JEAN PIAGET

DER
STRUKTURALISMUS

Aus dem Französischen übersetzt
von Lorenz Häfliger

Überarbeitet von Richard Kohler

Mit einer Einführung von Richard Kohler

IMPRESSUM

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Klett-Cotta

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel „Le structuralisme“ ©1968 by Presses Universitaires de France

Für die deutsche Ausgabe © 1973 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung eines Fotos von © Archives Jean Piaget, Genf

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Vollständig durchgesehene, überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, 2015

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94815-8

E-Book: ISBN 978-3-608-10684-8

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20226-7

Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2015 der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

INHALTSVERZEICHNIS

Einführung von Richard Kohler

KAPITEL I: EINLEITUNG UND FRAGESTELLUNG

1. Definitionen

2. Die Ganzheit

3. Die Transformationen

4. Die Selbstregulierung

KAPITEL II: DIE MATHEMATISCHEN UND LOGISCHEN STRUKTUREN

5. Der Begriff der Gruppe

6. Die Mutterstrukturen

7. Die logischen Strukturen

8. Die vikariierenden Grenzen der Formalisierung

KAPITEL III: DIE PHYSIKALISCHEN UND BIOLOGISCHEN STRUKTUREN

9. Physikalische Strukturen und Kausalität

10. Die organischen Strukturen

KAPITEL IV: DIE PSYCHOLOGISCHEN STRUKTUREN

11. Die Anfänge des Strukturalismus in der Psychologie und die Gestalttheorie

12. Strukturen und Entwicklung der Intelligenz

13. Strukturen und Funktionen

KAPITEL V: DER LINGUISTISCHE STRUKTURALISMUS

14. Der synchronische Strukturalismus

15. Der Transformationsstrukturalismus und die Beziehungen zwischen Onto- und Phylogenese

16. Soziale Formung, Angeborenheit oder Äquilibration der linguistischen Strukturen

17. Linguistische und logische Strukturen

KAPITEL VI: DIE VERWENDUNG DER STRUKTUREN IN DEN SOZIALWISSENSCHAFTEN

18. Globale oder methodische Strukturalismen

19. Der anthropologische Strukturalismus von Claude Lévi-Strauss

KAPITEL VII: STRUKTURALISMUS UND PHILOSOPHIE

20. Strukturalismus und Dialektik

21. Ein Strukturalismus ohne Strukturen

SCHLUSSFOLGERUNG

Literaturverzeichnis

Sachregister

Personenregister

EINFÜHRUNG

Richard Kohler

Auf dem Höhepunkt der strukturalistischen Welle in Frankreich fragt der renommierte Verlag Presses Universitaires de France, bei dem Jean Piaget seine Bücher seit 1946 publiziert, den mittlerweile berühmten Kinderpsychologen und Erkenntnistheoretiker, ob er für die Kompaktreihe Que sais-je? einen Überblick über den Strukturalismus verfassen wolle. Piaget selbst ist als Strukturalist bekannt, da er beispielsweise seine Inaugurationsvorlesung an der Sorbonne 1952 zum Thema ›Gleichgewicht und Gesamtstrukturen‹ gehalten oder im Juli und August 1959 zusammen mit Maurice Gandillac und Lucien Goldmann das Colloque de Cerisy geleitet hat, das den Gegensatz von Struktur und Genese thematisierte (vgl. Piaget 1965). Der Verlag hat auf die richtige Person gesetzt: Das im Sommer 1968 erscheinende Buch wird zu einem Bestseller mit Millionenauflage, und es wird zum Teil mehrfach ins Dänische, Deutsche, Englische, Holländische, Italienische, Katalanische, Polnische, Portugiesische, Rumänische, Schwedische, Serbische, Slowakische und Spanische übersetzt. Trotz seiner engen Perspektive und kritischen Einschätzung avanciert es zum Standardwerk über den Strukturalismus und beeinflusst mehr als alle anderen Darstellungen dessen öffentliche Rezeption.

