JEAN PIAGET

PSYCHOLOGIE DER
INTELLIGENZ

Aus dem Französischen übersetzt
von Lucien Goldmann, Yvonne Moser und Hans Aebli

Überarbeitet von Richard Kohler

Mit einer Einführung von Richard Kohler

IMPRESSUM

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Klett-Cotta

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Eine chronologische Gesamtbibliographie der Werke Piagets finden Sie auf www.klett-cotta.de/piaget.

Die erste deutschsprachige Ausgabe des Titels ist 1948 im Verlag Rascher, Zürich, in der Übersetzung von Lucien Goldmann und Yvonne Moser erschienen; 1966 folgte eine vollständige Überarbeitung von Hans Aebli.

Diese Ausgabe ist 1971 in den Walter-Verlag, Olten, übergegangen. Seit 1980 wird das Werk von Klett-Cotta, Stuttgart, verlegt.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »La psychologie de l’intelligence«

© 1947/1949 by Librairie Armand Colin, Paris

Für die deutsche Ausgabe

© 1948/2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung eines Fotos von © Bettmann/CORBIS

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Vollständig durchgesehene, überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, 2015

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94814-1

E-Book: ISBN 978-3-608-10683-1

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20224-3

Dieses E-Book entspricht der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

INHALTSVERZEICHNIS

Einführung von Richard Kohler

Vorwort

Vorwort zur zweiten Auflage

ERSTER TEIL
Das Wesen der Intelligenz

KAPITEL I: INTELLIGENZ UND BIOLOGISCHE ANPASSUNG

1. Die Position der Intelligenz in der kognitiven Organisation

2. Die adaptive Natur der Intelligenz

3. Definition der Intelligenz

4. Klassifikation der möglichen Interpretationen der Intelligenz

KAPITEL II: DIE »DENKPSYCHOLOGIE« UND DIE PSYCHOLOGISCHE NATUR DER LOGISCHEN OPERATIONEN

1. Bertrand Russells Interpretation

2. Die »Denkpsychologie«: Bühler und Selz

3. Kritik der »Denkpsychologie«

4. Logik und Psychologie

5. Die Operationen und ihre »Gruppierungen«

6. Die funktionale Bedeutung und die Struktur der »Gruppierungen«

7. Die Klassifikation der »Gruppierungen« und der grundlegenden Operationen des Denkens

8. Gleichgewicht und Entwicklung

ZWEITER TEIL
Intelligenz und sensomotorische Funktionen

KAPITEL III: INTELLIGENZ UND WAHRNEHMUNG

1. Geschichtliches

2. Die Gestalttheorie und ihre Interpretation der Intelligenz

3. Kritik der Gestaltpsychologie

4. Die Unterschiede zwischen Wahrnehmung und Intelligenz

5. Die Analogien zwischen Wahrnehmungsaktivität und Intelligenz

KAPITEL IV: GEWOHNHEIT UND SENSOMOTORISCHE INTELLIGENZ

1. Gewohnheit und Intelligenz – I. Unabhängigkeit oder direkte Ableitung

2. Gewohnheit und Intelligenz – II. Versuch und Irrtum und Strukturierung

3. Die sensomotorische Assimilation und die Geburt der Intelligenz beim Kind

4. Die Konstruktion des Objekts und der räumlichen Beziehungen

DRITTER TEIL
Die Entwicklung des Denkens

KAPITEL V: DIE ELABORATION DES DENKENS – INTUITION UND OPERATIONEN

1. Die Strukturunterschiede zwischen der begrifflichen und der sensomotorischen Intelligenz

2. Die Etappen der Operationskonstruktion

3. Das symbolische und vorbegriffliche Denken

4. Das intuitive Denken

5. Die konkreten Operationen

6. Die formalen Operationen

7. Die Hierarchie der Operationen und ihre fortschreitende Differenzierung

8. Die Bestimmung des »geistigen Niveaus«

KAPITEL VI: DIE SOZIALEN FAKTOREN DER GEISTIGEN ENTWICKLUNG

1. Die Sozialisation der individuellen Intelligenz

2. Operative Gruppierungen und Kooperation

SCHLUSSBETRACHTUNG: RHYTHMEN, REGULIERUNGEN UND GRUPPIERUNGEN

Literaturverzeichnis

Sachregister

Personenregister

EINFÜHRUNG

Richard Kohler

1942 hält Piaget dank Henri Piéron, bei dem er von 1919 bis 1921 Psychophysiologie studiert hat, eine Vortragsreihe am prestigeträchtigen Collège de France in Paris, wo er ein Gastsemester verbringt. Er nutzt die Vorlesungen für eine synoptische Darstellung seiner bisherigen Arbeiten zur sensomotorischen Entwicklung, zur Entstehung der Symbolfunktion und des Zahl-, Mengen-, Zeit-, Bewegungs- und Geschwindigkeitsbegriffs. Kriegsbedingt erscheint die – wie immer – stark überarbeitete Buchversion erst fünf Jahre später unter dem Titel Die Psychologie der Intelligenz. Einen ähnlichen Überblick publiziert er 1966 zusammen mit seiner langjährigen Mitarbeiterin Bärbel Inhelder noch einmal. Dieses Buch mit dem Titel Die Psychologie des Kindes bezieht zwar die Forschungsarbeiten der Zwischenzeit mit ein, enthält jedoch im Gegensatz zum vorliegenden Werk kaum noch Referenzen zu seinen theoretischen Quellen und den ihn prägenden Diskursen im Bereich der Denkpsychologie und der Gestalttheorie. Piagets Auseinandersetzung mit den verschiedenen Ansätzen der Kognitions- und Wahrnehmungspsychologie ist aufschlussreich für das Verständnis seiner eigenen Theorie, weshalb Die Psychologie der Intelligenz den Status eines Klassikers unter den Werken Piagets erlangte und deshalb für diese Reihe ausgewählt wurde.

