Penny Simkin / Phyllis Klaus

Wenn missbrauchte Frauen Mutter werden

Die Folgen früher sexueller Gewalt und therapeutische Hilfen

Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Vorspohl

Mit einem Vorwort von Karl Heinz Brisch

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »When Survivors give Birth. Understanding and Healing the Effects of Early Sexual Abuse on Childbearing Women« im Verlag Classic Day Publishing, Seattle

© 2004 by Penny Simkin and Phyllis Klaus

Für die deutsche Ausgabe

© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlag: Roland Sazinger, Stuttgart

Unter Verwendung eines Fotos von © altanaka/fotolia.com

Gesetzt von Kösel Media GmbH, Krugzell

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94839-4

E-Book: ISBN 978-3-608-10789-0

PDF-E-Book-ISBN 978-3-608-20267-0

Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2015 der Printausgabe

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Widmung

Wir widmen dieses Buch unseren Ehemännern, Peter und Marshall, sowie unseren Kindern und Enkelkindern, die uns nie vergessen lassen, dass jeder Mensch eine liebevolle Familie braucht, in der er Halt und Unterstützung findet.

Vor allem widmen wir dieses Buch den Kindern, denen heute sexuelle Gewalt angetan wird und eines Tages, wenn sie selbst Kinder bekommen, mit Schwierigkeiten werden kämpfen müssen, deren Last sie überfordert. Wir hoffen, mit diesem Buch einen kleinen Beitrag dazu leisten zu können, dass sexuelle Gewalt gegen Kinder ein Ende findet.

Inhalt

Widmung

Dank

Vorwort von Karl Heinz Brisch

Vorwort der Autorinnen

I Die langfristigen Folgen des sexuellen Kindesmissbrauchs

1. Sexueller Kindesmissbrauch und wie die Gesellschaft ihn wahrnimmt

Was ist sexueller Kindesmissbrauch?

Häufigkeit von sexuellem Kindesmissbrauch und typische Tätereigenschaften

Sexueller Kindesmissbrauch: Auftauchendes Bewusstsein

Ebenen des Erinnerns

Zusammenfassung

2. Sexuelle Gewalt im Kindesalter und ihre Folgen im Erwachsenenleben

Der Erinnerungsprozess

Sexueller Kindesmissbrauch als Trauma

3. Auswirkungen des sexuellen Kindesmissbrauchs auf eine spätere Schwangerschaft

Schwanger werden

Schwangerschaftsbedingte Konflikte

Befürchtungen, Phobien und Ängste in der Schwangerschaft

Wahl der Gynäkologin oder Hebamme

Über den Missbrauch sprechen

Angst vor Kontrollverlust

Verzögerte Anerkennung der Auswirkungen früher Missbrauchserfahrungen auf Schwangerschaft und Geburt

4. Die Geburt

Schwierigkeiten

Wie Überlebende das Risiko einer traumatischen Geburt mindern können

Trigger, die das psychische Wohlbefinden bedrohen

Kontrolle unter den Wehen

Peripartale Schwierigkeiten und mögliche Lösungen

Klinische Schwierigkeiten unter der Geburt und mögliche Lösungen

5. Postpartum

Spezifische Schwierigkeiten von Überlebenden in der postpartalen Phase

Beziehung zum Partner und zur Familie

Folgen einer negativen Geburtserfahrung

Nachwirkungen einer traumatischen Geburt

Vergleich zwischen posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) und anderen postpartalen Stimmungsstörungen

Stillprobleme

Postpartale Stimmungsstörungen

Hilfe in der postpartalen Phase

II Kommunikation, Hilfe und Heilung

6. Die Beziehung zwischen der Frau und ihrer Frauenärztin oder Hebamme

Beispiele für eine gelungene Kommunikation

Die ungleiche Machtverteilung zwischen der Schwangeren und ihrer Ärztin oder Hebamme

Verständnisvolle Betreuerinnen verbessern das Heilungspotential

Unangemessene Reaktionen von Frauenärztinnen und Hebammen auf Frauen, die Missbrauchserfahrungen offenlegen

Wenn die Betreuerin eine Missbrauchsüberlebende ist

Gespräche mit Schwangeren über Missbrauchserfahrungen

Wie Betreuerinnen sicherstellen können, dass Versprechen gehalten werden

Wie Überlebende zu einer guten Kommunikation mit ihren Betreuerinnen beitragen können

7. Kommunikationsfertigkeiten

Direktive und nondirektive Kommunikation

Unzulängliche und effektive Kommunikation: Gesprächsprotokolle

Kreative Problemlösung

Abschließende Überlegungen

8. Selbsthilfemethoden zur Prävention und Bewältigung psychischer Probleme in der Schwangerschaft und nach der Geburt

Wann sind Selbsthilfemethoden nicht angebracht?

