017 wurden Ergebnisse einer Studie präsentiert, die meine These zumindest anzweifeln.2 Zwei Ökonomen der University of Chicago und der Oxford University haben sich obige Frage gestellt. In einem Experiment in Äthiopien, einem der ärmsten Länder der Welt, wo gerade mit viel Geld aus dem Ausland, vor allem aus China, Fabriken entstehen, haben sie tausend Bewerber*innen ein Jahr lang begleitet. Ihre Annahmen waren ähnlich wie meine: Die Jobs sind schlecht, aber immerhin Jobs. In einem Land mit wenig Perspektiven würde die Nachfrage nach den neuen Jobs riesig sein. Zu ihrer Überraschung kündigte die Mehrheit binnen weniger Monate. Sie gingen zurück auf den Bau oder verkauften Kleinigkeiten am Markt. Dazu kommt: Die Jobs in den Fabriken brachten nicht mehr Geld ein als die sonstigen und waren noch dazu gefährlicher. Übrig blieb in der Fabrik nur ein Drittel der Menschen. Jene, die sonst nichts fanden.

Was heißt das für mich? Ausländische Fabriken, in denen meine Kleidung entsteht, verbessern nicht automatisch das Leben der Menschen. Die Jobs in den Fabriken sind unbeliebt. Für die, die keine anderen Optionen haben, schaffen sie in einem der ärmsten Länder der Welt aber immerhin ein kleines Einkommen. Wenn Fabriken keine Wunderwaffe im Hier und Jetzt sind – verbessern sie dann zumindest auf längere Sicht die Lage in diesen Ländern? Ich schaue in meinen Kasten, nehme eine Jogginghose heraus. »Made in Bangladesh« steht da – kein Zufall, das Land ist mittlerweile zum zweitgrößten Exporteur von Kleidung nach China aufgestiegen.3 Fast alles, was Bangladesch ins Ausland verkauft, sind T-Shirts, Pullover und Socken. H&M lässt dort in unzähligen Fabriken produzieren. Wenn meine Nachfrage also gut für die Welt ist, dann muss sich das in Bangladesch zeigen. Tut es das? Wie sich gleich herausstellen wird: Ja.

Yale-Ökonom Mushfiq Mobarak, er ist in Bangladesch aufgewachsen, hat genau dazu geforscht. Seine Studie legt nahe, dass der Textilsektor das Leben von Frauen im Land fundamental zum Besseren verändert hat.4 Fast alle der vier Millionen Menschen, die in den Fabriken arbeiten, sind nämlich Frauen. Ihre Lebenserwartung ist seit 1990 um 16 Jahre gestiegen. In Österreich in derselben Zeit nur um vier Jahre. Das hat viele Gründe, aber der Textilsektor hat daran allem Anschein nach einen Anteil. Denn das Leben jener Menschen, die in der Nähe von Fabriken wohnen, hat sich besonders verbessert. Mädchen heiraten laut Mobarak später und bleiben länger in der Schule. Früher sei die Schule nicht so wichtig gewesen. Heute bekämen jene, die gut lesen, schreiben und rechnen können, bessere Jobs – in den Fabriken. Weil sich aus heutiger Sicht die Schule später auch einmal finanziell auszahlt. Bangladesch ist nicht nur wegen seines Textilsektors interessant, sondern insgesamt seit einiger Zeit ein kleines Wunder der Entwicklung. Schon bevor die großen Konzerne dort für das Ausland produzieren ließen, hat sich viel zum Besseren verändert, obwohl das kaum jemand erwartet hatte. Das Land ist noch keine 50 Jahre unabhängig, bis dahin war es eine der ärmsten Regionen Pakistans, eines an und für sich schon ziemlich armen Landes.5 Wahiduddin Mahmud, ein Ökonom aus der Hauptstadt Dhaka, schreibt, dass NGOs im Land besonders wichtige Arbeit geleistet haben.6 In den 1980ern war nur ein Prozent der Bevölkerung geimpft, innerhalb von zehn Jahren waren es über 70 Prozent, Unicef nannte das »beinahe ein Wunder«.7 Die NGO BRAC verteilte kleine Salz-Zucker-Drinks, die man bei Durchfall zu sich nehmen sollte. Die sorgen dafür, dass man nicht dehydriert. 1980 starb noch eines von fünf Kindern, bevor es fünf Jahre alt wurde, und zwar oft, weil sie der Durchfall so schwächte, heute nur mehr eines von 30. Ein Rückgang der Sterblichkeit um 84 Prozent. Sie ist noch immer viel zu hoch. Denn in Österreich stirbt nur ein Kind von 300 vor dem fünften Geburtstag. Aber die Entwicklung ist erstaunlich und schnell. Auch kleine Kredite für arme Menschen, die keinen Zugang zu Banken hatten, haben geholfen. Die mittlerweile berühmte Grameen Bank von Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus nahm dort ihren Ausgang. All die Arbeit von engagierten Menschen hat gemeinsam mit schlauer Politik dafür gesorgt, dass sich die Lage in Bangladesch so stark verbessert. Heute ist das Land in die Weltmärkte integriert, und die Fabriken, in denen meine Kleidung hergestellt wird, machen es möglich, dass die Armut noch stärker zurückgeht, denn sie bringen Geld und Wissen ins Land. Dass der Textilsektor in der Entwicklung hilft, wie der Ökonom Mushfiq Mobarak in seiner Studie bilanziert, ist keine skurrile These eines Außenseiters, seine Studie fügt sich in viele andere Arbeiten ein, die gemeinsam ein positives Bild zeichnen. Menschen finden nicht nur Arbeit, in Südasien verdienen sie im urbanen Textilsektor auch mehr als mit Arbeit auf dem Land. Mit der Zeit haben Menschen die Chance, bessere Jobs zu finden. Lokale Firmen profitieren außerdem vom ausländischen Know-how.8