Seinen Aufschwung nimmt der Strukturalismus 1956, nachdem Nikita Chruschtschow die von Stalin angeordneten Verbrechen aufdeckte, was zu Aufständen in Polen und Ungarn führte, worauf er zur harten Linie zurückkehrte und die ungarische Revolution blutig niederschlagen ließ. Zahlreiche französische Intellektuelle wenden sich nun vom Marxismus und vom Existentialismus Sartres ab und suchen eine neue ideologische Heimat, die sie in der strukturalistischen Ethnologie und im Maoismus finden (vgl. Dosse 1991).

Seit dem Kriegsende benutzt der Ethnologe Claude Lévi-Strauss die Linguistik Saussures, um die Organisation von Kulturen (Verwandtschaftsbeziehungen) und ihre Ideologien (Mythen) auf eine verbindliche Allgemeinstruktur zurückzuführen, womit er eine den Naturwissenschaften ebenbürtige sozialwissenschaftliche Methode zu begründen versucht. Ferdinand de Saussures Konzept wendet sich gegen die zu seiner Zeit vorherrschende Philologie, die die Sprache in geschichtlichen Kontexten (Diachronie) untersucht, um stattdessen die inneren Gesetzmäßigkeiten der gegenwärtig gesprochenen Sprache (Synchronie) aufzudecken. Lévi-Strauss überträgt dieses sprachanalytische Modell auf die Gesellschaft, indem er die soziokulturellen Phänomene als symbolische interpretiert, womit nicht mehr die Praxis, die Ideologien oder die historischen Veränderungen dieser Kulturen, sondern die dahinter liegenden Regeln und Codes aufgedeckt werden sollen. Dieses Vorgehen zeichnet den Strukturalismus allgemein aus: Er versteht sich als eine geistes- und sozialwissenschaftliche Methode, die den historischen Kontext ihres Forschungsgegenstands bewusst ausblendet, um, mit einer durchaus kritischen oder gar subversiven Absicht, die symbolischen und praxisleitenden Determinanten hinter dem Bewusstsein der Individuen sichtbar zu machen. Damit setzt er voraus, dass das Verhalten der Menschen nicht von ihrem individuellen Bewusstsein gesteuert wird, sondern von (sprachlichen) Elementen, die ein objektiv nachvollziehbares Beziehungsgeflecht, also eine Struktur bilden.

Ursprünglich aus der Architektur stammend (Dictionnaire de Trévoux, 1771) und im 19. Jahrhundert von Herbert Spencer, Lewis Henry Morgan, Robert Hertz und Emile Durkheim auf die Soziologie übertragen, finden sich wichtige Wurzeln des Strukturalismus in der deutschen kulturgeschichtlichen Ethnologie von Robert Fritz Graebner und Bernhard Ankermann, in der Gestalttheorie und der Phänomenologie Husserls. Im Vocabulaire technique et critique de la philosophie (1926) von André Lalande, einem der wichtigsten Lehrer Piagets, werden diese Theorien erstmals mit dem Begriff ›Strukturalismus‹ umschrieben.

In den 1930er Jahren wurde Saussures Modell der Sprache als autonomes Relationensystem von der Prager Schule um Roman Jakobson und im russischen Formalismus um Wiktor Schklowskij als Interpretationsmuster eingesetzt, um Texte allein aus sich selbst zu entschlüsseln, indem der funktionale Zusammenhang der einzelnen Elemente rekonstruiert wurde. Dieses Vorgehen setzte sich in Frankreich in der Anthropologie, der Psychoanalyse, der Literatur- und Sozialwissenschaft mit je unterschiedlichen Akzentuierungen durch. Lévi-Strauss, Piaget, Jacques Lacan (Psychoanalyse) und Algirdas Julien Greimas (Semiotik) verstehen den Strukturalismus als letztlich mathematisierbare, naturwissenschaftliche Theorie, die eine Alternative zur abendländischen Metaphysik oder Philosophie im Allgemeinen bildet, womit sie aber Gefahr laufen, Strukturen als reale Größen zu verstehen. Dagegen versuchen die meisten anderen Vertreter wie Louis Althusser (politische Ökonomie), Roland Barthes (Literatur und Kunst), Georges Dumézil (Religionswissenschaft), Michel Serre (Philosophie), Pierre Bourdieu (Soziologie), Michel Foucault (Diskursgeschichte) oder Jacques Derrida (Schriftsprache), diese ontologische Ebene zu vermeiden.