Das Konzept des inneren Kindes oder des kindlichen Selbst

Gefühle und Symptome erforschen

Selbstfürsorge

Containment

Panikattacken

Stressmanagement

Umgang mit der eigenen Wut

Aus alten Mustern ausbrechen

Abschließende Überlegungen

9. Geburtsberatung

Die Anwendung von Beratungsmethoden zur Selbsthilfe

Arbeit mit einer Beraterin

Spezifische Beratungstechniken für spezifische Probleme

Die Rolle des Partners

Mögliche Reaktionen auf Trigger

Der Geburtsplan

Beratung nach einer traumatischen Geburt

Andere Beratungsmethoden, die bei der Verarbeitung einer enttäuschenden Geburtserfahrung helfen

Beratung von Schwangeren mit vorausgegangener traumatischer Geburtserfahrung

Abschließende Überlegungen

10. Psychotherapie

Die richtige Therapeutin finden

Das therapeutische Setting und die Aufgaben der Therapeutin

Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR)

Durcharbeiten einer traumatischen Geburt und ihrer Zusammenhänge mit dem Kindheitstrauma

Somatisierung: die Bedeutung körperlicher Symptome entdecken

Traumarbeit

Imaginatives Nacherleben verstörender Erlebnisse

Innere Rückschau: eine Methode zur Verarbeitung einer traumatischen Geburt

Abschließende Überlegungen

III Klinische Schwierigkeiten und Lösungen

11. Durchführung einer gynäkologischen Untersuchung bei sexuell missbrauchten Frauen (von Yeshi Sherover Neumann)

Wie wir uns selbst auf die Untersuchung vorbereiten

Vor der Untersuchung

Unmittelbar vor der Untersuchung

Die Untersuchung

Beendigung der Untersuchung

Nach der Untersuchung

Nachbesprechung

Nachwort

IV Anhänge und Lektüreempfehlungen

Anhang 1: Niedergeschlagenheit nach der Geburt – Fragebogen zur Selbstbeurteilung

Anhang 2: Postpartale Stimmungsstörungen – Risikofaktoren, Symptome und Genesung

Anhang 3: Strategien für spezifische Triggerformen

Anhang 4: Geburtsplan

Anhang 5: Zwei Fallgeschichten

Anhang 6: Selbsteinschätzung des psychischen Befindens nach einer schwierigen Geburt

Literatur

Artikel

Bücher

Anmerkungen

Stimmen zum Buch

Dank

Zuallererst danken wir unseren Patientinnen, von denen wir so viel lernen durften.

Wir danken Connie Wescott für drei Geschichten aus dem 1. Kapitel und Yeshi Sherover Neumann für das 11. Kapitel. Nicole Hitchcock Streiff danken wir für ihre Hilfe bei der Erstellung des Literaturverzeichnisses. Für hilfreiche Kommentare zum Manuskript bedanken wir uns bei E. Sue Blume, Marshall Klaus, Dana Blue, Cinda Weber, Leslie James, Tracy Sachtjen, Brenda Sutherland Field, Shona Simkin und Shirley Baek. Polly Perez beriet uns in Publikationsfragen; auch Jan Dowers und Sandy Szalay haben uns zuverlässig unterstützt. Elliott Wolf von Classic Day Publishing sprach uns immer wieder Mut zu und half bei der Vorbereitung des Manuskripts. Und schließlich danken wir Kathy McGrath für ihren Beistand, ihre gründliche Lektüre aller Kapitel, ihre hilfreichen Kommentare und ihr gelegentliches Drängen auf Fertigstellung des Buches.

Die Geschichten in diesem Buch beruhen auf realen Situationen. Namen und Details der Patientinnen und professionellen Betreuer wurden aus Datenschutzgründen verändert.

Wir beschreiben in diesem Buch praktische Techniken, die es unseren Leserinnen und Lesern – Missbrauchsüberlebenden, Frauenärztinnen, Geburtshelfern, Psychotherapeuten, Sozialarbeiterinnen und anderen Interessierten – erleichtern, die Folgen der sexuellen Gewalt im Kindesalter zu verstehen und zur Heilung Betroffener beizutragen.

