JEAN PIAGET

DAS MORALISCHE
URTEIL
DES KINDES

Aus dem Französischen übersetzt
von Lucien Goldmann und Hans Aebli

Vollständig überarbeitet von Richard Kohler

Mit einer Einführung von Thomas Kesselring

IMPRESSUM

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Eine chronologische Gesamtbibliographie der Werke Piagets finden Sie auf www.klett-cotta.de/piaget.

Die erste deutschsprachige Ausgabe des Titels ist 1954 im Verlag Rascher, Zürich, in der Übersetzung von Lucien Goldmann auf der Basis der zweiten Auflage von 1948 erschienen. 1973 folgte eine Ausgabe in sechs Auflagen bei Suhrkamp, Frankfurt am Main. 1983 veröffentlichte Klett-Cotta, Stuttgart, eine von Hans Aebli überarbeitete Ausgabe. Die vorliegende Ausgabe wurde 2015 von Richard Kohler vollständig überarbeitet.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Le jugement moral chez l’enfant« ©1932 by Presses Universitaires de France

Für die deutsche Ausgabe ©1954/1983/2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung eines Fotos von © Fondation Jean Piaget, Genf

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Vollständig durchgesehene, überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, 2015

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94813-4

E-Book: ISBN 978-3-608-10682-4

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20228-1

Dieses E-Book entspricht der aktuellen Auflage der Printausgabe

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

INHALTSVERZEICHNIS

Einführung von Thomas Kesselring

Vorwort

ERSTES KAPITEL
Die Spielregeln

§ 1: DIE REGELN DES MURMELSPIELS

§ 2: DIE BEFRAGUNG DER KINDER UND IHRE ALLGEMEINEN ERGEBNISSE

§ 3: DAS PRAKTIZIEREN DER REGEL

1. Die ersten zwei Stadien

2. Das dritte und vierte Stadium

§ 4: DAS REGELBEWUSSTSEIN

1. Die beiden ersten Stadien

2. Das dritte Stadium

§ 5: EIN SPIEL DER MÄDCHEN – »ILÊT CACHANT«

§ 6: SCHLUSSFOLGERUNGEN

1. Die motorische Regel und die beiden Arten des Respekts

2. Der Respekt vor der Gruppe oder der Respekt vor den Personen – die Suche nach einer Leithypothese

ZWEITES KAPITEL
Zwang der Erwachsenen und moralischer Realismus

§ 1: DIE METHODE

§ 2: DIE OBJEKTIVE VERANTWORTLICHKEIT

1. Ungeschicklichkeit und Diebstahl

2. Die Lüge

3. Die Lüge und die beiden Typen des Respekts

§ 3: SCHLUSSFOLGERUNGEN

1. Der moralische Realismus

2. Allgemeine Schlussfolgerung

DRITTES KAPITEL
Die Kooperation und die Entwicklung des Gerechtigkeitsbegriffs

§ 1: DAS PROBLEM DER SANKTION UND DER RETRIBUTIVEN GERECHTIGKEIT

§ 2: DIE KOLLEKTIVE UND ÜBERTRAGBARE VERANTWORTLICHKEIT

§ 3: DIE »IMMANENTE GERECHTIGKEIT«

§ 4: DIE DISTRIBUTIVE UND DIE RETRIBUTIVE GERECHTIGKEIT

§ 5: GLEICHHEIT UND AUTORITÄT

§ 6: DIE GERECHTIGKEIT UNTER KINDERN

§ 7: SCHLUSSFOLGERUNG – DER GERECHTIGKEITSBEGRIFF

VIERTES KAPITEL
Die beiden Arten der kindlichen Moral und die Typen der gesellschaftlichen Beziehungen

§ 1: DURKHEIMS UND FAUCONNETS THESEN ÜBER DIE VERANTWORTLICHKEIT

§ 2: DURKHEIMS LEHRE VON DER MORALISCHEN AUTORITÄT

1. Einleitung

2. Die moralische Erziehung

§ 3: BOVETS THEORIE

§ 4: BALDWINS SICHTWEISE

§ 5: SCHLUSSFOLGERUNGEN

Literaturverzeichnis

Sachregister

Personenregister

EINFÜHRUNG

Thomas Kesselring

Piagets Buch über das moralische Urteil beim Kinde ist in deutscher Sprache erstmals vor sechzig Jahren erschienen, dreißig Jahre später zum zweiten und nun, nach weiteren dreißig Jahren, zum dritten Mal. Weshalb diese Neuauflage, 82 Jahre nach Erscheinen des Originals? Es gibt dafür mehrere Gründe:

  • Piaget ist mit diesem Buch ein Pionierwerk gelungen: Als erster Psychologe entwarf er ein Panorama der Entwicklung des moralischen Urteils und Verhaltens. Das Buch ist leicht zu lesen und von einer strahlenden Frische, als wäre es erst gestern geschrieben worden. Es ist ein Klassiker. Man findet in ihm fast alle Elemente von Piagets späterer Theorie, und es ist zugleich seine ausführlichste Abhandlung darüber, wie soziale Beziehungen die geistige Entwicklung von Kindern beeinflussen.
  • Das Buch ist eine Fundgrube an köstlichen Dialogen mit Kindern, originellen psychologischen Beobachtungen und luziden Reflexionen zu Fragen von großer Tragweite: Aus welchen Motiven gehorchen Kinder? Welche Rolle spielen die Anweisungen der Erzieher? Wie lernen Kinder zwischen diesen Anweisungen und moralischen Regeln zu unterscheiden? Woher stammen diese Regeln? Wie bildet sich das Gewissen?
  • Die Ergebnisse, zu denen Piaget gelangte, haben bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt.

Im deutschen Sprachraum begann die Rezeption des Buches allerdings erst gute zwei Jahrzehnte nach Erscheinen der ersten Übersetzung – auf dem Umweg über die Arbeiten des Amerikaners Lawrence Kohlberg, der als Erforscher des moralischen Urteils bei Kindern und Jugendlichen in Piagets Fußstapfen getreten war und hierzulande vor allem durch den Philosophen Jürgen Habermas (Frankfurt), den Pädagogen Fritz Oser (Fribourg) und den Psychologen Georg Lind (Konstanz) bekannt wurde. Der Höhepunkt dieser Rezeption liegt nun zwei Jahrzehnte zurück. Es spricht aber nichts dagegen, sie jederzeit wieder aufzunehmen.