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Tab. 1: Lebenserwartung bei der Geburt in Jahren (in Ländern mit Textilindustrie)

Ist dann also alles gut? Nicht ganz. Das Leben mit Fabriken scheint laut Mobarak besser zu sein als ohne. Das heiße aber nicht, dass man als Einzelperson im Westen nichts tun könne. Firmen hätten wenige Anreize, in bessere Standards zu investieren. Zwar seien die Fabriken in Bangladesch heute deutlich sicherer als vor dem Einsturz von Rana Plaza – damit aber nicht tausend Menschen sterben müssen, damit sich etwas ändert, müssten Konsumenten wachsam sein. »Überlegen Sie, ein bisschen mehr Geld für bessere Kleidung zu bezahlen«, rät mir Mobarak. »Üben Sie Druck auf Firmen aus, bei denen Sie einkaufen, oder kaufen Sie Kleidung, die unter gewissen Standards produziert wurde.«9 Aber was ist bessere Kleidung, und wo kriegt man sie? Bei welchen Firmen kann ich einkaufen, wenn ich mich nicht damit abfinden will, dass sich die Lage eh dann irgendwann einmal langsam ein bisschen bessert?

Was ist bessere Kleidung?

Ich mache mich auf die Suche. Egal bei welchem Hersteller, auf der jeweiligen Homepage wird man schnell fündig. Die vielen Skandale, Proteste und Unfälle der Vergangenheit sorgen dafür, dass es sich kaum eine Marke leisten kann, sich nicht damit zu befassen. So findet man bei Zara-Mutter Inditex Regeln für Zulieferer, auch Levi Strauss und H&M erklären sich. Aber ist das vertrauenswürdig? Glaube ich dem Bäcker, wenn er mir sagt, er verkauft die besten Semmeln der Welt? Lieber nicht. Die Clean Clothes Campaign hilft weiter, eine NGO mit einigem Einfluss, die sich seit Langem für bessere Bedingungen in der Industrie einsetzt. Sie fordert die Unternehmen dazu auf, ihre Zulieferer offenzulegen. Die großen Textilfirmen lagern die Produktion großteils aus. Wer nicht preisgibt, wo Fabriken stehen, wird dafür schon seine Gründe haben. Und siehe da: Zara ist verschwiegen, H&M hingegen sehr offen. Auch Levi Strauss, C&A, Nike oder Adidas sind transparenter, kik, Ralph Lauren oder Mango dagegen gar nicht.10 Gut zu wissen. Vor vier Jahren hat die NGO Firmen darauf untersucht, wie sehr diese darauf achten, ob Mitarbeiter*innen bei Lieferanten von ihrem Lohn leben können. Ich habe etwa schon ältere Laufschuhe von New Balance, einer US-Firma, die sehr schlecht abschneidet – und einmal per Mail nachgefragt, warum das so ist.