Der Intelligenzbegriff (Kapitel I) der französischen Psychologie hat eine viel breitere Bedeutung als dies im Deutschen oder Englischen der Fall ist. Es geht im vorliegenden Werk also nicht nur um die Fähigkeit zu Lernleistungen und Problemlösungen, sondern um das gesamte Verhalten von Lebewesen. Intelligenz ist für Piaget das Organ der Anpassung des Lebewesens an die Umwelt und stellt damit einen Begriff dar, der die biologische Ebene mit der psychologisch-soziologischen und mathematisch-logischen verbindet. Intelligent ist jede Aktivität – von der Ausrichtung der Blume nach der Sonne bis zur Erarbeitung wissenschaftlicher Theorie –, die zu einem biologischen, psychologischen, soziologischen oder logischen Gleichgewicht führt. Dieses holistische Verständnis vereinigt drei philosophische Erkenntnistraditionen:

  1. Die idealistisch-konstruktivistische Komponente bezieht sich auf ein inneres Gleichgewichtsstreben in Richtung Widerspruchsfreiheit in der Tradition von Alfred Fouillée.
  2. Die realistische Komponente der Intelligenz beinhaltet ein äußeres Gleichgewicht zwischen Organismus und Umwelt, wobei Piaget ein mit dem Darwinismus angereicherter Lamarckismus vorschwebt.
  3. Die pragmatische Dimension, die Piaget über Edouard Claparède von John Dewey rezipierte, bezieht sich auf die Erkenntnis durch Versuch und Verifikation.

Vor diesem begrifflichen Hintergrund diskutiert Piaget die damals gängigen Kognitionstheorien, indem er sie in Bezug auf ihre Veränderbarkeit (Fixismus versus Entwicklung) und deren Faktoren (äußere oder innere Ursachen oder Wechselwirkung) untersucht und dabei seine eigene Position herausarbeitet.

Auch der Intuitionsbegriff (Kapitel V) verdient eine Vorbemerkung. In den früheren Ausgaben dieses Buches wurde la pensée intuitive, das das Stadium zwischen vier und sieben Jahren kennzeichnet, nicht wie in der vorliegenden Ausgabe mit ›intuitivem‹, sondern mit ›anschaulichem Denken‹ übersetzt, was auf den lateinischen Ursprung des Begriffs (intueri = anschauen, betrachten) verweist. Im philosophischen Kontext und in Piagets Verständnis könnte diese Bezeichnung jedoch missverständlich sein, falls man daraus ableitet, dass die Intelligenz in diesem Alter primär von der Wahrnehmung abhängig sei. Seine Auseinandersetzung mit der Gestalttheorie (Kapitel III) zielt im Gegenteil auf den Beweis, dass nicht die Wahrnehmung am Anfang der Erkenntnis steht, sondern die Aktivität. Zwar handelt es sich bei der Intuition im Gegensatz zur analytischen Erkenntnis um eine unmittelbare, spontane und ganzheitliche Erkenntnis, die bildhaft ist und auch eine affektive Komponente aufweist. Aber dieser figurative Aspekt ist nicht die Ursache der Intuitionen, sondern Ausdruck einer noch unvollständigen Systematik der Begrifflichkeit. Die elementaren Intuitionen bestehen laut Piaget aus motorischen Schemata, die in Vorstellungen übertragen und verinnerlicht wurden. Als Analogien, Bilder oder Nachahmungen des Realen sind sie erst eine Vorform der Operationen, weil die begrifflichen Zusammenhänge noch zufällig vernetzt sind. Das Vorschulkind kann sich zwar Beziehungen (etwa räumliche oder soziale) vorstellen, aber es versteht diese noch von einem einzigen Standpunkt aus. Die fehlende Invarianz von Masse, Gewicht, Volumen und Zahl, das mangelnde Verständnis von Teil und Ganzem, die kaum vorhandene Fähigkeit zur sozialen Perspektivenübernahme, das absolutistische Verständnis von Regeln und das egozentrische und synkretistische Denken sind die typischen Merkmale des intuitiven Denkens.

Zeigt man Kindern im intuitiven Stadium beispielsweise ein Bild mit drei Rosen und acht Tulpen und fragt sie, ob auf dem Bild mehr Blumen oder mehr Tulpen zu sehen seien, dann antworten sie, dass auf dem Bild mehr Tulpen zu sehen seien. Die Schwierigkeiten für das Kind liegen darin, dass es noch kein System der Klassenverschachtelung aufgebaut hat, das ihm erlaubt, die Inklusionsbeziehung der Unter- und Oberklasse zu erfassen. Es ist zwar in der Lage, den Sammelbegriff »Blumen« in »Rosen« und »Tulpen« zu unterteilen. Aber auch wenn das Kind diese Differenzierung beherrscht, ist es nicht fähig, diese geistig wieder rückgängig zu machen und die Tulpen wieder der Klasse der Blumen unterzuordnen. Weil die Differenzierung der Oberklasse gelingt, bezeichnet Piaget dieses Denken als unidirektional. Es ist jedoch nicht reversibel, weil die Abstraktion der Differenzierung noch nicht möglich ist.