Piaget konzentrierte sich nicht wie Kohlberg auf die Diskussion moralischer Dilemma-Situationen. Und anders als viele seiner Nachfolger beschränkte er sich nicht darauf, klinische Gespräche mit Kindern zu führen, sondern ergänzte seine Studien zum Regelbewusstsein von Kindern mit Beobachtungen ihres Regelverhaltens. Viele Stunden verbrachte er kniend auf den damals noch autofreien Straßen Genfs und Neuenburgs, vertieft ins Murmelspiel, das er mit den Kleinen spielte, wobei er sich mit ihnen immer auch unterhielt: Woher stammen die Regeln? Kann man auch anders spielen? Darf man die Regeln verändern? Das Murmelspiel eignet sich für das Studium des kindlichen Regelverhaltens und -bewusstseins besonders gut, weil die Regeln von den Kindern selbst stammen. Piaget stellte fest: Die jüngsten Kinder spielen individuell, wie es ihnen gerade einfällt; Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren halten die Regeln für heilig und unveränderlich, folgen ihnen aber nicht, weil sie sie nicht verstehen. Ab einem Alter von sieben, acht Jahren spielen sie kooperativ und mit wachsendem Regelverständnis. Sie wissen, dass sich Regeln durch gemeinsame Absprachen verändern lassen. In einem noch späteren Stadium interessieren sich vor allem die Jungen für die Kodifizierung der Regeln.

Die Ergebnisse des ersten, dem Murmelspiel gewidmeten Kapitels werden in den zwei folgenden Kapiteln durch Studien zum kindlichen Verständnis von Verantwortung (»objektive« versus »subjektive« Verantwortlichkeit), von Lügen, Gerechtigkeit und gerechter Strafe vertieft und ergänzt.

Besonderes Gewicht legte Piaget auf die Beantwortung der Frage, weshalb Kinder ihren Erziehern gehorchen und aus welchen Motiven sie später Regeln und Normen befolgen. Dabei unterschied er zwischen zwei Typen der Achtung, die er aufeinander folgenden Phasen zuordnet. In der ersten manifestiert das Kind den »respect unilatéral«, eine einseitige Achtung gegenüber seinen Eltern, und in der zweiten, ab acht oder neun Jahren, eine Haltung des »respect mutuel«, der gegenseitigen Achtung. Zu dieser gelangt es im Umgang mit anderen Kindern. Piaget hat die Wichtigkeit der Peergroup für die soziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen immer wieder betont. Wie die Regeln des Murmelspiels hält das Kleinkind auch die Weisungen seiner Eltern für sakrosankt: Man muss gehorchen, darf nichts stehlen usw. Es internalisiert diese Weisungen aber nicht, es befolgt sie bald strikt dem Buchstaben nach und bald überhaupt nicht, weil es sie nicht versteht. Inspiriert von seinem Berufskollegen Pierre Bovet erklärte Piaget diese Haltung mit der einseitigen Achtung den Erwachsenen gegenüber. Wie Bovet führte er diese Haltung auf eine Mischung aus Zuneigung und Furcht zurück – Zuneigung, weil die Eltern für das Wohl des Kindes sorgen, und Furcht, weil sie ihm ihren Willen aufzwingen und es bestrafen können.

In den Augen des Kleinkindes sind Normen und Werte Bestandteile der Wirklichkeit. Fragt man es, was schlimmer sei, ein Kind, das den Eltern erzählt, es habe in der Schule eine gute Note erhalten, obwohl es gar nicht benotet wurde, oder ein Kind, das angibt, über einen Hund erschrocken zu sein, der so groß wie eine Kuh war, so findet es das zweite »schlimmer«: Jeder wisse doch, dass es so große Hunde nicht gibt, während man in der Schule durchaus ab und zu eine gute Note erhalte. Eine Unwahrheit wiegt also umso schwerer, je weiter sie von der Realität abweicht. Kleinkinder unterscheiden auch noch nicht zwischen Regelmäßigkeiten, die naturgegeben sind, und solchen, die sich in menschlichen Gesellschaften durch Konvention herausgebildet haben: »Man muss essen nach dem Spaziergang, schlafen gehen, wenn es Abend wird, baden bevor man zu Bett geht usw., genauso wie die Sonne am Tage und der Mond nachts scheint (…). All dies ist und muss sein, es drängt sich auf wie die Ordnung der Welt und muss einen Grund haben« (in diesem Band: 225).

Den Sinn sozialer Normen erfasst das Kind, sobald es beginnt, mit seinesgleichen Regeln auszuhandeln. Regeln lassen sich als Anweisungen verstehen, die man sich gegenseitig erteilt. Um sie zu verstehen, muss man imstande sein, sich auf den Standpunkt seines Gegenübers zu stellen. Durch diese Fähigkeit unterscheidet sich die gegenseitige von der einseitigen Achtung.

Piagets Le jugement moral chez l’enfant erschien in der Zwischenkriegszeit, 1932, kurz vor Hitlers Machtergreifung. Das Buch wirkt heute wie ein Zeugnis aus einer anderen Welt, einer Welt, in der Entwicklung nur eine Richtung kennt – zu einer Moral des Guten. Piaget assoziierte die Fähigkeit, sich auf den Standpunkt des Gegenübers zu stellen, automatisch mit Rücksichtnahme. Er zitierte auch die Goldene Regel »Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu!« (ebd.: 371). Jedoch blendete er aus, dass man eine Person, auf deren Standpunkt man sich stellt, auch gezielt ärgern und schikanieren kann. Als Gegenpart zur Goldenen Regel könnte ein Bösewicht ein diabolisches Prinzip erfinden: »Behandle den anderen so, wie du selbst auf keinen Fall behandelt werden möchtest!« Piaget argumentierte, die einseitige Furcht des Kindes vor der Macht der Erwachsenen mutiere bei der gegenseitigen Achtung zur »gänzlich moralischen Furcht, in den Augen des geachteten Individuums zu sinken« (ebd.: 438), und das bewahre die Individuen vor bösen Handlungen.

Die Schattenseiten der intellektuellen Entwicklung blendete Piaget weitgehend aus. Gut möglich, dass dies mit seinem christlichen Engagement in den Jahren vor Abfassung des Moralischen Urteils zusammenhängt (vgl. Band 2: Theologie und Reformpädagogik). Was in einer Publikation von 1928 noch göttliche Normen waren – eine innerpsychische Transzendenz –, sind vier Jahre später, im vorliegenden Buch, moralische Normen, die das Kind in einem jahrelangen Prozess aufbaut.