In der Folge der Pariser Studentenproteste von 1968 wurde Kritik an der ahistorischen und transindividuellen Methode des Strukturalismus laut, denn die Forderung nach politischem Engagement ist mit der immanenten Betrachtungsweise der sozialen Phänomene unvereinbar. Zu diesem Zeitpunkt erschien Piagets Darstellung des Strukturalismus, der in die Debatte eingriff, indem er die Kritikpunkte von einer genetischen Position aus unterstützte.

Piaget hatte schon früh begonnen, sich im Zusammenhang mit den Gleichgewichtstheorien von Herbert Spencer, André Lalande und Etienne Rabaud mit strukturalistischen Ansätzen zu beschäftigen. Bereits in seinem ersten Werk Recherche, mit dem er als 21-Jähriger versuchte, seine Karriere als Philosoph vorzubereiten, unterscheidet er zwei Formen qualitativer Gleichgewichte. Wenn die Qualitäten der Teile kompatibel sind mit denen des Ganzen, gibt es reziproke Aktion und Aufrechterhaltung. Sind sie inkompatibel aufgrund einer Störung von außen, erhält das Ganze seine Einheit auf Kosten seiner Teile, oder umkehrt. Alle möglichen Gleichgewichte sind eine Kombination eines idealen Gleichgewichts und eines realen Ungleichgewichts. »Alles Leben besteht aus seiner Organisation instabiler Gleichgewichte, deren Gesetz aber in einem stabilen Gleichgewicht besteht, zu der sie tendiert« (Piaget 1918: 158). Mit der Festlegung, die Tendenz der Gleichgewichte nach Stabilität sei kein Ziel, sondern ein Resultat, könne also weder teleologisch noch deterministisch gedacht werden, beabsichtigte er, die Antinomien von Finalismus und Determinismus, geometrischer und vitaler Ordnung, Formalismus und Empirismus, Kollektiv und Individuum, Gattung und Gesetz und letztlich auch von Lamarck und Darwin zu überwinden (ebd.: 159). Der Grad an Ungleichgewicht sei nicht nur eine theoretische Größe, sondern präge das gesamte Leben von der Zelle bis zu den logischen Prinzipien; es entscheide etwa über die Persönlichkeit des Menschen (als Harmonie der einzelnen, sich widersprechenden Tendenzen) oder über die Gesellschaft (Konflikte oder Kriege als Ausdruck sozialer Ungleichgewichte).

Einen explizit definierten Strukturbegriff formulierte Piaget aber erst Ende der 1920er Jahre, als er sein Egozentrismus-Konzept mithilfe einer Erweiterung der Unterscheidung von Funktion und Struktur verteidigte (vgl. Piaget 1928): Zwischen Kind und Erwachsenem gibt es demnach nur auf der strukturellen Ebene einen Bruch, nicht aber auf der funktionalen. Die spontane Eigenaktivität des Kindes bildet nun die Basis für den Aufbau der Strukturen als Organisation der Erfahrung und Reifung. Eine kognitive Struktur besteht aus einer Gruppe von eine Ganzheit bildenden Schemata, die sich nach bestimmten Kompositionsgesetzmäßigkeiten weitgehend selbst reguliert (vgl. Piaget 1931: 149). »Indem sich das Denken den Dingen anpaßt, strukturiert es sich selbst, und indem es sich selbst strukturiert, strukturiert es auch die Dinge« (Piaget 1936: 18). Diese Strukturierung geschieht nach den Kategorien Raum und Zeit, Ursache und Substanz, Klassifikation und Zahl. Die Intelligenz besteht für Piaget aus den veränderlichen Schemata, Strukturen und Inhalten, wobei die letzteren aufgrund der hohen Variabilität nicht weiter untersucht werden, sowie den unveränderlichen Funktionen Assimilation und Akkommodation, die zusammen die Anpassung bewirken. Diese Entwicklung hin zu einem Gleichgewicht bezeichnete Piaget ab Ende der 1930er Jahre als Äquilibrierung der Strukturen. Nach der Einarbeitung in die Gruppentheorie versuchte er, die Strukturen in mathematischen Kategorien zu fassen, weil er glaubte, empirisch beobachtet zu haben, dass dem Verhalten und Denken der Kinder die von der Bourbaki-Gruppe beschriebenen Mutterstrukturen zugrunde lägen. Voll ausgebildete konkrete Operationen erlangen das Gleichgewicht, wenn sie reversibel sind (also etwa der Zusammenhang von Addition und Subtraktion verstanden wurde), weil damit die Kohärenz der Strukturen gegeben ist. Zu Beginn der 1940er Jahre führte Piaget den Begriff der Gesamtstruktur ein: Hat das Kind eine Struktur erfasst, kann es diese in allen Kontexten und auf alle Inhalte anwenden. Jeder Denkakt bezieht sich dann auf ein geschlossenes System von koordinierten Operationen.