Der Vertrieb dieses Buch erfolgt mit der Maßgabe, dass weder die Autoren noch der Verlag für Schäden verantwortlich sind, die direkt oder indirekt durch die hier erläuterten Informationen verursacht oder vermeintlich verursacht wurden. Wir haben uns um korrekte Darstellungen bemüht, aber dieses Buch ist kein Ersatz für eine psychotherapeutische oder medizinische Behandlung.

Weil die Bedingungen, die wir brauchen, um psychisch und körperlich gesund zu bleiben oder zu werden, individuell unterschiedlich sind, empfehlen wir Ratsuchenden, sich an ärztliche oder psychotherapeutische Experten zu wenden.

Vorwort von Karl Heinz Brisch

Ich erinnere mich noch sehr gut, als ich vor vielen Jahren die Arbeit von Phyllis Klaus in einem Workshop kennenlernte. Ich war begeistert davon, wie einfühlsam, wertschätzend und differenziert sie ihre Arbeit mit schwangeren Frauen beschreiben konnte, insbesondere war ich schockiert und wachgerüttelt, welche katastrophalen Auswirkungen die Erfahrung von sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend auf das Erleben von Frauen während der Schwangerschaft und der Geburt haben konnte. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen, wie sehr die Erfahrung von Schwangerschaft und Geburt an frühere Zustände von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein erinnern konnten, ja sogar traumatische Erlebnisse mit allen Affekten wieder wachgerufen werden konnten. Wie konnte eine Frau als Überlebende von sexueller Gewalt überhaupt gebären, ohne in größte psychische Ausnahmezustände zu geraten? Wie und von wem könnte sie wissend und einfühlsam dabei begleitet werden? Wie könnte adäquate Beratung und psychotherapeutische Hilfe aussehen?

Simkin und Klaus beschreiben in ihrem exzellenten Buch sehr detailliert und umfangreich, wie Frauen während der Schwangerschaft und unter der Geburt in Wiederholungserfahrungen kommen können, wenn sie nicht feinfühlig begleitet werden und alle beteiligten Personen im Helfersystem sich darauf einstellen, dass diese Frauen eine besondere Form von Unterstützung erfahren müssen.

An sehr vielen Fallvignetten verdeutlichen die Autorinnen, wie diese Wiederholungs- und Retraumatisierungsprozesse während der Schwangerschaft und Geburt und auch in der Nachgeburtsperiode wirken können und welch katastrophalen Auswirkungen sie etwa auf vorzeitige Wehen, frühzeitige Entbindung, Frühgeburt, Wehenstillstand und dissoziative Phänomene bei der Gebärenden während der Geburt haben können. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass betroffene Frauen unmittelbar durch die Geburtserfahrung retraumatisiert werden können, was sicherlich einem katastrophalen Geschehen gleichkommt und dazu führen wird, dass sich diese Frauen vermutlich nie wieder freiwillig in eine Situation von Schwangerschaft und Geburt hinein begeben werden.

Anhand von vielen sehr gut geschilderten Fallbeispielen lassen die Autorinnen den Leser daran teilhaben, welche Möglichkeiten der Kommunikation, der Beratung und auch der Psychotherapie es gibt, um diesen Frauen sehr differenziert individuelle Hilfe anbieten zu können. In den Workshops von Phyllis Klaus war ich tief beeindruckt davon, mit welchem Engagement und extremer Fachkenntnis sie als Begleiterin, Beraterin und Psychotherapeutin während der Schwangerschaft an das Krankenbett von Frauen mit vorzeitiger Wehentätigkeit trat, um diesen durch ganz individuelle Hilfestellung, Intervention und in Kenntnis von früheren Stresserfahrungen zu helfen. Allein die Art des Beziehungsaufbaus in diesen Situationen, die spezifische Gesprächsführung, die feinfühlige Untersuchung und Anamneseerhebung, das Wissen um mögliche Aktivierung von früheren sexuellen traumatischen Gewalterfahrungen kann zu einer kompletten Wende der Symptomatik in der Begleitung der Schwangeren führen und auch das Geburtserlebnis positiv verändern, so dass eine postnatale Bindung zum Baby von der Mutter leichter aufgebaut werden kann. Zusätzliche Möglichkeiten, etwa durch Hypnotherapie und Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR), werden hier von Simkin und Klaus ebenso eingesetzt, um auch traumatische Erfahrungen noch während dieser schwierigen Zeit verarbeiten zu können, bevor sie unter der Geburt zu Blockaden und dissoziativen Prozessen führen. Diese enden manchmal darin, dass die Schwangeren während der Geburt emotional aus dem Kontakt gehen und es zu einem Geburtsstillstand kommen kann. Für alle Beteiligten – Geburtshelfer, Hebammen und Pflegepersonal – sind solche Situationen extrem stressreiche Katastrophen, besonders für Mutter und Kind, und können im Extremfall auch lebensbedrohlich sein. Die beiden Autorinnen lassen den Leser somit an ihrer feinen Arbeit »im Brennpunkt des größten Stresses« teilhaben, und es ist sehr aufregend und gleichzeitig lehrreich, ihnen dabei quasi während der Lektüre des Buches über die Schulter zu schauen, um von ihnen zu lernen.