Man sollte den Einfluss von Piagets früher christlicher Phase nicht überbewerten; ihre Spuren verlieren sich kurz nach 1930 in seinem Werk praktisch völlig. Im vorliegenden Buch ist von der Religion nur noch nebenbei die Rede. Der 36-jährige Piaget konfrontiert im letzten Kapitel die Theorien bedeutend älterer, bekannter Autoren – vor allem des französischen Soziologen Emile Durkheim und des Westschweizers Pierre Bovet – mit seinen Forschungsergebnissen. Der Leser erfährt dort: Das religiöse Bewusstsein ist, wie überhaupt das menschliche Bewusstsein, einer Entwicklung unterworfen – vom furchteinflößend Heiligen, das Durkheim mit der Gesellschaft assoziiert (in diesem Band: 396, 406), bis zum göttlichen Idealwesen, das (laut Pierre Bovet) entsteht, sobald das Kind die Fehler seiner Eltern entdeckt und das Bild der Vollkommenheit, das es zunächst mit ihnen verbindet, in eine höhere Sphäre projiziert (ebd.: 431). Die Gottesvorstellung wird also immer individueller. Man musste, schrieb Piaget, »auf die höchst entwickelten Religionen warten, bis die Menschheit in der Lage war, den Göttern eine moralische Reinheit zuzuschreiben« (ebd.: 436). Damit widerlegte er sowohl Durkheims Auffassung, die soziale Entwicklung laufe zwangsläufig in Richtung einer atheistischen Gesellschaft, als auch dessen These, das Kind lerne hauptsächlich aufgrund des Zwangs durch die Erwachsenengesellschaft. Der Entwicklungsgedanke überstrahlt nun alles Übrige. Das Gute identifiziert Piaget mit einer »dem Gewissen immanenten Gleichgewichtsform« (ebd.: 441), zu der die Entwicklung hinstrebt.

Was sind die zentralen Botschaften des Buches? Wichtig ist sicher die These, dass das Motiv zu gehorchen und Regeln zu befolgen zunächst in der einseitigen Achtung des Kindes gegenüber seinen Erziehern gründet und später, ab dem Alter von sieben bis neun Jahren, in einer Haltung der gegenseitigen Achtung. Nicht weniger wichtig ist die Erklärung, die gegenseitige Achtung entstehe aus der sozialen Kooperation. Piaget sieht in der Kooperation sowohl die Quelle der Moral als auch eine Triebfeder der geistigen Entwicklung. Originell und wichtig ist aber auch die Erklärung der kognitiven Entwicklung als Dezentrierungsprozess, durch den der anfängliche Egozentrismus – die Befangenheit auf dem eigenen Standpunkt – überwunden wird.

Diesen Dezentrierungsprozess beschrieb Piaget aber nicht immer in der gleichen Weise. Das moralische Urteil des Kindes steht in dieser Hinsicht an der Schwelle zu einem Paradigmenwechsel. Auffällig ist, dass sein Autor, der sonst alle zwei Jahre mindestens ein Buch publizierte, das vorliegende Werk in der Mitte einer neunjährigen Periode fertigstellte, in der sonst kein weiteres Buch erschien. In dieser neunjährigen Periode baute Piaget seine Theorie grundlegend um.

In seinem Frühwerk beschrieb er die Bewusstseinsentwicklung als kontinuierlichen Prozess der Dezentrierung, beginnend mit einer Phase des »Adualismus« oder »Autismus« (Ausdrücke, die Piaget von Baldwin bzw. von Bleuler übernahm): Das Kind ist sich seiner selbst noch nicht bewusst und unterscheidet daher weder klar zwischen sich und der physischen Umwelt noch zwischen dem eigenen und einem fremden Standpunkt. Als Zweites nahm Piaget eine egozentrische Periode an, in der das Kind ein rudimentäres Selbstbewusstsein entwickelt, aber die unterschiedlichen Perspektiven auf denselben Gegenstand noch ebenso wenig miteinander koordiniert wie die unterschiedlichen Ansichten verschiedener Personen. Es verabsolutiert immer noch den eigenen Standpunkt. Gleichzeitig projiziert es die Instrumente seines Denkens – Namen zum Beispiel, aber auch Werte und Normen – in die Außenwelt. Piaget bezeichnete diese Tendenz als »Realismus«. Schöne Beispiele liefert das dritte Kapitel. So denken kleine Kinder etwa, wenn unter den Füßen eines Diebes der Holzsteg zusammenkracht, dass dies die natürliche Strafe für den Dieb sei. In dem Maß, wie sich Egozentrismus und Realismus abschwächen, so nahm Piaget weiter an, wird das Denken »sozial« und erreicht eine gewisse logische Stringenz.

Ab Mitte der 1930er Jahre stellte Piaget die intellektuelle Entwicklung nicht mehr als einen einzigen zusammenhängenden Dezentrierungsprozess dar, sondern als eine zyklische Folge mehrerer solcher Prozesse: Ein Kind überwindet seinen Egozentrismus immer wieder neu, gleichsam auf immer höheren Stufen. Jedes Mal »schlägt der Geist die gleichen Schlachten auf einer neuen Ebene« (Piaget 1937: 354). Ausschlaggebend für diesen Theoriewandel, über den Piaget übrigens nirgends Rechenschaft ablegte, waren die jahrelangen minutiösen Beobachtungen, die er an seinen eigenen Kindern (geboren 1925, 1927 und 1931) angestellt hatte: Schon der Säugling absolviert einen Dezentrierungsprozess, indem er seine Körperbewegungen und seine Sinnestätigkeit zunehmend differenziert und koordiniert; dabei gelangt er zu einem rudimentären Bewusstsein seines Körpers, seiner Bewegungen, seiner Gefühle und erkennt parallel dazu, dass die Objekte seiner Umgebung unabhängig von seinem Eingreifen existieren und auch nicht verschwinden, wenn er sie nicht mehr sieht, hört, tastet oder spürt.

Später entdeckten Piaget und seine engste Mitarbeiterin, Bärbel Inhelder, einen weiteren Dezentrierungszyklus auf der Stufe der formalen Operationen. Die These von der aufsteigenden Wiederkehr der Dezentrierung erhielt damit neue Nahrung: »Stufe um Stufe«, schrieb Piaget nun, wiederholt sich ein Prozess, der von der »Nichtunterscheidung zwischen dem Gegenstand oder dem anderen Menschen und der eigenen Tätigkeit« zu einer »Dezentration in Richtung der Objektivität und Reziprozität« führt (Piaget/Inhelder 1955: 330). Die zyklische Wiederholung der Dezentrierung ist im vorliegenden Buch noch kein Thema, die These deutet sich aber bereits an, etwa wenn Piaget schreibt: »In solchen Fällen folgt das sprachliche Denken einfach dem konkreten Denken verspätet nach, da es sich um eine symbolische Rekonstruktion der auf der früheren Ebene bereits ausgeführten Operationen auf einer neuen Ebene handelt« (in diesem Band: 143). Das Bewusstsein ist »gegenüber der eigentlichen Handlung zwangsläufig verspätet« (ebd.: 210).

Doch auch diese These wird später korrigiert. Die neue These lautet: Die Entwicklung des Handelns reflektiert sich in der Symbolfunktion (Vorstellungstätigkeit), die Entwicklung der Symbolfunktion im konkreten Denken (in den konkreten Operationen) und deren Entwicklung schließlich in einem Denken zweiter Ordnung (in den formalen Operationen). Diese Entwicklungen wirken aber zugleich auf das konkrete Handeln zurück: Dieses wird immer rationaler, immer stärker überlegungsgeleitet.