Was Piaget primär interessiert, ist der danach folgende Übergang zum logischen Denken, der sich mit etwa sieben bis acht Jahren vollzieht. Wird das Denken reversibel, so können die Tulpen als Unterklasse der Oberklasse der Blumen zugeordnet werden. Es muss folglich ein kohärentes System der Verschachtelung von Klassen oder der Klassenhierarchie vorhanden sein, das die logischen Relationierungen erlaubt, die Piaget als Operationen bezeichnet. Schon dieser Begriff zeigt, dass Piaget versucht, die Strukturen des Denkens in mathematischen Kategorien zu fassen. Inspiriert von Henri Poincaré, Max Wertheimer und Luitzen Brouwer, dem Begründer des mathematischen Intuitionismus, beschäftigt sich Piaget seit Beginn der 1930er Jahre mit der Gruppentheorie und Mengenlehre. Diese mathematische Wende, die Piagets mittleres Werk charakterisiert, ist eine Konsequenz der Grundannahme, dass das Denken verinnerlichtes Handeln sei. Jedes Verhalten geschieht im Raum und setzt daher die kognitive Erfassung des Raumes voraus. Die Anfänge der kognitiven Entwicklung in der sensomotorischen Phase werden durch raumbezogene Handlungen wie das Greifenlernen oder die Erfassung der Objektpermanenz dominiert. Wenn das Denken die verinnerlichte Version des Handelns darstellt, dann müssen alle kognitiven Prozesse eine geometrisch-mathematische Struktur aufweisen. Piaget geht davon aus, dass diese Struktur erhalten bleibt, auch wenn die Handlungen nicht mehr ausgeführt, sondern nur noch symbolisch repräsentiert werden. Die Sprache fördert zwar das logische Denken, ändert aber dessen Modus genauso wenig wie die Wahrnehmung oder die soziale Umgebung.

Aufgrund dieser starken Einschränkung der Wirkung äußerer Faktoren auf das logische Denken versucht Piaget (Kapitel III und IV) nachzuweisen, dass auch die Wahrnehmung, die Imitation und die Gewohnheit primär von einer inneren Aktivität bestimmt werden, die die kognitive Entwicklung steuert. Dies bedeutet, dass die Assimilation, also die handelnde Anpassung der Objekte an die eigenen Schemata, ein wichtigerer Prozess ist als die Akkommodation, die lernende Anpassung der eigenen Schemata an die Objekte.

Assimilation und Akkommodation sind die beiden Funktionen, die die Anpassung und damit die Entwicklung sowohl im biologischen als auch im mentalen Bereich ermöglichen. Um die Biologie und die Mathematik auf der Ebene der Strukturen miteinander zu verbinden, erweitert Piaget 1942 die Strukturmechanismen, die in der Schlussbetrachtung thematisiert werden. Auf der sensomotorischen Ebene basieren die wiederholenden Bewegungen auf Rhythmen, die Piaget in den Zirkulärreaktionen entdeckt. Viele bei den spontanen Bewegungen zufällig gemachten Erfahrungen (wie das Daumenlutschen, Töne durch Strampeln erzeugen, Dinge auf den Boden werfen) erlebt der Säugling als angenehm, weshalb er sie zu wiederholen versucht. Werden solche rhythmischen Gewohnheiten koordiniert, entstehen komplexere Handlungen, die aufgrund ihrer Tendenz zum Gleichgewicht symbolisch reguliert werden. In der Phase des präoperativen Denkens werden die Wahrnehmungen und die Verhaltensformen von Regulationen (Affekte, Kompensationsbedürfnisse, Werte usw.) gesteuert. Mit dem Einsetzen der Reversibilität erreichen die kognitiven und affektiven Prozesse den Status von Operationen, die sich zu Gruppierungen koordinieren, weil Operationen nicht als isolierte Aktivitäten vorkommen, sondern immer als Operationssysteme auftreten. Die zu bereichsspezifischen Gesamtstrukturen organisierten Operationen nennt Piaget eine Gruppierung. Jeder Denkakt bezieht sich auf ein geschlossenes System von kohärenten Operationen, die aufgrund der Unabgeschlossenheit der Operationen ein mobiles Gleichgewicht und damit eine Gesamtstruktur bilden. Auf der Stufe des konkret-operatorischen Denkens ist das Kind fähig, nicht nur einzelne Situationsaspekte isoliert zu verarbeiten, sondern zwei oder mehr Dimensionen einer Situation zueinander in Beziehung zu setzen und zu Gesamtstrukturen zu verbinden, sofern es die Objekte vor sich hat. Die Gesamtstruktur, die Analogien zur Gestalt aufweist, wird künftig einer der Kernbegriffe von Piagets Theorie. »Meine einzige Idee, die ich in verschiedener Form in zweiundzwanzig Bänden entwickelt habe, war die, dass die geistigen Operationen in der Art von Ganzheitsstrukturen vorgehen. Diese Strukturen bestimmen die Arten des Gleichgewichts, auf die hin die ganze Entwicklung tendiert; ihre gleichzeitig organischen, psychologischen und sozialen Wurzeln reichen bis zu der biologischen Morphogenese selbst hinab« (Piaget 1966: 43). Bis 1942 hat sich Piaget also ein Begriffsinstrumentarium erarbeitet, das die Intelligenz und ihre Entwicklung als grundlegenden Anpassungsprozess in allen Verhaltensdimensionen und Stadien zu erklären beansprucht.

Aber nicht nur in Bezug auf die Theoriebildung erreicht Piaget während der Kriegszeit einen Höhepunkt, sondern auch in institutioneller Hinsicht stellt seine Karriere eine Blütezeit dar. Er wirkt gleichzeitig als

  • Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Universität Genf (seit 1929),
  • Direktor des Bureau International de l’Education (seit 1929),
  • stellvertretender Direktor des Instituts Jean-Jacques Rousseau (seit 1929),
  • Professor für experimentelle Psychologie an der Universität Lausanne (seit 1936),
  • Professor für Soziologie an der Universität Genf (seit 1939),
  • Professor für experimentelle Psychologie an der Universität Genf (seit 1940),
  • Direktor des Genfer Laboratoriums für Psychologie (seit 1940),
  • Direktor des Bereichs Psychologie am Institut Jean-Jacques Rousseau (seit 1940),
  • Mitherausgeber der Archives de psychologie (seit 1940),
  • Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Psychologie (1940–1943),
  • Präsident der Société Suisse de Psychologie et ses applications (seit 1943).