Es wird noch viele Jahre der Schulungen und Ausbildungen bedürfen, bis alle, die mit Schwangeren und Gebärenden in der täglichen Arbeit begleitend, psychotherapeutisch und auch medizinisch tätig sind, verinnerlicht haben, wie sehr frühere traumatische sexualisierte Gewalterfahrungen den Prozess der Schwangerschaft und Geburt negativ beeinflussen können, und welch großes Potential sich auftut, wenn genau diese Fragestellungen des Überlebens von sexueller Gewalt und früheren Erfahrungen schon in der Geburtsvorbereitung zur Sprache kommen.

Das Buch ist durch seine vielen praktischen Beispiele absolut gut zu lesen, ermöglicht immer einen direkten Bezug zwischen den theoretischen Ausführungen und den praktischen Anwendungsmöglichkeiten. Die Fragebögen im Anhang helfen den Leserinnen und Lesern, die durch die Lektüre gewonnenen Einsichten auch in der praktischen Alltagsarbeit in vorsichtigen Schritten umzusetzen.

Ich wünsche dem Buch daher eine ausgesprochen weite Verbreitung, nicht nur im Bereich der professionellen Helferinnen und Helfer rund um Schwangerschaft und Geburt, sondern vielmehr möge es auch Eingang finden in die Ausbildung von Hebammen und Pflegepersonal, um auf diese Weise möglichst viele für die in dem Buch behandelten hochsensiblen Themen frühzeitig zu schulen, zum Wohle von Schwangeren und ihren Kindern. Es ist gut vorstellbar, dass durch eine solche feinfühlige, frühzeitige Schulung zukünftige Retraumatisierungen von Gebärenden vermieden und damit auch die Mutter-Kind-Bindung schon im Kreißsaal auf einen gesünderen, sichereren Bindungsweg geleitet werden kann.

Karl Heinz Brisch, München, im Januar 2015

Vorwort der Autorinnen

Etwa Mitte der 1980er Jahre wurde uns beiden – Phyllis als Psychotherapeutin und Beraterin, Penny als Leiterin von Geburtsvorbereitungskursen, Beraterin und Doula – bewusst, dass viele Frauen, die in der Kindheit die Erfahrung sexueller Gewalt machen mussten, in der Schwangerschaft unter extremen Ängsten leiden und außerordentlich schwierige oder sogar traumatische Geburten erleben. Auch Komplikationen in der frühen Mutterschaft treten häufiger auf als bei anderen Frauen. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass körperliche Untersuchungen und invasive Behandlungsmethoden für Missbrauchsüberlebende oft unerträglich sind. Die Unberechenbarkeit des Wehenprozesses und der Geburt an sich, das Wissen um die Schmerzen, die auf sie zukommen, und die Angst davor, weder das eigene Verhalten noch den Geburtsverlauf kontrollieren zu können, erweisen sich als extreme Herausforderung. Wir lernten Frauen kennen, denen es sehr schwer fiel, Ärzten, Hebammen und Krankenschwestern zu vertrauen. Zudem zweifelten sie an ihrer Fähigkeit, für ihr Baby sorgen zu können. Viele dieser Frauen hatten den Kontakt zu ihren Angehörigen abgebrochen. Sie waren von Familienmitgliedern missbraucht worden oder hatten erlebt, dass diejenigen, die sie hätten schützen müssen, die sexuelle Gewalt billigend in Kauf nahmen oder nicht verhinderten.