Forschungen im Anschluss an Piaget deuten darauf hin, dass die Annahme stufenweiser Dezentrierungen auch auf die moralische und soziale Entwicklung zutrifft. Dazu ein Beispiel: Babys sind im Alter von eineinhalb Jahren in der Lage, sich in andere Personen einzufühlen: Sie trösten einen Spielkameraden, der sich wehgetan hat und weint. Wie Hoffman und Mitarbeiter (2000) herausfanden, verhalten sich diese Kinder beim Trösten egozentrisch: Sie bieten dem Unglücklichen die eigene Puppe oder den eigenen Teddybären an, womit sie sich in vergleichbaren Situationen jeweils selber beruhigen. Dieser Egozentrismus verschwindet zu Beginn des dritten Lebensjahres. Kleinkinder trösten nun andere, indem sie ihnen deren eigene Puppe bringen.

Dass sich ähnliche Dezentrierungsprozesse später in der Moralentwicklung wiederholen, kann als wahrscheinlich gelten: Die Goldene Regel, die Kinder mit etwa zehn Jahren verstehen, ist nämlich im Kern egozentrisch – analog der egozentrischen Tröstungsstrategie beim Baby. Ein Missionar glaubt etwas Gutes zu tun, wenn er andere zu seiner eigenen Überzeugung bekehrt. Bernhard Shaw (1903: 227) hat das kritisiert: »Tu dem anderen nicht, was du willst, dass man dir tue, denn er könnte einen anderen Geschmack haben als du.« In der Tat zeugt der dezentrierte Ratschlag, »Füge keinem anderen etwas gegen seinen eigenen Willen zu«, von höherer Reife als die Goldene Regel.

Noch später, sobald der Jugendliche sich mit den Menschenrechten befasst, gewinnt die Unterscheidung zwischen egozentrischen und dezentrierten Ansichten – etwa bei der Diskussion der Frage, welche Grundrechte am wichtigsten sind – erneut Bedeutung. Wer beispielsweise von indigenen Völkern, die nicht staatlich organisiert sind, verlangt, sie sollten ihren Mitgliedern alle Menschenrechte zuerkennen, ist vermutlich ego- oder vielleicht besser: eurozentrisch.

Das Bild, das Piaget von der kindlichen Moralentwicklung gezeichnet hat, erinnert aus heutiger Sicht an einen Torso: Man erkennt die Figur als ganze, die Ausführung ist meisterhaft, aber noch etwas rudimentär. Untersuchungen nach Piagets Tod ergänzen den Torso und rücken ihn zum Teil in ein neues Licht, widerlegen aber Piagets Thesen in keinem entscheidenden Punkt. Es sind allenfalls Feinkorrekturen erforderlich:

  • Indem Piaget die Eltern-Kind-Beziehung als asymmetrisch darstellte und sie, durch Durkheim beeinflusst, mit sozialem Zwang assoziierte, erweckte er den Eindruck, als ob die Erwachsenen dem Kind bei der Überwindung seines Egozentrismus nicht wirklich helfen könnten. Wie Michael Tomasello (2009, 2010) nachgewiesen hat, ist die Beziehung zwischen Erzieher (Mutter) und Kind aber bereits sehr früh eine der Gegenseitigkeit: Wenn das Baby – schon mit neun Monaten! – auf ein Objekt zeigt, weiß es (oder vergewissert es sich), dass die Mutter zu ihm hinblickt, und es blickt selbst zu den Dingen, auf die die Mutter zeigt. Gegenseitiges Vertrauen entwickelt sich ähnlich früh: Das Baby erträgt die Abwesenheit seiner Mutter nur, weil es weiß, dass sie zurückkehren wird. Und die Mutter vertraut darauf, dass das Kind dies weiß. Diese frühe Gegenseitigkeit hat vorsprachliche Wurzeln; sie gründet in einer Kommunikation auf der Gefühlsebene – einem Phänomen, das Piaget entgangen zu sein scheint.
  • Aus dem Spektrum moralischer Gefühle hat Piaget nur ein schmales Segment vor Augen gehabt: die beiden Arten der Achtung und ansatzweise die Schuldgefühle. In Auseinandersetzungen moralischer Natur spielen weitere Emotionen wie Groll (Übelnehmen), Entrüstung oder Empörung und Dankbarkeit hinein, die bei Piaget aber ebenso wenig zur Sprache kommen wie das Einfühlungsvermögen, das für die gesamte Moralentwicklung die Grundlage bildet. Martin Hoffmans (2000) und Paul Harris’ (1992) Untersuchungen zu diesen Themen versehen den Torso, den Piaget geschaffen hat, gleichsam mit Händen und Füßen.
  • Der Gedanke an eine Entwicklungspsychologie der Menschenrechte lag in den 1930er Jahren noch nicht in der Luft. Piaget hat die Moralentwicklung nur bis ins Alter von elf bis zwölf Jahren studiert, bis zum Stadium, in dem die Kinder gerne Regeln kodifizieren. Lawrence Kohlberg hat in den 1970er Jahren gezeigt, dass das Konzept der Menschenrechte erst erheblich später verstanden wird – auf dem »postkonventionellen Niveau«. Im Schlusskapitel des vorliegenden Werks hat Piaget die moralischen Normen mit den Regeln in Verbindung gebracht, die den Gegenseitigkeits-Modus in der menschlichen Kooperation fundieren: Moral, schrieb er, ist »ein System von ›konstituierenden‹ Normen« (ebd.: 452). Er sagte dies als Philosoph, der er immer auch gewesen ist. Wann und auf welchem Wege Jugendliche diese Normen zu verstehen beginnen, hat er aber selbst nicht mehr untersucht.

LITERATUR:

Harris, Paul (1989): Das Kind und die Gefühle. Bern: Huber, 1992.

Hoffman, Martin (2000): Empathy and Moral Development. Implications for Caring and Justice. New York: Cambridge University Press.

Kohlberg, Lawrence (1981): The Philosophy of Moral Development. San Francisco: Harper & Row.

Kohlberg, Lawrence (1996): Die Psychologie der Moralentwicklung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Piaget, Jean (1937): Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde. Stuttgart: Klett, 1974.

Piaget, Jean (1955): Von der Logik des Kindes zur Logik des Heranwachsenden. Olten: Walter, 1974.

Shaw, George Bernard (1903): Man and Superman. A Comedy and a Philosophy. London: Penguin, 2004: 177–244.