Ich habe also erste Hinweise, aber das reicht noch lange nicht. Ich will mehr wissen und rufe Nunu Kaller an. Sie ist Konsumentensprecherin bei Greenpeace. Worauf soll ich beim Einkaufen achten? Auf die Umwelt, sagt sie. Ein Viertel der weltweiten Insektizide lande auf Baumwolle. Wenn Stoffe gefärbt würden, beim Spinnen, beim Bedrucken, bei allem, was mit Wasser zu tun hat, sei der Einsatz von Chemikalien irre. Greenpeace hat deshalb die sogenannte Detox-Kampagne gestartet. 76 Modemarken haben sich dazu verpflichtet, bestimmte Chemikalien nicht mehr einzusetzen.

Bis 2020 läuft die Maßnahme, online kann man nachsehen, wie weit die Firmen mit der Umsetzung sind. Nike ist hintennach. Weil ich viele Sportsachen von Nike besitze, habe ich die Firma auf Twitter gefragt, warum das so ist. H&M und Zara sind beispielsweise Vorreiter.

Aber: Die beiden Konzerne treiben die sogenannte »Fast Fashion« führend an. Darunter versteht man, dass Läden Kollektionen ständig erneuern, rasch auf Trends auf- und wieder abspringen. Erstens, sagt Kaller, erhöhe das den Druck auf die Menschen in den Fabriken, zweitens sei das mitverantwortlich für den steigenden Einsatz von Polyester. 60 Prozent der Kleidung würden schon aus Polyester hergestellt, mit Baumwolle könne man nicht so schnell produzieren. »Das große Problem damit ist – außer, dass es schlicht Erdöl ist – das Waschen«, so Kaller. »Dabei lösen sich Fasern. Mikroplastik landet in Flüssen und im Meer, es baut sich nicht ab, sondern wird immer kleiner und kleiner, landet in Fischen und auch in unserem Darm.« Was also tun? Grundsätzlich rate sie allen, sich bei Einkäufen gut zu überlegen, ob man das wirklich brauche, ob es passe. Secondhand sei aus ökologischer Sicht das Beste. Und je länger man etwas trage, desto besser.

Secondhand? Ich weiß nicht. Ich kaufe selten Kleidung, und wenn, dann möchte ich nicht lange stöbern, sondern es schnell hinter mich bringen. Dazu kommt, dass viele ärmere Menschen davon leben, neue Kleidung herzustellen. Ich sehe aber schon: gute Firmen zu finden ist kompliziert. Zara verrät mir nicht, wo Fabriken stehen, ist aber beim Detox-Ranking von Greenpeace vorne dabei. H&M ist transparent, sorgt aber mit seinen häufigen Kollektionswechseln genau wie Zara dafür, dass Umwelt und Menschen leiden. Hm. Ist es etwa unter dem Strich eh »gehupft wie gehatscht«? Nicht, wenn man Konstantin Wacker von der Uni Groningen glaubt. Konzerne, die unter Druck kommen wie H&M oder Nike, könnten es sich laut Wacker nicht leisten wegzusehen. Wer einen Ruf zu verlieren habe, der habe eher im Auge, unter welchen Bedingungen produziert wird.11 Für kik gelte das zum Beispiel nicht. »Das ist ein bisschen wie beim Fleisch. Wenn Sie beim Diskonter einkaufen, können Sie sich vorstellen, wie das produziert wurde.« Studien von Chikako Oka von der University of London legen nahe, dass Massen- und große Sportmarken mehr darauf achtgeben, unter welchen Bedingungen produziert wird. Ich weiß jetzt ein wenig mehr, mir wird aber schon ein bisschen schwindelig. Elke Schüßler leitet das Institut für Organisation an der Kepler-Uni in Linz und forscht seit Jahren zu der Frage, wie sich die sozialen und ökologischen Bedingungen in der Textilindustrie bessern lassen. Kann sie mir eine klare Antwort geben? Ich nehme es vorweg: Nein.