Angesichts dieser Fülle von Funktionen und Aufgaben ist es naheliegend, dass sich der in der neutralen Schweiz wohnhafte Piaget kaum mit dem Krieg beschäftigt, sondern sich auf seine Arbeit konzentriert. Sorgen macht er sich vor allem wegen möglicher Beeinträchtigungen seiner Arbeitsbedingungen. In einem Brief vom 24. November 1939 an seinen Lehrer, Unterstützer und Freund Ignace Meyerson befürchtet er, das Manuskript mit seinen Ideen zu den Gruppierungen könnte verloren gehen und ihm die Weiterarbeit unmöglich machen (in Vidal/Parot 1996: 67, vgl. auch im Folgenden). Im Vorwort zu Die Psychologie der Intelligenz (in diesem Band: 17) lässt Piaget den Konflikt der Akademiker anklingen, die sich zwischen Opportunismus und Widerstand entscheiden mussten, und stellt seine Vortragsreihe als einen Akt der Solidarität dar, während Meyerson »anderswo ›widerstand‹« (ebd.: 18). Durch die Vichy-Gesetze von 1940 all seiner Ämter beraubt, gründet Meyerson im nicht besetzten Teil Frankreichs die Société toulousaine de psychologie comparative und engagiert sich politisch, indem er deutschen Intellektuellen bei der Ausreise aus Nazideutschland hilft und 1941 der geheimen Armee der Résistance beitritt. Auch von Piaget ist ein Fall politischen Engagements bekannt: Auf Wunsch seiner Frau Valentine besucht er 1938 auf seiner Rückreise aus Warschau die Freundin Käthe Wolf in Wien und kann der jüdischen Assistentin am Institut von Charlotte Bühler zur Ausreise nach Genf verhelfen. Allerdings zögert Piaget nicht, den Lehrauftrag in Paris anzunehmen, denn in seinem Selbstverständnis beteiligt auch er sich am Kampf gegen den Faschismus, indem er sich weiterhin der Wissenschaft widmete. Wissenschaftliche Tätigkeit ist seiner Auffassung nach nämlich die Teilnahme an einer Art universalem Erlösungsprojekt, weil nur der wissenschaftliche Fortschritt die Überwindung von Ungerechtigkeit, Konformismus und Krieg garantieren kann.

Nach dem Krieg bleibt Meyerson eine weitere universitäre Karriere aufgrund seiner linken Einstellung verwehrt. Nachdem Piaget im Dezember 1946 den Ehrendoktor der Universität Sorbonne bekommen hat, schreibt er ihm: »Ich habe Ihnen meine ›Psychologie der Intelligenz‹ zukommen lassen. Ich hoffe, dass Sie die Freundschaftsgeste am Ende des Vorworts bemerkt haben, die ich Ihnen brieflich nicht mitteilen konnte« (Piaget 1947 ms).

Allerdings ist sich Piaget darüber im Klaren, dass die beiden Widerstandsformen nicht gleichwertig sind, wie seine Aufforderung zeigt: »Melden Sie sich, wenn Sie nicht zu verärgert sind« (ebd.). Ihre Freundschaft zerbricht 1952, als nicht Meyerson, sondern Piaget, nach dessen Besuchen bei Henri Piéron, zum Nachfolger von Maurice Merleau-Ponty an der Universität Paris ernannt wird, wo er bis 1963 lehren wird.

LITERATUR:

Piaget, Jean (1947 ms): Lettre à Ignace Meyerson, 13. 01. 1947 (Bureau International d’Education, Boîte 186).

Piaget, Jean (1966): Autobiographie. In: Giovanni Busino (Hg.): Jean Piaget – Werk und Wirkung. München: Kindler, 1976: 44–59.

Piaget, Jean/Inhelder, Bärbel (1966): Die Psychologie des Kindes. Frankfurt a. M.: Fischer, 1977.

Vidal, Fernando/Parot, Françoise (1996): Ignace Meyerson et Jean Piaget: une amitié dans l’histoire. In: Françoise Parot (ed.): Pour une psychologie historique. Ecrits en hommage à Ignace Meyerson. Paris: Presses Universitaires de France: 61–73.

VORWORT

Ein Buch über »Die Psychologie der Intelligenz« könnte die Hälfte der allgemeinen Psychologie umfassen. Hier soll jedoch lediglich eine Position, diejenige der Konstitution der »Operationen«, umrissen und ihr auf möglichst objektive Weise ihr Platz in der Gesamtheit aller bisher vertretenen angewiesen werden. Dazu mussten wir zuerst die Rolle der Intelligenz innerhalb der allgemeinen Anpassungsprozesse charakterisieren (Kapitel I), dann durch das Studium der Denkpsychologie zeigen, dass die intelligente Handlung im Wesentlichen aus einer »Gruppierung« der Operationen nach gewissen definierten Strukturen besteht (Kapitel II). Wird die Intelligenz dementsprechend als Gleichgewichtsform verstanden, zu der alle kognitiven Prozesse tendieren, stellt sich das Problem ihrer Beziehungen zur Wahrnehmung (Kapitel III) und Gewohnheit (Kapitel IV) sowie die Frage nach ihrer Entwicklung (Kapitel V) und Sozialisation (Kapitel VI).

Trotz der Fülle und Bedeutung der bekannten Arbeiten steckt die psychologische Theorie der intellektuellen Mechanismen noch in ihren Anfängen, und man ahnt kaum, welche Art von Genauigkeit sie erreichen könnte. Diesen Zustand einer im Fluss begriffenen Forschung habe ich zum Ausdruck zu bringen versucht.

Das vorliegende kleine Buch enthält das Substrat einer Vorlesungsreihe, die ich 1942 am Collège de France halten durfte, in einem Augenblick, da die Akademiker das Bedürfnis empfanden, angesichts der Gewalt ihre Solidarität und ihre Treue gegenüber den beständigen Werten auszudrücken. Während ich diese Seiten überarbeite, ist es schwierig, den Empfang durch meine damaligen Hörer zu vergessen, wie auch die Begegnungen und Gespräche mit meinem Lehrer Pierre Janet, und meinen Freunden Henri Piéron, Henri Wallon, Paul Guillaume, Gaston Bachelard, Paul Masson-Oursel, Marcel Mauss und so vielen anderen, ohne meinen lieben Ignace Meyerson zu vergessen, der anderswo »widerstand«.