Tomasello, Michael (2009): Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Tomasello, Michael (2010): Warum wir kooperieren. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

VORWORT

Der Leser findet in diesem Buch keine direkten Analysen der kindlichen Moral, wie sie in der Schule, in der Familie oder in Kindergesellschaften praktiziert wird. Wir haben uns vorgenommen, das moralische Urteil und nicht das Verhalten oder die moralischen Gefühle zu untersuchen. Zu diesem Zweck haben wir eine große Zahl von Kindern in den Schulen Genfs und Neuenburgs befragt und mit ihnen Gespräche zu moralischen Problemen geführt, wie früher zum Weltbild (Piaget 1926 [RM]) und zur Kausalität (Piaget 1927 [CP]). Auf den folgenden Seiten findet man die Ergebnisse dieser Studien. Zuerst wollten wir wissen, was in den Augen des Kindes selbst die Beachtung von Regeln bedeute. Daher sind wir von der Analyse der Regeln des gemeinschaftlichen Spiels und deren Verbindlichkeit im Gewissen des ehrlichen Spielers ausgegangen. Von den Spielregeln sind wir zu den durch die Erwachsenen vorgeschriebenen spezifisch »moralischen« Regeln übergegangen und haben gefragt, wie sich das Kind diese Pflichten vorstellt. Als bevorzugtes Beispiel in dieser Hinsicht diente uns die kindliche Einschätzung der Lüge. Schließlich haben wir die Begriffe untersucht, die aus den Beziehungen der Kinder untereinander hervorgehen, wobei wir den Begriff der Gerechtigkeit als besonderes Thema für unsere Unterhaltungen wählten. Die daraus gewonnenen Schlussfolgerungen schienen uns kohärent genug, um sie mit verschiedenen Hypothesen der gegenwärtigen Moralsoziologie und -psychologie zu konfrontieren. Diesen abschließenden Überlegungen gilt unser viertes Kapitel.

Wir sind uns der Schwächen und Vorteile unserer verwendeten Methode am meisten bewusst. Die große Gefahr, vor allem bei Fragen zur Moral, besteht darin, das Kind das antworten zu lassen, was man von ihm hören will. Dagegen gibt es kein unfehlbares Mittel, weder die Ehrlichkeit des Interviewers noch die methodologischen Vorsichtsmaßnahmen, die wir andernorts beschrieben haben (vgl. RM, Einleitung). Hier hilft nur die Kooperation der Forscher. Wenn andere Psychologen unsere Fragestellungen unter verschiedenen Gesichtspunkten mit Kindern aus verschiedenen Milieus replizieren, wird man früher oder später beurteilen können, was an unseren hier vorgestellten Ergebnissen objektiv und was willkürlich ist.1 Ähnliche Arbeiten sind schon in verschiedenen Ländern zum Kausalitätsbegriff und zur Logik der Kinder ausgeführt worden. Zwar hat man gewisse Übertreibungen unsererseits festgestellt, deren wir uns schuldig gemacht haben, aber die Ergebnisse haben bis heute keine entmutigenden Befunde bezüglich unserer Methode erbracht.

Unsere Methode hat anscheinend den Vorteil, das evident zu machen, was die bloße Beobachtung nur vermuten kann. Während der letzten Jahre habe ich beispielsweise die spontanen Äußerungen meiner eigenen Kinder aufgeschrieben, ohne ihnen die Fragen zu stellen, die ich in Das Weltbild des Kindes (1926) und La causalité physique chez l’enfant (1927) untersucht habe. Dabei haben sich die dort beschriebenen realistischen, animistischen, artifizialistischen Tendenzen und die dynamische Kausalität usw. im Großen und Ganzen deutlich bestätigt, aber der Sinn der interessantesten Begründungen und der zufällig auftretenden Reflexionen wäre mir fast völlig entgangen, hätte ich vorher nicht selbst Hunderte von Kindern über die gleichen Themen befragt (vgl. Piaget 1945). Natürlich ist eine spontane Aussage eines Kindes mehr wert als alle Befragungen, aber diese kann ohne die vorbereitenden Arbeiten in der Form von Befragungen nicht in der wahren Perspektive des kindlichen Denkens eingeordnet werden.

Es sind ähnliche Vorarbeiten, die wir dem Leser hier zum Thema des moralischen Urteils vorlegen. Wir hoffen, dass unsere Gerüste allen jenen, die mit Kindern zusammenleben und die ihre spontanen Reaktionen beobachten können, erlauben, das Gebäude selbst zu bauen! Die Moral des Kindes erhellt in gewisser Weise diejenige des Menschen. Wenn man Menschen bilden will, ist daher nichts nützlicher als das Studium der Gesetze ihrer Entwicklung.

Jean Piaget, 1948

ERSTES KAPITEL

DIE SPIELREGELN2

Kinderspiele stellen bewundernswerte soziale Institutionen dar. Das Murmelspiel der Knaben beispielsweise enthält ein sehr komplexes Regelsystem, d. h. ein Gesetzbuch und eine vollständige Rechtsprechung. Der Psychologe, der sich aus professioneller Pflicht mit diesem Gewohnheitsrecht vertraut macht, um dessen implizite Moral herauszuarbeiten, erkennt den Reichtum dieser Regeln allein schon aus der Mühe, die ihm die Beherrschung ihrer Einzelheiten verursacht.

Will man von der kindlichen Moral etwas verstehen, muss man offensichtlich mit der Analyse der entsprechenden Tatsachen beginnen. Jede Moral besteht aus einem Regelsystem, und der Kern jeder Moralität findet sich im Respekt, den das Individuum für diese Regeln empfindet. Die reflexive Analyse Kants, die Soziologie Durkheims und die Individualpsychologie Bovets stimmen in diesem Punkt überein. Die Unterschiede ihrer Lehren scheinen erst da auf, wo sie zu erklären suchen, wie das Gewissen3 dazu kommt, die Regeln zu respektieren. Dieses »Wie« wollen wir unsererseits im Bereich der Kinderpsychologie zu erhellen suchen.

Dem Kind werden die moralischen Regeln, die es zu beachten lernt, zum größten Teil von den Erwachsenen vermittelt, und zwar oft nicht allmählich, entsprechend seinen Bedürfnissen und Absichten, sondern in einer ein für alle Mal elaborierten Form, wie sie durch die ununterbrochene Folge vorangegangener Erwachsenengenerationen übermittelt worden sind. Daher die außerordentliche Schwierigkeit bei der Analyse des Ausgangspunkts für das, was vom Inhalt der Regeln und was vom Respekt des Kindes vor den Eltern stammt.