Schüßler bestätigt, dass Markenfirmen unter höherem Druck stehen und mehr unternehmen, ob das allerdings tatsächlich etwas bringe, sei sehr schwierig zu sagen. Luxusmarken machen auf dem Papier mehr als Diskonter. Das sage aber noch nicht viel darüber aus, was in den Fabriken passiert. Unternehmen wie Aldi oder Lidl zahlen zwar sehr niedrige Stückpreise, aber weil sie beispielsweise ein paar Millionen weiße T-Shirts am Stück bestellen, mache das die Planung einfacher und für Arbeiter*innen berechenbarer. Unternehmen aus dem »Fast fashion«-Segment wie H&M oder Zara hingegen würden oft kurzfristig auch kompliziertere Teile in großen Mengen nachbestellen, was für die Arbeiter*innen auf nicht geplante lange Arbeitszeiten hinauslaufe. Das sehe man laut Schüßler dem Preis oder dem Teil aber nicht an. Ob Diskonter schlechter als andere seien? Das könne man nicht sagen. Ohne die Lieferketten, das Geschäftsmodell und die Einkaufspraktiken der Unternehmen zu kennen, lasse sich sehr wenig darüber sagen, was bestimmte Maßnahmen am Ende für die Arbeiterinnen heißen würden. Der Preis an sich sage nichts darüber aus. Teuer heiße nicht gut. Die Website »rank a brand« kann behilflich sein. Dort kann man Markennamen eingeben und erhält eine mehr oder weniger aussagekräftige Übersicht. Nike erhält ein »C«, also quasi eine »3« im amerikanischen Notensystem. Und jetzt? Kann ich also unter dem Strich gar nichts machen? »Doch«, meint Schüßler, »erzeugen Sie Druck. Die Unternehmen sagen, die Kunden wollen einfach den niedrigsten Preis. Sagen Sie ihnen, dass das nicht so ist. Den Druck aufrechtzuerhalten ist der größte Beitrag, den man leisten kann. Fragen Sie, wo das produziert wurde! Wo findet man Informationen? Wenn die ein Unternehmen nicht geben kann, dann sagen Sie ihm, ich kaufe das nicht.«

Das ist auch der Tipp von Nunu Kaller von Greenpeace: »Fragen Sie im Laden nach! Wenn einer das macht, vergisst es die Verkäuferin wieder. Wenn mehrere kommen, leitet sie das irgendwann weiter.« Es ist nicht sehr befriedigend, aber am Ende bleibt mir nur das: nachfragen, nerven, Infos fordern. Per E-Mail, auf Twitter oder Instagram, und in Läden. Positiv stimmt mich eine Studie, die nahelegt, dass Proteste im Textilsektor in den 1990ern tatsächlich zu höheren Löhnen in Indonesien führten.12 Manche Firmen legen mehr Wert darauf als andere, nach der Faustregel: Je bekannter sie sind und je mehr öffentliche Aufmerksamkeit sie bekommen, desto eher tun sie etwas für bessere Bedingungen für Mensch und Umwelt. So oder so: Ich will sie wissen lassen, dass mir nicht egal ist, wie sie produzieren. Vielleicht gibt es aber noch eine andere Möglichkeit. Meine Interviewpartner*innen erzählen mir von »fairer Mode«. Kann ich einen Beitrag leisten, indem ich für ethisch »gute« Marken mehr Geld auf den Tisch lege?

Dann probieren wir das mal

Ein paar Tage später, früher Abend, auf der Mariahilfer Straße in Wien. In einer Stunde machen die Geschäfte zu, ich habe eigentlich keine Zeit und auch keine Lust, eine Hose brauche ich jetzt aber trotzdem. Eine Bekannte hat mir Turek empfohlen. Dort gebe es ein eigenes Eck mit explizit fair hergestellter Kleidung. Eigentlich muss ich schon weiter, aber ich schaue am Weg schnell rein, probiere eine, eine zweite, der Schnitt gefällt mir, sie sitzt. 140 Euro! Ich schaue mich um, die anderen sind noch teurer. Viel zu viel, denke ich mir – sonst kaufe ich meistens Billigware bei H&M oder Zara. Ich mache es trotzdem. Bananen kaufen wir auch mit dem Fairtrade-Siegel, warum also nicht auch Kleidung?