Jean Piaget, 1947

VORWORT ZUR
ZWEITEN AUFLAGE

Das vorliegende kleine Werk ist vorwiegend günstig aufgenommen worden, was uns den Mut verleiht, es ohne Änderungen nochmals vorzulegen. Allerdings ist oft an unserer Intelligenzkonzeption kritisiert worden, dass sie weder auf das Nervensystem noch auf seine im Lauf der individuellen Entwicklung erfolgende Reifung Bezug nehme. Wir glauben, dass es sich dabei um ein simples Missverständnis handelt. Sowohl der Begriff der »Assimilation« als auch der Übergang vom Rhythmus zu den Regulierungen und von diesen zu den reversiblen Operationen provoziert eine neurologische und gleichzeitig auch eine psychologische (und logische) Interpretation, die sich aber nicht etwa widersprechen, sondern ganz im Gegenteil harmonieren. Wir werden diesen wesentlichen Punkt an anderer Stelle klären. Ihn zu thematisieren, haben wir uns vor dem Abschluss der einzelnen psychogenetischen Untersuchungen, deren Synthese dieses Buch eben genau sein soll, niemals berechtigt gefühlt.

Jean Piaget, 1949

ERSTER TEIL

DAS WESEN
DER INTELLIGENZ

KAPITEL I

INTELLIGENZ UND
BIOLOGISCHE ANPASSUNG

Jede psychologische Erklärung basiert letztlich auf einer biologischen oder logischen Grundlage (oder auf einer soziologischen, die aber zu der gleichen Alternative führt). Für die einen werden die geistigen Phänomene nur in ihrer Verbindung mit dem Organismus verständlich. Diese Art der Betrachtung drängt sich eindeutig beim Studium der elementaren Funktionen (Wahrnehmung, Motorik etc.) auf, von denen die Intelligenz in ihren Anfängen abhängig ist. Es ist jedoch kaum zu erwarten, dass uns die Neurologie jemals erklären kann, warum zwei und zwei vier ist und warum der Geist die Gesetze der Deduktion als notwendig anerkennen muss. Daher die zweite Richtung, welche die mathematischen und logischen Beziehungen als irreduzibel auffasst und ihre Analyse an diejenige der höheren geistigen Funktionen koppelt. Die Frage ist jedoch, ob die Logik, wenn man davon ausgeht, dass sie sich den experimentellen psychologischen Erklärungsversuchen entzieht, ihrerseits noch legitimiert ist, selbst irgendetwas auf dem Gebiet der Psychologie zu erklären. Denn die formale Logik oder mathematische Logik ist nichts anderes als die Axiomatik der Gleichgewichtszustände des Denkens und die reale Wissenschaft, die dieser Axiomatik entspricht, ist nichts anderes als eben die Psychologie des Denkens. Ausgehend von dieser Aufteilung der Aufgaben muss die Kognitionspsychologie alle weiteren Fortschritte der Logik berücksichtigen, die ihr jedoch nur neue Probleme stellen, auf keinen Fall aber deren Lösung diktieren können.

Von dieser doppelten, biologischen und logischen Natur der Intelligenz müssen wir also ausgehen. Die beiden folgenden Kapitel haben die Aufgabe, diese Ausgangsfragen abzugrenzen und vor allem zu versuchen, die bei dem heutigen Stand der Kenntnisse größtmögliche Einheit zwischen diesen beiden grundlegenden, in der Erscheinung aber nicht reduziblen Aspekten des menschlichen Denkens herzustellen.

1. Die Position der Intelligenz in der kognitiven Organisation

Jedes Verhalten – gleichgültig, ob es sich um eine äußere oder eine zum Gedanken verinnerlichte Handlung handelt – stellt sich uns als eine Anpassung, oder, genauer, als eine Wiederanpassung dar. Das Individuum handelt nur, wenn es das Bedürfnis zum Handeln empfindet, wenn also das Gleichgewicht zwischen dem Organismus und der Umwelt für den Augenblick gestört ist. Die Handlung bezweckt die Wiederherstellung dieses Gleichgewichts, d. h. die Wiederanpassung des Organismus (Claparède). Jedes »Verhalten« ist also nur ein spezifischer Fall der wechselseitigen Austauschprozesse zwischen Außenwelt und Subjekt. Im Gegensatz zum physiologischen Stoffwechsel, welcher materiell ist und eine innere Veränderung des jeweiligen Körpers voraussetzt, ist jedoch das von der Psychologie studierte »Verhalten« funktional und vollzieht sich in einem immer größeren Aktionsradius im Raum (Wahrnehmung) und in der Zeit (Gedächtnis etc.) und auf immer komplexeren Bahnen (Rück- und Umwege etc.). Das in Begriffen der funktionalen Austauschprozesse verstandene Verhalten setzt seinerseits zwei wesentliche und eng voneinander abhängige Aspekte voraus: einen affektiven und einen kognitiven.