Aufgrund einer Diskussion mit Emile Bréhier 1949 (vgl. Piaget 1965: 328 f.) begann sich Piaget mit dem systematischen Zusammenhang von Struktur und Genese zu beschäftigen. Stadien werden in der Folge dann durch eine Gesamtstruktur definiert, die für alle Verhaltensweisen charakteristisch ist. Die Strukturentwicklung ist so mit einem Integrationsprozess verbunden, dass höhere Stufen die Strukturen aller früheren Stufen einschließen. Dieser Prozess besteht in der Abstraktion, wobei Piaget betont, dass die Konstruktion der kognitiven Strukturen durch die Abstraktion der eigenen Handlungen (reflektierende Abstraktion) und nicht der Objekte (empirische Abstraktion) geschieht. Letztere koordiniert die Erfahrung mit den Eigenschaften der Objekte in figurativen Kategorien, während die reflektierende Abstraktion die Grundlage des logisch-mathematischen Strukturaufbaus ist, der zum Verstehen und zum Bewusstsein führt.

In den ersten vier Kapiteln des Buches legt Piaget seine Definition, seine Wurzeln und sein Verständnis des Strukturalismus dar, um auf dieser Basis in den Kapiteln fünf bis acht die Positionen anderer Autoren zu diskutieren. Dieses Vorgehen ist aufschlussreich für Piagets Arbeitsweise und macht auch verständlich, wieso er keine historische, sondern eine disziplinenbezogene Darstellungsstrategie wählt. Nacheinander behandelt er die strukturalistischen Ansätze der Mathematik, Logik, Physik, Biologie, Psychologie, Linguistik und der Sozialwissenschaften, und diese Reihenfolge verweist wiederum auf sein erstes Werk. In Recherche (Piaget 1918: 59) stellte er, da eine Disziplin auf den Gesetzen der anderen aufbaue, die Wissenschaften in einem Kreis dar: So lieferten die Erkenntnisse der Biologen die Basis für die Soziologie und die Moralwissenschaften einerseits und die Psychologie und die Erkenntnistheorie andererseits, von denen sich wiederum die Logik und von dieser die idealistischste Wissenschaft, die Mathematik, ableiten. Auf der Mathematik baue die Physik und darauf die Chemie auf, die wiederum die Basis für die Biologie bilde. Dieser Wissenschaftskreis erlaubte ihm damals die materielle wie auch ideelle Interpretation der biologischen Gesetze und legte aufgrund der gegenseitigen Abhängigkeit der Disziplinen auch eine Harmonie des wissenschaftlichen Wissens nahe. Fünfzig Jahre später waren die Grundstruktur der Disziplinen und die Fragestellung immer noch dieselben: Piaget strebt durch den Vergleich der »verschiedenen Formen, die der Strukturalismus in den heutigen Wissenschaften und in den leider immer mehr zur Mode gewordenen Diskussionen angenommen hat, […] eine Synthese« (Piaget, in diesem Band: 15) auf der Basis seines eigenen Ansatzes an.