Ich bin konsequent, denke ich mir und fühle mich gut, bin aber auch unsicher, wie klug das gerade war. Mittlerweile ist eine gar nicht so kleine Gegenbewegung in der Textilindustrie entstanden. In Linz findet jedes Jahr im Herbst die Messe »Wear Fair« statt, die laut Eigenangabe zuletzt 14.000 Menschen besuchten. 100 faire Modefirmen stellten aus. Ich spreche mit Stefan Robbrecht-Roller, sein Job ist es, die Firmen für die Messe abzuklopfen. Wie weiß er, wer fair produziert? Ich habe zuvor schon viel gelesen, aber von der Vielzahl an Zertifikaten und Labels wurde mir schwindelig. Laut Robbrecht-Roller sagen viele Modefirmen von sich, sie setzen sich ein. Man könne aber danach aussieben, wer sich extern prüfen lasse und wer nicht. Auf siegelklarheit.de, einem Projekt der deutschen Bundesregierung, könne man das nachprüfen. Ein wichtiges Zertifikat, nach dem man Ausschau halten kann, ist GOTS (Global Organic Textile Standard). Da seien die Standards sehr hoch, man habe faire Arbeitsbedingungen vom Anbau bis zur Verarbeitung. Viele Kleidungsfirmen, die es mit Nachhaltigkeit ernst nehmen, nehmen diese Zertifizierung. Die wichtigste Frage für Robbrecht-Roller ist, ob Gewerkschaften eingebunden werden. Vier Zertifikate seien zur Orientierung gut: Da wäre neben GOTS einmal IVN Best, beide befassen sich mit ökologischen und sozialen Standards und vielen Schritten der Herstellung von Kleidung. Kleinere sind das EU-Ecolabel, das sich nur auf ökologische Aspekte konzentriert, und Fair Trade Cotton, das sich auf die Kontrolle der Herkunft der Baumwolle beschränkt. Letztendlich ist es laut Robbrecht-Roller kein lückenloses System, ein besseres gibt es aber (noch) nicht. Jacinta FitzGerald, eine Beraterin für faire Mode, empfiehlt mir noch Cradle To Cradle (C2C), das verlässlich und verbreitet ist. Das gibt es übrigens auch bei C&A zu kaufen. Ein Leser hat mich per Mail darauf hingewiesen, dass er auch bei Spar, Hofer und Tchibo immer wieder GOTS-Kleidung finde, vor allem Socken und Unterwäsche. Ich habe also ein paar Zertifikate im Kopf, die Expert*innen gut finden. Damit kann ich arbeiten. Die Hose, die ich gekauft habe, ist von Nudie Jeans, sie trägt das GOTS-Siegel. Immerhin. Ich gehe zu einem kleinen, schicken Laden in der Kirchengasse mitten in Wiens Bobo-Bezirk Neubau. Das Label sagt von sich, dass es nur faire Mode verkauft. Ich gehe die Stiege hinauf, sehe eine sehr schöne Kapuzenweste, mein erster Blick gehört dem Preisschild – 150 Euro! –, dann dem Etikett: »Gewebt in Götzis, Vorarlberg, bedruckt in Ungarn«. Ich gehe weiter, die T-Shirts kosten bis zu 40 Euro, ein Pullover 80 Euro, »Peta approved« steht darauf, wo und wie er hergestellt wurde, nicht. Ich frage nach. »All unsere Kleidung wird in Europa produziert«, sagt mir eine Verkäuferin. »Wir wollen keine menschenunwürdige Produktion.« Ich schlucke. Schon wieder. Seit ich mich mit dem Thema befasse, fällt mir das immer wieder auf. Zuerst las ich in einem Magazin von einem Label, das wegen der schlechten Arbeitsbedingungen in ärmeren Ländern nur mehr in Europa produzieren lässt. Fashion-Blogger*innen empfehlen lokal produzierte Ware, die deutsche Marke Trigema produziert nur in Deutschland und ist stolz darauf. Kann das der Sinn der Sache sein, frage ich mich und verlasse den Laden. Für ärmere Länder ist der Textilsektor – wie wir bereits erfahren haben – der perfekte Einstieg in die Industrialisierung. Das war in China so, das ist in Bangladesch, in Kambodscha und in Sri Lanka so, und wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, war das auch in Österreich so. Viele der Arbeiten sind relativ einfach, entscheidend sind niedrige Löhne – oft der einzige Vorteil dieser Länder im internationalen Wettbewerb. Am Beispiel Bangladesch ist der positive Effekt, den ausländische Nachfrage hat, gut dokumentiert. Auch in anderen Ländern der Region, in denen viel Kleidung produziert wird, wird das Leben immer besser.

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Abb. 1:Entwicklung des Human Development Index (berechnet aus Bildung, Gesundheit und Einkommen) in Sri Lanka, Thailand, Vietnam, Indonesien, Indien und Kambodscha von 1960 bis heute (Quelle: Our World in Data)

Wenn ich jetzt zum Beispiel keine Kleidung mehr kaufe, die in Bangladesch hergestellt wurde, geht es den Arbeiter*innen dann besser? Wohl kaum. Sie haben dann gar keinen Job mehr oder nehmen einen anderen an, der vielleicht noch schlechter ist. Ich suche faire Mode, die in ärmeren Ländern produziert wird. Dass das gar nicht so einfach ist, habe ich in den vergangenen Wochen gelernt. Zwar finde ich in anderen Läden – Green Ground, online im Avocadostore – erschwinglichere Kleidung und kaufe sie auch. Ein T-Shirt für 20 Euro, eines für 30, einen verbilligten Hoodie für 35.