Damals fanden wir weder in der medizinischen noch in der sozialwissenschaftlichen Fachliteratur Informationen über die Auswirkungen der sexuellen Gewalt gegen Kinder auf spätere Schwangerschaften. Erst 1992 erschienen in der Zeitschrift Birth: Issues in Perinatal Care die ersten Artikel zu diesem Thema. Noch später, nämlich 1994, wurden die Diagnosekriterien der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) von der American Psychiatric Association revidiert. Die neue, 4. Auflage des Diagnostic and Statistical Manual hielt nun fest, dass eine angsterregende oder lebensgefährdende Geburt häufig die Kriterien eines traumatischen Erlebnisses erfüllt und die Nachwirkungen einer traumatischen Geburtserfahrung in zahlreichen Fällen die Kriterien für eine PTBS-Diagnose erfüllen. Seitdem die PTBS-Kriterien überarbeitet wurden, ist eine Vielzahl von Aufsätzen über die posttraumatische Belastungsstörung nach einer Geburt erschienen. Einige dieser Artikel berichten, dass das Risiko sowohl bei Frauen mit psychischer Vorerkrankung als auch bei Frauen, die in der Kindheit sexuelle Gewalt erfahren mussten, erhöht ist.

Als wir mit schwangeren Missbrauchsüberlebenden zu arbeiten begannen, wurde uns klar, dass die Frauen selbst nicht nur unsere beste, sondern tatsächlich unsere einzige Informationsquelle waren. In den Sitzungen mit Schwangeren, die zur Beratung oder psychotherapeutischen Behandlung zu uns kamen, lernten wir, dass das Trauma der frühen sexuellen Gewalt im Kontext der Vorsorgeuntersuchungen, während der Wehenarbeit, der Geburt und in der frühen Mutterschaft reinszeniert werden kann.

Viele Ängste und Selbstschutzreaktionen, die im Kontext der frühen sexuellen Gewalt aufgetaucht sind, werden in der Schwangerschaft, bei der Geburt und in den ersten Wochen danach wahrscheinlich stärker als in anderen Lebensphasen reaktiviert. Gründe dafür sind vermutlich Faktoren, die sich nicht kontrollieren lassen, etwa die schwangerschaftsbedingten Veränderungen des Körpers, die Wehenarbeit, die damit einhergehenden Schmerzen, der Druck auf den Damm, wenn das Baby sich in den Geburtskanal senkt, und schließlich die Verantwortung für ein winziges, abhängiges Menschenwesen. Auch die konzentrierte Aufmerksamkeit, die die Ärzte im Kreissaal – fremde Menschen mit Autorität und Macht – dem Genitalbereich der Frau widmen, sowie die zahlreichen invasiven Maßnahmen der modernen Geburtshilfe sind für viele werdende Mütter unerträglich, deren Körper in der Kindheit verwundet wurde und die nicht nur das Vertrauen in Autoritätspersonen, sondern auch ihr Selbstvertrauen verloren haben. Frauenärztinnen, Geburtshelfer und andere Experten reagieren nicht selten bestürzt, verwirrt oder verärgert, wenn sie zu schwangeren Missbrauchsüberlebenden keine gute Beziehung aufbauen können. Hier besteht ein enormer Informationsbedarf, damit diese Patientinnen vor Verletzungen oder gar vor einer Wiederholung des ursprünglichen Traumas bewahrt bleiben.

Das vorrangige Ziel dieses Buches besteht darin, jeder Interessentengruppe – Überlebenden, ihren Familien, Ärzten und Ärztinnen, Hebammen, Krankenschwestern, Psychotherapeuten, Sozialarbeiterinnen und anderen professionellen Helfern – dieselben Informationen zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus möchten wir unsere Leserinnen und Leser über die langfristigen Folgen aufklären, die ein Kindesmissbrauch nach sich ziehen kann. Wir möchten Überlebenden und ihren Betreuerinnen Fertigkeiten vermitteln, die es ihnen erleichtern, effektiv miteinander zu kommunizieren; wir erläutern Strategien, die dem psychischen Wohlergehen der Frauen während der Geburt und in den ersten Lebensmonaten des Babys zuträglich sind, und Möglichkeiten, sie angemessen zu betreuen und zu versorgen. Wir haben Techniken der Geburtsberatung entwickelt, die wir Psychotherapeuten und Laienhelfern empfehlen, und berichten, wie wir Überlebenden helfen konnten, die Geburt ihres Kindes als ein beglückendes Ereignis zu erleben und daraus Kraft zu schöpfen.