Allerdings kommt Piaget mit seinem Strukturbegriff, der eng an das Verhalten und an das Subjekt gebunden ist, aus einer ganz anderen Tradition als die anderen Strukturalisten. Seine Strukturen bestehen aus äquilibrierten und koordinierten Operationen, die Verinnerlichungen von Handlungen sind. Das handelnde Subjekt konstruiert diese Strukturen, indem es seine Handlungen und Operationen differenziert und an die Umwelt und die anderen Operationen anpasst. Daher ist das Subjekt als ein allgemeines epistemisches beschrieben, ein Funktionszentrum, ein handelndes, abstrahierendes, koordinierendes und denkendes Subjekt mit inneren Strukturen. Zudem spielt die Sprache keine wesentliche Rolle, da der gesamte Strukturaufbau von den Handlungen ausgeht. Piaget macht also den Paradigmenwechsel der Strukturalisten von der Bewusstseins- oder Subjektphilosophie zu den sprachlichen Determinierungen und diskontinuierlichen Bedeutungsproduktionen nicht mit. Zudem beschränkt sich seine Diskussion auf die kognitiven Strukturen, während das figurative und symbolische Denken und damit auch die Literatur und Kunst, die einen wichtigen Teil des Strukturalismus darstellen, nicht zur Sprache kommen. Roland Barthes etwa, der 1963 mit seinem Essay Die strukturalistische Tätigkeit einen der Gründungstexte vorlegte, in welchem er den Menschen als homo significans definiert, dessen Bedeutungsgenerierung der Strukturalismus zu untersuchen habe, wird nicht erwähnt. Für Piaget ist dies allerdings nur folgerichtig, da er davon ausgeht, dass jede menschliche Tätigkeit von den kognitiven Strukturen abhänge, also letztlich ästhetische oder moralische Aspekte als Sekundärphänomene des menschlichen Geistes mitgemeint sind. Aus dieser Perspektive muss, will man nicht enttäuscht werden, Piagets Diskussion der strukturalistischen Sozialwissenschaften und der Philosophie gelesen werden.

Entsprechend seiner Zielsetzung sucht Piaget primär die mit Noam Chomsky, Talcott Parsons, Claude Lévi-Strauss, Louis Althusser und Maurice Godelier übereinstimmenden Punkte, nicht ohne jedoch einen oft zentralen Kritikpunkt vorzubringen. Im Gegensatz dazu attackiert Piaget Michel Foucault frontal, weshalb sich die Frage aufdrängt, was den aufkommenden ›Star‹ unter den französischen Intellektuellen von den anderen Autoren unterscheidet. Vermutlich stellt dessen Dekonstruktion des Subjekts (als bewusstes Zentrum der Welt), des Humanismus (als idealisierte, eigentlich reaktionäre Verachtung des Menschen), der Geschichte (als mythenbildendes und kontinuitätsstiftendes Konstrukt), der Wissenschaft (als Kontrollinstrument) und der Vernunft (als andere Seite des Wahnsinns) sein eigenes Lebensprojekt infrage. Man muss allerdings auch sagen, dass Piaget eine Reihe von Aporien aufdeckt und dass seine Kritik Foucaults 1970 vollzogene genealogische Wende, bei der die episteme verschwinden und der Körper als Einschreibefläche der Ereignisse mit der Geschichte verknüpft wird, mitveranlasst haben mag. 1976 taucht bei Foucault mit dem Willen zum Wissen das Subjekt wieder auf. Die 1968 aufkommende Kritik am subjektlosen und ahistorischen Strukturalismus, zu der Piaget seinen Beitrag leistete, führte zu einer Neuorientierung seiner Anhänger, während Piaget seinen Strukturalismus weiterentwickelte. Es gehört zur Ironie der Wissenschaftsgeschichte, dass Piaget zwar als Kommentator und Kritiker des französischen Strukturalismus, aber nicht als eigenständiger Strukturalist in die Geschichte (vgl. etwa Dosse 1991) eingegangen ist.

LITERATUR:

Barthes, Roland (1963): Die strukturalistische Tätigkeit. In: Kursbuch, 5, 1966: 190–196.

Dosse, François (1991): Geschichte des Strukturalismus. I: Das Feld des Zeichens, 1945–1966. II: Das Zeichen der Zeit, 1967–1991. Hamburg: Junius, 1997.

Foucault, Michel (1976): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1983.

Lalande, André (1926): Vocabulaire technique et critique de la philosophie. Paris: Alcan.

Piaget, Jean (1918): Recherche. Lausanne: La Concorde.

Piaget, Jean (1928): Psychopédagogie et mentalité enfantine. In: Journal de psychologie normale et pathologique, 25: 31–60.