Bei Green Ground kaufe ich eine Hose für 109 Euro, das finde ich okay, zwei T-Shirts für 30 Euro, auch damit kann ich leben, eine Boxershort für 20 Euro, was mir viel zu teuer ist, ich brauche eigentlich mehrere, es ist die einzige in meiner Größe. Bei H&M hätte ich dafür vier bekommen – und sie wären auch lagernd gewesen. Nicht immer ist ersichtlich, wo sie produziert wurden. Nicht immer finde ich die Zertifikate, nach denen ich Ausschau halte. Manchmal google ich kurz, bin dann oft auch nicht viel schlauer. Bewusst einkaufen ist mühsam, ich nehme die Kleidung dann trotzdem, weil ich mich nicht noch dreimal auf den Weg machen möchte, und frage mich, ob das jetzt irgendetwas gebracht hat oder ich gerade viel Geld nur für ein gutes Gewissen ausgegeben habe.

Was sagt Stefan Robbrecht-Roller dazu? Ist es schwierig, faire Mode aus ärmeren Ländern zu finden? »Ich habe auch den Eindruck, dass viele versuchen, näher bei ihren Absatzmärkten zu produzieren«, sagt er. Es lasse sich besser kontrollieren. Dazu komme das Umweltargument: »Bei Made in Europe sind die Transportwege kürzer. Aber ja, natürlich brauchen auch ärmere Länder Jobs und eine Wirtschaft, es ist eine schwierige Diskussion. Die Logik der fairen Modefirmen ist: Das Öko-Argument zieht immer besser als das soziale.«

Ich seufze und denke nach. Immer gut einzukaufen – für mich heißt das: faire Kleidung aus ärmeren Ländern – erscheint mir unmöglich. Was kann ich also tun? Mir Mühe geben, darauf achten, in bestimmte Geschäfte gehen, nach dem GOTS-Zertifikat suchen, dort nicht immer finden, was ich brauche, und wenn ich in Mainstream-Läden einkaufe, kundtun, dass mir nicht egal ist, wie sie produzieren. Auch Robbrecht-Roller sagt, er finde nicht immer genau das, was er gerade brauche. Auf der Wear Fair hat man vor einigen Jahren eine Umfrage gemacht, die meisten gaben an, nicht mehr als 20 bis 25 Prozent faire Kleidung zu schaffen, sagt er. Das Wichtigste ist, sich Gedanken zu machen, so bewusst wie möglich zu handeln – und sich von den schnell wechselnden Trends der großen Ketten nicht zu wöchentlichen Shopping-Trips verleiten zu lassen. Damit kann ich leben. Ethischer Konsum ist schwierig, ganz ehrlich, er nervt auch ein bisschen – und ja, nicht jede/r kann ihn sich leisten. Darüber nachzudenken, wo und wie Dinge produziert werden, ist aber lehrreich. Wer möchte, kann so einen Beitrag leisten. Ich werde jedenfalls versuchen, künftig so gut wie möglich einzukaufen. Ist dann alles gut? Nein, sicher nicht, aber vielleicht wird es ein kleines bisschen besser.

Und die Politik?

»Jeder Einkauf ist im Prinzip wie wählen gehen. Mit meinem Griff zum richtigen T-Shirt oder zur richtigen Tomate entscheide ich mit, wie die Welt aussieht, wie Menschen leben und arbeiten und ob die Umwelt verschmutzt wird.« In etwa so hört man das immer wieder von Aktivist*innen. Beim Einkaufen nicht nur Semmeln und Klopapier mitzunehmen, sondern nebenbei auch gleich noch die Welt zu retten, wäre ja wirklich ein Traum, aber so einfach ist das leider nicht. Was nicht heißt, dass ich nicht trotzdem Impulse setzen kann. So bin ich etwa den Menschen, die seit Jahren beim Kleidungskauf auf soziale und ökologische Kriterien achten, sehr dankbar. Denn sie sind der Grund, warum es schon größere Läden und Online-Shops gibt, in denen ich fair einkaufen kann. Irgendwann dringen diese Siegel vielleicht in der Masse in die großen Läden. Vielleicht aber auch nicht. Am Ende des Tages ist immer die Politik gefragt. Was könnte sie tun?