Über die Beziehungen zwischen Affektivität und Erkenntnis wurde viel diskutiert. Nach Janet muss zwischen der »primären Handlung« oder der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt (Intelligenz etc.) und der »sekundären Handlung« oder Reaktion des Subjekts auf seine eigene Handlung unterschieden werden: Diese Reaktion, welche die elementaren Gefühle konstituiert, besteht aus Regulierungen der primären Handlung und sichert den Verbrauch der zur Verfügung stehenden inneren Kräfte. Aber neben diesen Regulierungen, die in der Tat die Energetik, d. h. die innere Ökonomie des Verhaltens bestimmen, muss man unserer Meinung nach auch denen einen Platz einräumen, die seine Finalität oder Werte regulieren. Solche Werte kennzeichnen einen energetischen oder ökonomischen Austausch mit der Umwelt. Laut Claparède weisen die Gefühle dem Verhalten ein Ziel zu, während die Intelligenz sich damit begnügt, die Mittel (die »Technik«) zu liefern. Aber es gibt ein Verständnis der Ziele wie der Mittel, welches selbst die Finalität des Verhaltens ständig modifiziert. Insofern das Gefühlsleben das Verhalten bestimmt, indem es seinen Zwecken einen Wert attribuiert, kann man sich auf die Feststellung beschränken, dass es die für das Handeln notwendigen Energien liefert, während das Erkennen ihm eine Struktur gibt. Daher die von der sogenannten Gestaltpsychologie vorgeschlagene Lösung: Das Verhalten setzt ein das Subjekt und die Objekte umfassendes »Gesamtfeld« voraus, dessen Dynamik die Gefühle bilden (Lewin), während seine Strukturierung durch die Wahrnehmungen, die Motorik und die Intelligenz gesichert wird. Wir werden eine ähnliche Formulierung gebrauchen, mit dem einen Unterschied, dass unserer Meinung nach weder die Gefühle noch die Erkenntnisstrukturen ausschließlich vom gegenwärtigen »Feld« abhängen, sondern auch von der gesamten vorangegangenen Geschichte des aktiven Subjekts. Wir werden also einfach sagen, dass jedes Verhalten einen energetischen oder affektiven und einen strukturellen oder kognitiven Aspekt umfasst, womit die verschiedenen, oben aufgezählten Gesichtspunkte vereinigt werden.

Alle Gefühle bestehen in der Tat entweder aus Regulierungen der internen Energien (»grundlegende Gefühle« bei Janet, »Interesse« bei Claparède etc.) oder aus Regelungen des Energieaustausches mit der Außenwelt (alle Arten von »Werten«, tatsächlichen oder stellvertretenden; vom »Aufforderungscharakter« des Gesamtfeldes bei Lewin und den »Valenzen« Russells bis zu den interindividuellen oder sozialen Werten). Der Wille selbst muss aufgefasst werden als ein Spiel von affektiven und daher energetischen Operationen, die die höheren Werte betreffen und diese zur Reversibilität und Erhaltung befähigen (moralische Gefühle usw.) und die parallel zum System der logischen Operationen mit ihren Beziehungen zu den Begriffen existieren.

Wenn aber jedes Verhalten ohne Ausnahme eine »Energetik« oder eine »Ökonomie« voraussetzt, die seine affektive Seite bildet, so haben die Austauschprozesse mit der Umwelt, die es hervorruft, ebenfalls eine Form oder Struktur, welche die verschiedenen möglichen Kreisläufe bestimmt, die sich zwischen Subjekt und Objekt festsetzen. Genau diese Strukturierung des Verhaltens bildet seine kognitive Seite. Eine Wahrnehmung, eine sensomotorische Aneignung (Gewohnheit etc.), ein Akt des Verstehens, ein logischer Schluss etc., sie alle strukturieren in der einen oder anderen Weise die Beziehungen zwischen Organismus und Umwelt. Deswegen weisen sie alle eine innere Verwandtschaft auf, die sie von den affektiven Erscheinungen unterscheidet. Wir bezeichnen sie, die sensomotorischen Anpassungen mit einbegriffen, daher als kognitive Funktionen im weiten Sinn.

Affektives und kognitives Leben sind also untrennbar, wenn auch verschieden. Sie sind untrennbar, weil jeder Austausch mit der Umwelt gleichzeitig eine Strukturierung und eine Wertung voraussetzt, aber sie bleiben unterschiedlich, weil diese beiden Aspekte des menschlichen Verhaltens nicht aufeinander zurückgeführt werden können. Selbst in der reinen Mathematik ist es unmöglich zu denken, ohne gleichzeitig bestimmte Gefühle zu empfinden, und umgekehrt gibt es kein Gefühlsleben ohne ein Minimum an Verständnis oder Differenzierung. Ein Intelligenzakt setzt also selber eine innere energetische Regulierung (Interesse, Anstrengung, Leichtigkeit etc.) und eine äußere (Wert der gesuchten Lösungen und der untersuchten Objekte) voraus, aber diese beiden Regelungen sind affektiv und mit allen anderen Regulierungen dieser Art vergleichbar. Umgekehrt betreffen die Wahrnehmungs- oder Denkelemente, die man in allen emotionalen Äußerungen wiederfindet, das kognitive Leben wie jede andere perzeptive oder kognitive Reaktion. Was der gesunde Menschenverstand im Allgemeinen »Gefühle« und »Intelligenz« nennt und als gegensätzliche »Fähigkeiten« einander gegenüberstellt, besteht ganz einfach aus Verhaltensweisen, von denen man die ersten auf Menschen, die zweiten aber auf Ideen oder auf Dinge bezieht. Aber beide Verhaltensweisen enthalten dieselben affektiven und kognitiven Aspekte des Handelns, welche in Realität immer vereint sind und daher auf keinen Fall zwei unabhängigen Fähigkeiten entsprechen.