Piaget, Jean (1931): Le développement intellectuel chez les jeunes enfants: étude critique. In: Mind, 40: 137–160.

Piaget, Jean (1936): Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde. Stuttgart: Klett, 1969.

Piaget, Jean (1965): Genese und Struktur in der Psychologie der Intelligenz. In: Theorien und Methoden der modernen Erziehung. Wien: Molden, 1972: 325–342.

KAPITEL I

EINLEITUNG UND
FRAGESTELLUNG

1. Definitionen

Es ist oft gesagt worden, der Strukturalismus sei kaum genau zu fassen, weil er so vielfältige Formen angenommen habe, dass man dahinter keinen gemeinsamen Nenner mehr erkennen könne, und weil die »Strukturen«, auf die er sich berufe, immer unterschiedlichere Bedeutungen erhalten hätten. Vergleicht man die verschiedenen Formen, die der Strukturalismus in den heutigen Wissenschaften und in den leider immer mehr zur Mode gewordenen Diskussionen angenommen hat, so zeigt sich dennoch die Möglichkeit einer Synthese, unter der Voraussetzung freilich, dass man die beiden faktisch immer miteinander verbundenen, obwohl theoretisch voneinander unabhängigen Probleme auseinanderhält: das positive Ideal, das der Strukturbegriff in den Errungenschaften oder Hoffnungen der verschiedenen Varianten des Strukturalismus beinhaltet, und die kritischen Absichten, die die Entstehung und Entwicklung jeder dieser Spielarten als Gegensatz zu den herrschenden Tendenzen in den verschiedenen Disziplinen begleitet haben.

Man sollte bei dieser Differenzierung nicht vergessen, dass alle »Strukturalisten« dasselbe Ideal der Einsichtigkeit erreichen oder erstreben, dass aber ihre kritischen Intentionen höchst verschieden sind. Für die einen, etwa die Mathematiker, wendet sich der Strukturalismus gegen eine Unterteilung in heterogene Sektionen, indem er durch Isomorphismen die Einheit wiedererlangt; für andere, wie einige Generationen von Linguisten, hat er sich in erster Linie von diachronischen Forschungen zu isolierten Phänomenen distanziert, um in der Synchronie Gesamtheitssysteme zu entdecken; in der Psychologie hat er vor allem die »atomistischen« Tendenzen bekämpft, die die Ganzheiten auf Verbindungen zwischen bestehenden Elementen reduzieren wollten. In den aktuellen Diskussionen wendet er sich gegen den Historizismus, den Funktionalismus und bisweilen auch gegen alle Formen des Rückgriffs auf das menschliche Subjekt im Allgemeinen.

Versucht man, den Strukturalismus im Gegensatz zu anderen Haltungen und insbesondere zu denen, die er bekämpft hat, zu definieren, findet man somit verständlicherweise nur Unterschiede und Widersprüche, die mit all den Wechselfällen in der Wissenschafts- oder Ideengeschichte zusammenhängen. Konzentriert man sich hingegen auf die positiven Inhalte der Strukturidee, stößt man zumindest auf zwei Aspekte, die allen Strukturalismen gemeinsam sind: einerseits das Ideal oder die Hoffnung einer intrinsischen Einsicht, die auf der Forderung beruht, dass eine Struktur sich selbst genüge und zu ihrem Verständnis keinen Rückgriff auf irgendwelche ihr fremde Elemente benötige; andererseits Realisierungen, insofern es gelungen ist, tatsächlich bestimmte Strukturen herauszuarbeiten, deren Verwendung gewisse allgemeine und offensichtlich notwendige Merkmale hervorhebt, die sie trotz ihrer Verschiedenheiten aufweisen.

In erster Annäherung ist eine Struktur ein System von Transformationen, das als System (im Gegensatz zu den Eigenschaften der Elemente) eigene Gesetze hat und sich durch seine Transformationen erhält oder bereichert, ohne dass diese über seine Grenzen hinaus wirksam werden oder äußere Elemente hinzuziehen. Kurz gesagt, eine Struktur umfasst folglich die drei Eigenschaften Ganzheit, Transformationen und Selbstregulierung.