Im Falle der einfachsten Kinderspiele dagegen haben wir es mit Regeln zu tun, die die Kinder selbst ausgearbeitet haben. Ob uns diese Regeln ihrem Inhalt nach als »moralisch« erscheinen oder nicht, ist hier belanglos. Als Psychologen haben wir uns nicht auf den Standpunkt des erwachsenen Gewissens, sondern auf denjenigen der kindlichen Moral zu stellen. Die Regeln des Murmelspiels werden genauso wie die sogenannten moralischen Realitäten von Generation zu Generation überliefert und verdanken ihr Fortbestehen lediglich ihrer Beachtung durch die Individuen. Der einzige Unterschied ist, dass es sich hier um Beziehungen der Kinder untereinander handelt. Die Kleinen, die erst zu spielen anfangen, werden von den Großen allmählich dazu erzogen, die Gesetze zu respektieren, und überdies neigen sie mit ganzem Herzen zu jener für die Menschenwürde besonders kennzeichnenden Tugend, welche darin besteht, Spielregeln genau zu befolgen. Die Großen haben es in ihrer Macht, die Regeln zu ändern. Wenn das keine »Moral« ist – aber wo beginnt dann die Moral? – so ist es doch zumindest die Beachtung der Regeln, und eine Arbeit wie die unsere sollte mit der Untersuchung derartiger Tatsachen beginnen. Gewiss gehören die Phänomene, die sich auf das Murmelspiel beziehen, nicht zu den einfachsten. Ehe das Kind mit seinesgleichen zu spielen anfängt, steht es unter dem Einfluss seiner Eltern. Von der Wiege an wird es vielfachen Regelhaftigkeiten unterworfen, und noch bevor es zu sprechen beginnt, wird es sich gewisser Verpflichtungen bewusst. Diese Umstände üben sogar, wie wir sehen werden, einen unbestreitbaren Einfluss auf die Gestaltung der Spielregeln aus. Im Falle der Spiele ist jedoch die Einwirkung der Erwachsenen auf ein Minimum beschränkt, weshalb wir es mit Tatsachen zu tun haben, die, wenn auch nicht zu den elementarsten, so doch zu den spontansten und aufschlussreichsten gehören.

Vor allem ist es leicht, beim Studium der Spielregeln zwei Gruppen von Erscheinungen gleichzeitig zu beobachten: 1. das Praktizieren der Regeln, d. h. die Art, wie die Kinder verschiedenen Alters die Regeln tatsächlich anwenden; 2. das Bewusstsein der Regeln, d. h. die Art, wie die Kinder verschiedenen Alters sich den verpflichtenden, heiligen oder der eigenen Entscheidung unterworfenen Charakter, die Heteronomie oder die Autonomie der Spielregeln vorstellen. Der Vergleich dieser beiden Gruppen von Gegebenheiten bildet den eigentlichen Gegenstand dieses Kapitels. Die Beziehungen zwischen Praxis und Bewusstsein der Regeln sind in der Tat hervorragend geeignet, die psychologischen Aspekte der moralischen Tatsachen zu bestimmen.

Bevor wir an die psychologische Analyse der Praxis und des Bewusstseins der Spielregeln gehen, müssen wir einige Hinweise zum Inhalt dieser Regeln geben und damit die soziale Seite des Problems umreißen. Wir werden uns dabei auf das Allernötigste beschränken, da wir nicht versuchen, eine Soziologie des Murmelspiels zu schreiben, wozu wir erforschen müssten, wie dieses Spiel in früheren Zeiten gespielt wurde und wie es heute in allen Ländern der Welt, in Afrika ebenso wie bei uns, gespielt wird. Selbst wenn wir uns auf die französischsprachige Schweiz beschränken würden, bedürfte es wahrscheinlich einiger Jahre, um alle lokalen Varianten zu entdecken und vor allem um die Geschichte dieser Varianten im Verlauf der letzten Generationen darzustellen. Eine solche Studie wäre für den Soziologen vielleicht nützlich, aber für den Psychologen ist sie überflüssig. Ihm genügt die gründliche Kenntnis dieses oder jenes heutigen Gebrauches, um das Regellernen der Kinder zu erforschen, genauso wie ihm die Kenntnis einer noch so lokalen Sprechweise zum Studium der kindlichen Sprache genügt, und zwar ohne dabei alle semantischen oder phonetischen Veränderungen der Sprache in Zeit und Raum zu rekonstruieren. Wir werden uns daher darauf beschränken, das Spiel kurz zu analysieren, wie es in Genf oder Neuenburg in den von uns untersuchten Stadtvierteln gespielt wird.

§ 1

DIE REGELN DES MURMELSPIELS

Wer die Anwendung und das Bewusstsein der Regeln gleichzeitig untersuchen will, muss drei wesentliche Tatsachen berücksichtigen.

Erstens gibt es bei den Kindern einer bestimmten Generation auf einem beliebigen und noch so beschränkten Gebiet niemals eine einzige Art des Murmelspiels, sondern eine Vielzahl. Es gibt das »jeu du carré«, mit dem wir uns noch besonders befassen werden: Innerhalb eines auf den Boden gezeichneten Quadrats befinden sich einige Murmeln, und das Spiel geht darauf hinaus, sie von weitem zu treffen und aus dem Quadrat herauszubefördern. Es gibt das »courate«: Zwei Spieler zielen je auf die Murmel des anderen in einer endlosen Folge. Es gibt das »troyat« oder »creux«, bei dem die Murmeln in einer Vertiefung zu einem Haufen zusammengelegt werden und man versucht, sie mittels einer größeren und schwereren Murmel herauszubekommen usw. So kennt jedes Kind mehrere Spiele, und dieser Umstand kann je nach dem Alter dazu beitragen, den Glauben an den geheiligten Charakter der Regeln zu verstärken oder aufzuweichen.

Zweitens gibt es von einem und demselben Spiel, etwa dem Quadratspiel, wichtige örtliche oder zeitliche Varianten. Nach unserer Feststellung sind die Spielregeln in vier Gemeinden von Neuenburg4, die zwei bis drei Kilometer voneinander entfernt liegen, nicht die gleichen, und in Genf sind sie wiederum anders. In gewissen Punkten unterscheiden sie sich von Quartier zu Quartier und von Schule zu Schule. Außerdem gibt es, wie wir dank den Beiträgen unserer Mitarbeiter feststellen konnten, Abweichungen von Generation zu Generation. So konnte uns ein zwanzigjähriger Student berichten, dass man in seinem Dorfe heute nicht mehr so spielt wie »zu seiner Zeit«. Diese zeitlich und örtlich bedingten Variationen sind wichtig, weil die Kinder sehr oft davon wissen. Ein Kind, das den Wohnort oder auch nur die Schule gewechselt hat, erklärt häufig, dass diese Regel hier gilt und dort nicht. Oft erzählt es uns auch, sein Vater habe anders gespielt als es selbst. Bisweilen kommt es vor, dass ein vierzehnjähriger Schüler, der aus beginnendem Überlegenheitsgefühl den Kleinen gegenüber auf das Spiel verzichtet hat, sich je nach Temperament darüber beklagt oder lacht, dass die in seiner Generation üblichen Gebräuche, anstatt von der nachfolgenden ehrfürchtig bewahrt zu werden, in Vergessenheit geraten.

Schließlich ergibt es sich, in Verbindung mit diesen örtlichen und zeitlichen Interferenzen, dass ein und dasselbe Spiel wie das Quadratspiel in ein und demselben Schulhof nach mehreren verschiedenen Regeln gespielt werden kann. Die Elf- bis Dreizehnjährigen kennen diese Varianten sehr wohl und vereinbaren gewöhnlich vor dem Spiel oder währenddessen, an welche Regel sie sich halten wollen. Diese Tatsachen muss man sich vor Augen zu halten, da sie das Urteil des Kindes über die Gültigkeit der Regeln sicherlich mitbestimmen.