Mehr noch besteht die Intelligenz selbst nicht aus einer isolierten und diskontinuierlichen Klasse von kognitiven Prozessen. Sie ist genau genommen keine Struktur unter vielen anderen, sondern die Gleichgewichtsform, zu der alle Strukturen streben, deren Entstehung bereits in der Wahrnehmung, in den Gewohnheiten und in den elementaren sensomotorischen Mechanismen zu suchen ist. Man muss verstehen, dass die Negation der Intelligenz als Fähigkeit notwendigerweise zur Annahme einer radikalen funktionalen Kontinuität von der Gesamtheit der niedrigsten Typen der kognitiven und motorischen Anpassung bis zu den höchsten Denkformen führt. Die Intelligenz kann dann nur mehr die Gleichgewichtsform sein, zu der die ersteren hinstreben. Das bedeutet natürlich weder, dass ein logischer Schluss eine Koordination von Wahrnehmungsstrukturen noch dass die Wahrnehmungen unbewusste Denkprozesse darstellten (obwohl die eine und die andere These schon vertreten worden ist), denn die funktionale Kontinuität schließt weder die Verschiedenheit noch die Heterogenität der Strukturen aus. Jede Struktur muss als eine besondere, mehr oder weniger stabile Gleichgewichtsform innerhalb ihres engen Feldes aufgefasst werden, an dessen Grenzen sich ihre Stabilität verliert. Aber diese den Stufen entsprechenden Strukturen müssen ihrerseits als einem Entwicklungsgesetz folgend aufgefasst werden, so dass jede den bereits auf der vorhergehenden Stufe aktiven Prozessen ein besseres und stabileres Gleichgewicht garantiert. Die Intelligenz ist daher nur ein Gesamtbegriff, der die höheren Organisations- und Gleichgewichtsformen der kognitiven Strukturen bezeichnet.

Diese Terminologie hebt vor allem die wesentliche Rolle der Intelligenz im Leben des Geistes und des Organismus hervor, denn als flexibelste und gleichzeitig dauerhafteste Gleichgewichtsstruktur des Verhaltens ist die Intelligenz ein System von lebendigen und aktiven Operationen. Sie ist die höchste Form der geistigen Anpassung, d. h. das unentbehrliche Instrument des Austausches zwischen Subjekt und Welt, sobald diese Bahnen die unmittelbaren und augenblicklichen Kontakte überschreiten und einen räumlich und zeitlich ausgedehnten und dauerhaften Charakter erreichen. Andererseits aber verbietet uns dieselbe Begrifflichkeit, die Intelligenz in Bezug auf ihren Ausgangspunkt einzugrenzen. Sie stellt vielmehr einen Zielpunkt dar, und ihr Ursprung überlagert sich mit dem der allgemeinen sensomotorischen Anpassung und darüber hinaus selbst mit dem der biologischen Anpassung.

2. Die adaptive Natur der Intelligenz

Wenn die Intelligenz Anpassung ist, müssen wir diese vorerst definieren. Und will man die Schwierigkeiten der teleologischen Sprache vermeiden, dann muss man die Anpassung als ein Gleichgewicht zwischen den Wirkungen des Organismus auf die Umwelt und den entgegengesetzten Wirkungen definieren. Man kann die Wirkung des Organismus auf die umgebenden Objekte als »Assimilation« im weitesten Sinne bezeichnen, insofern diese Einwirkung von früheren Handlungen, die dasselbe oder ein ähnliches Objekt zum Gegenstand hatten, abhängig ist. In der Tat hat jede Beziehung zwischen einem lebendigen Wesen und seiner Umwelt die Eigentümlichkeit, dass es die Einwirkung der Umwelt nicht passiv erleidet, sondern sie verändert, indem es ihr eine bestimmte eigene Struktur aufzwingt. So absorbiert der Organismus physiologisch die von ihm assimilierten Substanzen und transformiert diese der eigenen entsprechend. Psychologisch sind die Prozesse ganz ähnlich, nur dass die Veränderungen hier nicht substantiell, sondern rein funktional sind und von der Motorik, der Wahrnehmung und dem realen oder virtuellen Handeln (Denkoperationen etc.) bestimmt sind. Die gedankliche Assimilation besteht aus der Inkorporation der Objekte in die Verhaltensschemata, die nichts anderes sind als die zur aktiven Repetition geeigneten Handlungsmuster.

Umgekehrt wirkt auch die Umwelt auf den Organismus ein, und man kann, dem allgemeinen Brauch der Biologen folgend, diese umgekehrte Wirkung als »Akkommodation« bezeichnen, wobei selbstverständlich kein lebendes Wesen die Einwirkung der es umgebenden Körper als solche passiv erleidet, sondern sie einfach den Assimilationszyklus verändert, indem sie ihn an diese akkommodiert. Auf der psychischen Ebene finden wir denselben Prozess wieder, da der Druck der Dinge niemals zu einer passiven Unterwerfung, sondern zu einer einfachen Veränderung der sich auf sie beziehenden Handlung führt. Man kann also nun die Anpassung als ein Gleichgewicht zwischen der Assimilation und der Akkommodation definieren, was nichts anderes bedeutet als ein Gleichgewicht der Austauschprozesse zwischen dem Subjekt und den Objekten.

Bei der organischen Anpassung, bei der die Austauschvorgänge materieller Natur sind, setzen diese eine gegenseitige Durchdringung zwischen bestimmten Teilen des lebenden Organismus und bestimmten Sektoren der Außenwelt voraus. Das psychische Leben beginnt dagegen, wie wir gesehen haben, mit funktionalen Austauschprozessen, d. h. an jenem Punkt, wo die Assimilation die assimilierten Objekte nicht mehr physisch und chemisch verändert, sondern sie einfach den eigenen Tätigkeitsformen einverleibt (und die Akkommodation nur diese Aktivität modifiziert). Man versteht daher, dass mit dem geistigen Leben die unmittelbare gegenseitige Durchdringung des Organismus und der Umwelt von mittelbaren Austauschprozessen zwischen dem Subjekt und den Objekten überlagert werden, die in immer größeren räumlichzeitlichen Entfernungen und auf immer komplexeren Bahnen erfolgen. Die ganze Entwicklung der geistigen Aktivität, von der Wahrnehmung und der Gewohnheit bis hin zur Repräsentation und zum Gedächtnis wie auch zu den höheren Formen des logischen und formalen Denkens, ist daher eine Funktion dieser allmählich wachsenden Ausweitung der Austauschprozesse, d. h. des Gleichgewichts zwischen einer Assimilation von immer entfernteren Realitäten an die eigene Handlung, und einer Akkommodation dieser an jene.