In zweiter Annäherung, wobei es sich dabei um eine spätere oder eine auf die Entdeckung der Struktur unmittelbar folgende Phase handeln kann, muss sich die Struktur für eine Formalisierung eignen. Doch muss man sich bewusst sein, dass diese Formalisierung das Werk des Theoretikers ist, während die Struktur von ihm unabhängig ist, und dass diese Formalisierung unmittelbar in logisch-mathematischen Gleichungen ausgedrückt oder durch ein kybernetisches Modell vermittelt werden kann. Es gibt folglich verschiedene mögliche Formalisierungsstufen, die von den Entscheidungen des Theoretikers abhängig sind, während die Existenzweise der von ihm entdeckten Struktur in jedem besonderen Forschungsbereich zu präzisieren ist.

Der Begriff der Transformation gibt uns die Möglichkeit, das Problem einzugrenzen, denn wenn die Strukturidee alle Formalismen in jedem Sinne des Wortes umfassen müsste, würde der Strukturalismus alle nicht strikt empirischen philosophischen Theorien einschließen, die auf Formen oder Essenzen zurückgreifen, von Platon über insbesondere auch Kant bis Husserl, und zudem gewisse Spielarten des Empirismus wie den »logischen Positivismus«, der die Logik mithilfe syntaktischer und semantischer Formen erklärt. Doch im eben beschriebenen Sinne enthält die Logik selbst nicht immer »Strukturen« im Sinne von Ganzheits- und Transformationsstrukturen: Sie ist in verschiedener Hinsicht in einem recht hartnäckigen Atomismus stecken geblieben, und der logische Strukturalismus steckt noch in den Anfängen.

Wir wollen uns in diesem kleinen Werk auf die Strukturalismen der verschiedenen Wissenschaften beschränken, was schon ein ziemlich gewagtes Unterfangen ist. Am Ende kommen wir auf einige philosophische Bewegungen zu sprechen, die sich in verschiedenem Grade von den aus den Humanwissenschaften hervorgegangenen Strukturalismen haben inspirieren lassen. Doch zunächst müssen wir die vorgeschlagene Definition etwas kommentieren und aufzeigen, wie ein scheinbar so abstrakter Begriff, wie ein in sich selbst geschlossenes Transformationssystem, auf allen Gebieten so große Hoffnungen wecken kann.

2. Die Ganzheit

Die Eigenschaft der Ganzheit der Strukturen versteht sich von selbst, denn der einzige Gegensatz, über den sich alle Strukturalisten (im Sinne der kritischen Haltungen, von denen im ersten Abschnitt die Rede war) einig sind, ist der zwischen den Strukturen und den Aggregaten oder den Gefügen vom Ganzen unabhängiger Elemente. Eine Struktur besteht zwar auch aus Elementen, aber diese sind Gesetzen unterworfen, die das System als solches charakterisieren, und diese sogenannten Kompositionsgesetze beschränken sich nicht auf kumulative Assoziationen, sondern verleihen dem Ganzen als solchem von den Eigenschaften der Elemente verschiedene Gesamteigenschaften. Die ganzen Zahlen zum Beispiel existieren nicht unabhängig voneinander, und man hat sie nicht in einer beliebigen Reihenfolge entdeckt, um sie anschließend zu einem Ganzen zusammenzufassen. Sie treten nur in Funktion der Zahlenreihe in Erscheinung. Diese weist Struktureigenschaften als »Gruppe«, »Körper«, »Kette« usw. auf, die sich unterscheiden von den Eigenschaften jeder Zahl, die ihrerseits gerade oder ungerade, eine Primzahl oder durch n > 1 teilbar sein kann usw.

Doch dieser Ganzheitscharakter wirft zahlreiche Probleme auf. Wir wollen nur auf die beiden wichtigsten eingehen: Das eine bezieht sich auf seine Natur, das andere auf seine Art der Formierung oder Präformierung.

Es wäre falsch zu glauben, dass die erkenntnistheoretischen Haltungen in allen Bereichen auf eine Alternative zurückzuführen seien: entweder die Anerkennung von Ganzheiten mit ihren Strukturgesetzen oder die atomistische Zusammensetzung aus Elementen. Ob es sich um Wahrnehmungsstrukturen oder Gestalten