Wir haben in diesem Buch zusammengestellt, was wir von Überlebenden des sexuellen Kindesmissbrauchs, von engagierten Frauenärzten und Hebammen und aus der Fachliteratur über emotionale und körperliche Folgen der sexuellen Gewalt und anderer Traumata sowie über die posttraumatische Belastungsstörung gelernt haben. Wir möchten nicht nur verhindern, dass schwangere Missbrauchsüberlebende retraumatisiert werden, sondern wollen darüber hinaus dazu beitragen, dass alte Wunden in der schwierigen Zeit der Schwangerschaft heilen können.

Einen besonderen Dank sprechen wir den hunderten Frauen aus, die mit ihren Geschichten und ihren Ängsten zu uns gekommen sind. Sie waren unsere Lehrerinnen und können durch dieses Buch auch zu Ihren Lehrerinnen werden.

Penny Simkin und Phyllis Klaus

TEIL I

Die langfristigen Folgen des sexuellen Kindesmissbrauchs

1. KAPITEL

Sexueller Kindesmissbrauch und wie die Gesellschaft ihn wahrnimmt

  • »Ich habe versucht, mit meiner Mutter darüber zu sprechen, dass mein Bruder mich belästigte, aber sie wollte mir nicht glauben. Es wurde immer schlimmer, manchmal konnte ich vor Schmerzen kaum laufen. Als meine Lehrerin mich fragte, was los sei, habe ich es ihr erzählt. Ich bin dann zu Pflegeeltern gekommen, und meine Mutter hat mir nie verziehen, dass ich die Familie zerstört habe.«
  • »Am vierten Geburtstag meiner Tochter bekam ich plötzlich Panikattacken. Ich hatte Flashbacks und erinnerte mich an den Missbrauch durch meinen Onkel. Damals war ich vier und mit meinen Eltern bei ihm zu Besuch.«
  • »Ich habe am eigenen Leib erfahren, dass man sich lächerlich macht und es peinlich ist, wenn man die Kontrolle verliert. Als die Wehen anfingen, habe ich deshalb um eine Periduralanästhesie gebeten. Mich nicht mehr unter Kontrolle zu haben wäre für mich die schlimmste Demütigung gewesen.«

Was ist sexueller Kindesmissbrauch?

Unter sexuellem Missbrauch oder sexueller Gewalt gegen Kinder versteht man jede sexuelle Handlung, die durch Erwachsene oder Jugendliche an, mit, oder/und vor einem Kind vorgenommen wird. Der Täter bzw. die Täterin nutzt die körperliche, psychische, kognitive und sprachliche Unterlegenheit des Kindes aus, um ihre oder seine Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen.

Alle körperlichen Handlungen sowie psychische oder verbale Verhaltensweisen, die den Täter selbst oder Dritte sexuell erregen, sind sexueller Kindesmissbrauch. Zu körperlichem sexuellem Missbrauch zählen Geschlechtsverkehr, vaginale oder anale Penetration mit den Fingern oder mit Gegenständen, Oralsex sowie Berührungen der Genitalien des Kindes oder der Genitalien des Täters durch das Kind. Körperlicher sexueller Missbrauch kann mit physischer Gewalt einhergehen oder mit Freundlichkeit, Bevorzugung des Kindes vor anderen Kindern, Belohnungen oder Schmeichelei.

Zu psychischem sexuellem Missbrauch zählen die Exposition der Genitalien, Voyeurismus und zudringliches Interesse an der sexuellen Entwicklung des Kindes. Ein Kind zu zwingen, pornographisches Material zu betrachten oder sexuellen Handlungen zuzusehen, ist ebenfalls psychischer sexueller Missbrauch.

Als verbaler sexueller Missbrauch werden sexuelle Anspielungen gegenüber Kindern bezeichnet, Fragen und Bemerkungen, die ihre sexuelle Entwicklung oder ihren Intimbereich betreffen, sowie gegen das Kind gerichtete Vorwürfe, dass es »sexy« sei oder sich »freizügig« oder »nuttenhaft« verhalte.