Nach diesen Feststellungen wollen wir in Kürze die Regeln des Quadratspiels darlegen, das uns als Prototyp dient, und uns zuerst mit der Sprache des Kindes befassen, um die weiter unten angeführten Dialoge zu verstehen. Übrigens sind gewisse Aspekte dieser Sprache an und für sich schon aufschlussreich, wie so häufig in der Kinderpsychologie.

In Neuenburg heißt eine Murmel »marbre« und in Genf »coeillu« oder »mapis«. Es gibt Murmeln von verschiedenem Wert. Die Zementmurmel allein gilt als wertvoll, die kleinere »carron« oder »mapis«, aus weniger solidem Ton hergestellt, ist weniger wertvoll, weil sie im Geschäft weniger kostet. Die zum Werfen dienenden Murmeln, die nicht in der Mitte des Vierecks liegen dürfen, werden nach ihrem Material »corna« (Karneolkugeln), »ago« oder »agathe«, »cassine« (Glaskugel mit bunten Adern), »plomb« (große, schwere, bleihaltige Kugel) usw. benannt. Jede ist so und so viel Murmeln oder »Steine« wert. Eine Murmel werfen heißt »tirer« (schießen) und mit der eigenen eine andere, sei es inner- oder außerhalb des Vierecks berühren, heißt »tanner« (treffen).

Es folgt eine Reihe von Sakralisierungs-Ausdrücken, die der Spieler braucht, um anzukündigen, dass er diese oder jene Handlung ausführen wird, womit deren Ergebnis rituell besiegelt wird: Sind diese Formeln einmal ausgesprochen, so kann der Gegner tatsächlich nichts mehr gegen den Entschluss seines Mitspielers unternehmen. Allerdings kann er ihm mit Verbotsausdrücken, mit denen wir uns weiter unten befassen werden, zuvorkommen, um dadurch die von ihm befürchteten Handlungen zu verhindern. Um etwa in erlaubten Situationen als Erster zu spielen, sagt das Kind (in Neuenburg) »prems« (sichtlich eine Verstümmelung von »premier«). Will es auf die »coche« (Linie, von der alle Spieler im Anfang ausgehen) zurück, sagt es einfach »coche«. Will es in doppeltem Abstand davon nach vorne oder zurück gehen, sagt es »zwei coches«. Wenn es sich in einer Entfernung von ein, zwei oder drei Handbreit davon nach vorn oder hinten bewegen will, so sagt es »ein, zwei, drei usw. empans«. Will es sich in einem Abstand, der dem, in dem es augenblicklich zu dem Quadrat steht, gleich ist, jedoch auf der anderen Seite aufstellen (um vermutlichen Schlägen des Gegners auszuweichen), so sagt es »du mien«, und will es den Gegner hindern, das Gleiche zu tun, sagt es in Neuenburg »du tien«. In Genf drückt man diese Stellungsveränderungen mit »faire une entasse« oder »entorse« aus. Um, wenn man an der Reihe ist, auszusetzen und so lange nicht zu spielen, bis der Gegner den Platz wechselt, sagt man »coup passé« usw.

Sobald diese Ausdrücke unter Umständen, welche natürlich durch eine ganze Gesetzgebung präzise geregelt sind, ausgesprochen sind, muss sich der Gegner fügen. Will dieser jedoch dem zuvorkommen, so braucht er nur die rituellen Verbote auszusprechen, die in Neuenburg einfach die gleichen sind, doch mit der im Dialekt gebrauchten Vorsilbe »fan« (verboten), zum Beispiel »fan-du-tien«, »fan-du-mien«, »fan-coche«, »fan-coup-passe« usw. Einige Kinder, die den Sinn dieser Vorsilbe nicht verstanden haben, da ihr in der heutigen Umgangssprache nichts mehr entspricht, sagen stattdessen »femme« (Frau), also »femme-du-tien«, »femme-coche« usw.

Halten wir noch zwei besonders suggestive Sakralisierungsformeln fest, die bei den kleinen Genfern gültig sind: »glaine« und »toumiké«. Plaziert ein Spieler (im Quadrat) eine wertvollere Murmel in der Meinung, es sei eine gewöhnliche, z. B. eine »ago« anstelle einer »coeillu«, so darf er natürlich seine Murmel wieder zurücknehmen und an ihre Stelle eine gewöhnliche legen, wenn er seinen Irrtum bemerkt. Ein Gegner, der diese Murmel einsteckte, nachdem er sie »getroffen« und so die Zerstreutheit seines Mitspielers ausgenützt hätte, wäre unaufrichtig. Die Kinder, die wir darüber befragt haben, waren einstimmig der Meinung, dies entspreche einem Diebstahl. Merkt dagegen der Gegner den Irrtum seines Mitspielers rechtzeitig und spricht er das Wort »toumiké« aus, oder auch »toumikémik« (unter Verdoppelung der Endsilbe), so hat der zerstreute Spieler nicht mehr das Recht, seine »ago« zurückzunehmen: Er muss sie im Quadrat lassen wie eine gewöhnliche »coeillu«, und wenn ein Spieler sie trifft, darf dieser sie in allen Ehren einstecken. Dies ist ein bemerkenswertes Beispiel für einen Ausdruck, der einen Irrtum sanktioniert und gleichzeitig aus einer unehrlichen eine erlaubte und von allen anerkannte Handlung macht. Hier haben wir ein erstes Beispiel für jenen gewissen Aspekten der kindlichen Moral eigenen Formalismus, den wir in Folgendem beim Studium der objektiven Verantwortlichkeit vertiefen werden.

Ebenso legitimiert der Ausdruck »glaine« unter gewissen, genau festgelegten Umständen die Piraterie. Ist es einem Spieler durch Zufall oder Geschicklichkeit gelungen, alle Murmeln seiner Gegner zu gewinnen, so hat er aufgrund einer Art Ehrenkodex eine neue Partie anzubieten, ähnlich der, die die Soziologen mit dem Namen »potlatch« bezeichnen, wobei er selbst die nötigen Murmeln in das Viereck legt und so den vom Glück weniger begünstigten Partnern Gelegenheit gibt, einen Teil ihres Besitzes zurückzugewinnen. Falls er sich aber weigert, kann kein Gesetz ihn dazu zwingen, denn er hat gewonnen, und dabei bleibt es. Falls aber einer der Spieler das Wort »glaine« ausspricht, fällt die ganze Bande über den Geizhals her, wirft ihn zu Boden, leert ihm die Taschen aus und teilt sich die Beute. Dieser Akt von Banditentum, der der Moral normaler Zeiten durchaus zuwiderläuft (da die von dem Gewinner erworbenen Murmeln als rechtmäßig erworbenes Gut gelten), verwandelt sich in eine erlaubte Handlung und sogar in einen Akt der ausgleichenden Gerechtigkeit, der durch das Gemeinschaftsgewissen gebilligt wird, sobald das Wort »glaine« ausgesprochen worden ist.5

In Neuenburg haben wir weder »glaine« noch »toumiké«, dagegen jedoch »cougac« gehört. Hat einer der Spieler in der eben dargestellten Situation zu viel gewonnen, so kann sein besiegter Partner ihn zum Angebot einer neuen Partie zwingen, indem er das Wort »cougac« ausspricht (wahrscheinlich von »coup gagné« abgeleitet, wie »prems« von »premier«). Will sich der Gewinner der ihm so durch Aussprechen des verhängnisvollen Wortes aufgenötigten Verpflichtung entziehen, so braucht er nur mit dem Worte »fan cougac« zuvorzukommen.