In diesem Sinne setzt die Intelligenz, deren logische Operationen ein gleichzeitig bewegliches und dauerhaftes Gleichgewicht zwischen der Welt und dem Denken bilden, die Gesamtheit der Anpassungsprozesse fort und vollendet sie. Die organische Anpassung garantiert nur ein unmittelbares und daher beschränktes Gleichgewicht zwischen dem Individuum und seiner gegenwärtigen Umwelt. Die elementaren kognitiven Funktionen wie Wahrnehmung, Gewohnheit und Gedächtnis erweitern es in Richtung des präsenten Raumes (perzeptiver Kontakt zu den entfernten Gegenständen) und der nahen Antizipationen oder Rekonstruktionen. Die Intelligenz allein, die aller Um- und Rückwege im Handeln und im Denken fähig ist, strebt nach einem vollständigen Gleichgewicht, indem sie auf die Assimilation der gesamten Realität und die Akkommodation der eigenen Aktivität an diese abzielt: eine Tätigkeit, womit sie sich von ihrer ursprünglichen Gebundenheit am hic et nunc befreit.

3. Definition der Intelligenz

Wenn man die Intelligenz zu definieren beabsichtigt, was für die Abgrenzung des Gebiets, mit dem wir uns weiter befassen, zweifellos unerlässlich ist, genügt es, sich über den Komplexitätsgrad zu einigen, ab dem die mittelbaren Austauschprozesse als »intelligent« bezeichnet werden sollen. Aber hier tauchen schon die ersten Schwierigkeiten auf, denn diese untere Abgrenzungslinie ist willkürlich. Für die einen, wie Claparède und Stern, ist die Intelligenz eine geistige Anpassung an neue Umstände. So unterscheidet Claparède die Intelligenz vom Instinkt und von der Gewohnheit, welche erbliche oder erworbene Anpassungen an sich wiederholende Bedingungen sind. Für ihn beginnen sie schon mit den elementarsten empirischen tastenden Versuchen (die Quelle des innerlichen Ausprobierens, das später das Suchen der Hypothese charakterisiert). Für Bühler dagegen, der die Strukturen ebenfalls in drei Untertypen (Instinkt, Dressat und Intelligenz) einteilt, ist diese Definition zu weit, weil die Intelligenz erst bei plötzlichem Verstehen (Aha-Erlebnisse [Deutsch im Original]) auftritt, während das Ausprobieren noch zur Dressur gehört. Ebenso reserviert Köhler den Begriff der Intelligenz lediglich für plötzliche Umstrukturierungen und schließt das Probieren aus. Es ist unbestreitbar, dass diese schon beim Entstehen der einfachsten Gewohnheiten auftauchen, die bei ihrer Konstituierung ebenfalls Anpassungsprozesse an neue Umstände sind. Andererseits sind aber auch die Frage, die Hypothese und die Kontrolle, deren Kombination nach Claparède ebenfalls die Intelligenz ausmacht, im Keime schon in den Bedürfnissen, Versuchen und Irrtümern und in der empirischen Sanktion, die den elementarsten sensomotorischen Anpassungen eigentümlich sind, enthalten. Man muss sich für eine der Möglichkeiten entscheiden: Entweder man begnügt sich mit einer funktionalen Definition, auf die Gefahr hin, beinahe die Gesamtheit der kognitiven Strukturen in diese Definition mit einzubeziehen, oder man wählt eine bestimmte spezifische Struktur als Kriterium der Intelligenz. Diese Wahl wird jedoch immer eine Konvention bleiben und läuft Gefahr, die faktische Kontinuität zu vernachlässigen.

Es bleibt indessen noch die Möglichkeit, die Intelligenz durch ihre Entwicklungsrichtung zu definieren, ohne sich bei der Frage der Abgrenzung aufzuhalten, die dann zu einem Problem der Entwicklungsstadien oder aufeinander folgenden Gleichgewichtsformen wird. Man kann sich folglich gleichzeitig auf den Standpunkt der Funktion und auf denjenigen des Strukturmechanismus stellen. Vom ersten dieser Standpunkte aus gesehen kann man sagen, dass ein Verhalten umso »intelligenter« ist, je umfassender und komplexer die Bahnen zwischen dem Subjekt und den Objekten seiner Handlung sind und eine progressive Verkettung verlangt. Die Wahrnehmung folgt einer einfachen Bahn, auch wenn der wahrgenommene Gegenstand vom Subjekt weit entfernt ist. Eine Gewohnheit könnte komplexer erscheinen, aber ihre raumzeitlichen Artikulationen sind zu einem einzigen Ganzen verschweißt, ohne unabhängige oder einzeln zusammensetzbare Teile. Im Gegensatz dazu setzt ein intelligentes Verhalten, z. B. das Finden eines versteckten Gegenstandes oder das Verstehen der Bedeutung eines Bildes, eine bestimmte Anzahl von Bahnen (im Raum und in der Zeit) voraus, die gleichzeitig voneinander isoliert und miteinander verbunden werden können. Vom Standpunkt des Strukturmechanismus aus gesehen sind die elementaren sensomotorischen Anpassungen gleichzeitig starr und unidirektional, während sich die Intelligenz in der Richtung einer reversiblen Beweglichkeit entwickelt. Dies ist denn auch, wie wir später sehen werden, die wesentliche Eigenschaft, welche die lebendige, aktive Logik charakterisiert. Man erkennt gleichzeitig aber auch, dass die Reversibilität nichts anderes als das Kriterium des Gleichgewichts selbst ist (wie es uns die Physiker gelehrt haben). Die Intelligenz durch die fortschreitende Reversibilität der von ihr gebildeten beweglichen Strukturen zu definieren, bedeutet also nichts anderes, als in einer neuen Form zu wiederholen, dass die Intelligenz der Gleichgewichtszustand ist, zu dem alle aufeinander folgenden sensomotorischen und kognitiven Anpassungen sowie alle assimilierenden und akkommodierenden Austauschprozesse zwischen Organismus und Umwelt streben.

4. Klassifikation der möglichen Interpretationen der Intelligenz