Viele dieser Aktivitäten verletzen das Kind, ängstigen oder verwirren es. Das kleine Mädchen hat das Gefühl, dass irgendetwas mit ihm nicht in Ordnung sei oder dass es etwas falsch gemacht habe. Es weiß nicht einmal, wie oder ob es sich dem Verhalten des erwachsenen Täters entziehen kann. Diese Gefühle werden noch verstärkt, wenn es sich um jemanden handelt, dem es nicht aus dem Weg gehen kann, den es liebt oder von dem es abhängig ist. Sexuelle Gewalt wird zumeist von Erwachsenen verübt, denen das Kind vertraut (Väter, Stiefväter, Großväter oder andere Verwandte). Auch Babysitter, Freunde der Mutter, Autoritätspersonen, Nachbarn, Mitschüler, Geistliche, Brüder, Cousins, gleichaltrige Jugendliche, die das Mädchen auf einer Party kennenlernt, und völlig Fremde können zu Tätern werden.

Ritueller oder kultischer Missbrauch findet in einer geschlossenen sozialen Gruppe statt. Charakteristisch für die Tätergruppe sind mannigfaltige, extrem zerstörerische Formen sexueller, körperlicher und seelischer Gewalt, Gehirnwäsche, erzwungene Geheimhaltung und die Isolation von der Außenwelt.

Häufigkeit von sexuellem Kindesmissbrauch und typische Tätereigenschaften

Wie häufig Kinder in den USA sexuell missbraucht werden, ist nicht gesichert belegt. Schätzungen auf der Grundlage mehrerer Studien und Umfragen besagen, dass zwischen 25 % und 40 % der Mädchen und 20 % bis 25 % der Jungen sexuelle Gewalt erleben. Ähnliche Zahlen werden aus Kanada, Schweden und Großbritannien berichtet. Über die Häufigkeit von rituellem Missbrauch ist nichts bekannt.

Die meisten Täter sind männlich; das Verhältnis zwischen Männern und Frauen, die sich der sexuellen Gewalt gegen Kinder schuldig machen, beträgt 10 : 1. In über 80 % der Fälle ist der Täter dem Kind persönlich bekannt.

Die folgenden Geschichten illustrieren die drei Formen sexueller Gewalt und ihre Folgen für das spätere Leben der Opfer.

Brandy

Brandy erlitt körperlichen sexuellen Missbrauch.

Als Kind wurde Brandy von einem Babysitter betreut, der sie anfasste. Brandy blieb stets vollständig bekleidet, hatte aber das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie wusste, dass die Art und Weise, wie er sie streichelte, nicht richtig war. Niemand sonst hatte sie je zuvor auf diese Art berührt. Hinzu kam die Heimlichtuerei – er verbot ihr, mit irgendjemandem darüber zu sprechen. Der merkwürdige Gesichtsausdruck, den er bekam, wenn er sie anfasste und massierte, bereitete ihr größtes Unbehagen.

Mehrmals wöchentlich wachte Brandy des Nachts schreiend aus dem immer gleichen Albtraum auf. Eines Nachts lief sie ins Schlafzimmer ihrer Eltern und legte sich zu ihnen in das sichere, warme Bett. Nun erzählte sie ihnen, was sie mit dem Babysitter erlebte. Die Eltern sorgten dafür, dass sie ihn nie wiedersah. Niemand hat sie je wieder so angefasst wie er. Sie fühlte sich sicher.

Ihrem Ehemann hatte sie von dem Babysitter erzählt. Er begriff, dass sie es nicht mochte, beim Sex massiert zu werden. Noch als verheiratete Frau wurde sie dadurch an die sexuelle Gewalterfahrung und die damit verbundenen Gefühle erinnert. Als sie später, in der Schwangerschaft mit ihrem ersten Kind, zusammen mit ihrem Mann an einem Geburtsvorbereitungskurs teilnahm, beschlossen sie, die ausgiebige Streichelmassage ausfallen zu lassen. Sie wussten, was für sie beide das Beste war, und entschieden sich für andere Entspannungsmethoden.

Trudy

Trudys Geschichte ist ein Beispiel für seelischen Missbrauch.

Trudys Vater wollte sichergehen, dass seine Tochter ein »unbescholtenes Leben« führte und kein »Flittchen« würde. Keinesfalls sollte sie sich sexuell aufreizend verhalten oder promiskuitiv werden. Als Trudy in die Pubertät kam, begann er, sie streng zu überwachen. Wenn sie einen Jungen interessiert anblickte, sich auf bestimmte Weise setzte oder Kleidung trug, die ihrem Vater missfiel, wurde sie bestraft.