Wir haben uns bei diesen sprachlichen Besonderheiten lediglich deswegen aufgehalten, weil wir den vom juristischen Standpunkt komplexen Charakter der Spielregeln von vornherein aufzeigen wollten. Selbstverständlich könnten diese Tatsachen von anderen Gesichtspunkten aus noch gründlicher untersucht werden. Insbesondere ließe sich eine ganze Psychologie der Sakralisierung und des Verbots beim Kinde aufstellen und vor allem eine der sozialen Spiele. Da diese Fragen jedoch außerhalb unseres Themas6 liegen, wollen wir auf das für uns Wesentliche, d. h. auf die Regeln selbst zurückkommen.

Kurz zusammengefasst, das Quadratspiel besteht also darin, dass man einige Murmeln in ein Viereck legt und sich ihrer bemächtigt, indem man sie mithilfe einer besonderen Murmel, die größer ist als die anderen, hinausstößt. Dieses so einfache Schema enthält jedoch in den Einzelheiten eine endlose Reihe von Komplikationen. Gehen wir der Reihe nach vor, um seiner Reichhaltigkeit gerecht zu werden.

Zuerst die »Einlage«. Einer der Spieler zeichnet das Quadrat, dann »macht« jeder seine »Einlage«. Bei zwei Spielern legt jeder zwei, drei oder vier Murmeln hin, bei drei Spielern eine oder zwei, bei vier oder mehr Spielern gewöhnlich nur eine. Wesentlich ist dabei die Gleichheit: Jeder legt so viel hin wie die anderen. Um die Gleichheit zu erzielen, muss man jedoch auch den Wert der eingesetzten Murmeln in Rechnung ziehen. Für eine gewöhnliche Murmel muss man zwei »carrons« hinlegen. Eine kleine »corna« ist so viel wert wie acht »marbles«, sechzehn »carrons« usw. Die Werte sind aufs Genaueste festgesetzt und entsprechen im Großen und Ganzen dem Kaufpreis beim Händler an der Ecke. Aber neben den eigentlichen finanziellen Operationen findet bei den Kindern auch ein direkter Austausch statt, der den Kurs der Werte ziemlich verändert.

Dann beginnt das Spiel. Man einigt sich über einen gewissen Abstand (ein bis zwei Meter) und zieht die »coche« parallel zu einer der Seiten des Quadrats, von wo aus jeder Spieler den ersten Wurf »abschießt« (die »agathe« oder »cornaline« in Richtung des Vierecks wirft). Jeder geht also von der Linie aus. Bei einigen Spielen kommt man nach jedem Wurf wieder auf den Strich zurück. Beim gewöhnlichen Spiel jedoch spielt jeder nach dem ersten Wurf von der Stelle aus, wohin seine Murmel gerollt ist. Manchmal wird diese Regel dahingehend eingeschränkt, dass man abmacht, die Murmel dürfe sich vom Quadrat nicht weiter entfernen als sie vom Strich entfernt ist. Rollt eine Murmel in beliebiger Richtung zwei Meter vom Viereck weg, muss man sie also wieder auf anderthalb Meter Abstand zurücksetzen, wenn die »Ausgangslinie« selbst anderthalb Meter entfernt ist.

Vor Spielbeginn muss man sich jedoch darüber einigen, wer anfängt. Der erste Spieler ist dadurch begünstigt, dass er in ein von Murmeln volles Viereck »zielt«, während seine Nachfolger nach den eventuellen Gewinnen der vorherigen Spieler nur die restlichen Murmeln vor sich haben. Um zu wissen, wer anfangen soll, wird eine Reihe von wohlbekannten Ritualen vollzogen. Zwei Kinder gehen aufeinander zu, indem sie einen Fuß vor den anderen setzen und derjenige, der beim Zusammentreffen auf den Fuß des anderen tritt, hat das Recht, vor ihm anzufangen. Oder es werden in einer ganz bestimmten Ordnung gereimte Formeln oder sogar Silben ohne jeden Sinn aufgesagt: Jede Silbe entspricht einem der Spieler, und derjenige, auf den die letzte Silbe fällt, ist vom Schicksal begünstigt. Außer diesen allgemein üblichen Mitteln gibt es noch ein dem Murmelspiel eigenes Verfahren: Jeder wirft seine »ago« oder »corna« in Richtung des Strichs oder irgendeiner zu diesem Zweck gezogenen Linie. Wer diesseits der Linie dieser am nächsten kommt, darf anfangen. Dann folgen die anderen der Reihe nach, entsprechend dem größeren Abstand. Der letzte Spieler ist der, der über die Linie hinaus geworfen hat, und sind dies mehrere, so ist der Letzte der, der sich am weitesten von ihr entfernt hat.

Nachdem die Reihenfolge der Spieler festgestellt ist, fängt das Spiel an. Ein Spieler nach dem anderen stellt sich hinter den Strich und wirft, indem er nach dem Quadrat zielt. Es gibt drei Arten, die Murmel zu werfen: die »piquette«, welche im Abschuss der Murmel durch Losschnellen des Daumens besteht, wobei die Murmel auf dem Nagel des Daumens selbst liegt und durch den Zeigefinger gehalten wird, die »roulette«, bei der man die Murmel ganz einfach auf den Boden rollen lässt, und die »poussette«, bei der sie von der Hand noch genügend weiterbegleitet wird, um ihre anfängliche Richtung zu korrigieren. Die »poussette« ist immer verboten und lässt sich in dieser Hinsicht mit dem »queutage« der schlechten Billardspieler vergleichen. In Neuenburg sagt man also »fan-poussette« oder auch »femme-poussette«. In Genf drückt man sich einfacher aus: »Schleppen verboten«. Auch »roulette« ist gewöhnlich verboten (»fan-roulette«), aber deren Duldung kommt vor. In diesem Falle ist sie natürlich allen Spielern erlaubt, und vor dem Spielbeginn einigt man sich über die völlige Gleichheit vor dem Gesetz.

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