Die Bestrafung bestand darin, dass sie sich vor ihrem Vater ausziehen musste. Auf sein Kommando hin legte sie langsam ein Kleidungsstück nach dem anderen ab. Sobald sie nackt dastand, spazierte ihr Vater mehrmals um sie herum, setzte sich dann auf einen Stuhl und starrte sie an. Nach dieser Maßregelung befahl er ihr, sich nicht wie eine Hure zu benehmen – andernfalls würde er sie als solche behandeln.

Auf diese Weise angestarrt zu werden war für Trudy demütigend und zutiefst verletzend. Sie glaubte, sich schuldig gemacht zu haben, hatte aber auch das Gefühl, dass es ihren Vater befriedigte, sie zu bestrafen. Noch Jahre nach dieser Erfahrung sexueller Gewalt wurde sie von Scham- und Angstgefühlen heimgesucht, wenn sie sich auszog und zufällig von Familienangehörigen oder Freunden gesehen wurde.

Dass sie sich schließlich in Beratung begab, verdankte sie ihrem Hausarzt, den sie seit Jahren kannte und dem sie vertraute. Sie hatte ihn aufgesucht, weil sie glaubte, einen Knoten in ihrer Brust entdeckt zu haben. Während der Untersuchung bat er sie, sich aufrecht, mit freiem Oberkörper, vor ihn hinzusetzen, damit er die Brüste auf ihre Symmetrie untersuchen konnte. Als er seinen forschenden Blick auf sie richtete, brach sie in Tränen aus. Der Arzt wollte sie mit Informationen über Brustkrebserkrankungen beruhigen. Er ahnte nicht, dass das Angestarrt-Werden und nicht die Angst vor Brustkrebs ihren Zusammenbruch verursacht hatte.

Rebecca

Rebeccas Kindheit und Jugend waren von verbalem sexuellem Missbrauch überschattet.

Rebecca erinnert sich, dass ihre Eltern ihr schon, als sie erst vier Jahre alt war, eintrichterten, dass sie später einmal gut aussehen müsse. Sie steckten sie in provozierend wirkende Kleidchen und Blüschen und schminkten sie. Jahrelang predigten sie ihr, dass sie »sexy aussehen« müsse, dann würden die Männer sie geradezu »fressen«. Wenn sie attraktiv sei, würde sie sich die Männer »nicht vom Leib halten« können.

Als Rebecca vierzehn Jahre alt wurde, hatte sie 40 kg Übergewicht und nicht die geringste Ahnung, weshalb. Im College wandte sie sich schließlich an eine Beraterin, die ihr half, den Zusammenhang zwischen ihrem Übergewicht und dem, was ihre Eltern ihr von Kindheit an eingeredet hatten, zu erkennen. Rebecca wollte nicht »sexy« sein. Sie wollte nicht von Männern »gefressen« werden. Sie wollte sich die Männer vom Leib halten und versteckte sich hinter ihrem Übergewicht. In der Beratung bearbeitete sie zahlreiche Konflikte und Schwierigkeiten und schaffte es, ihre Extrakilos loszuwerden. Doch auch als normalgewichtige junge Frau legte sie keinen Wert darauf, sexy zu wirken. Sie ließ niemanden, den sie kennenlernte, darüber im Zweifel, dass sie kein Sexualobjekt war.

Ein Jahr nach ihrem Collegeabschluss heiratete sie den Mann, den sie liebte und dem sie vertraute. Als sie zwei Jahre später mit ihrem ersten Kind schwanger war, traten die Folgen der verbalen sexuellen Gewalt bei einer Vorsorgeuntersuchung zutage. Ihr Arzt machte sie darauf aufmerksam, dass sie zu viel zugenommen hatte. Dieser Hinweis war noch unproblematisch, aber dann fügte er hinzu: »Sie wollen doch nicht dick werden, denn schließlich möchten Sie nach der Geburt wieder sexy aussehen, oder?« Wahrscheinlich würden die meisten Frauen eine solche Frage als Beleidigung empfinden und entsprechend empört reagieren. Rebecca aber empfand dieselbe Scham und Angst wie als Kind. Sie war nicht wütend auf den Arzt, sondern fühlte sich gedemütigt. Sie hat seine Praxis nie wieder aufgesucht.

Rebecca wurde als Kind verbal missbraucht. Diese Verletzung und Kränkung mag manchem als harmlos erscheinen, verglichen mit den körperlichen Gewalttaten, von denen wir gelesen oder gehört haben. Dennoch war Rebeccas Missbrauch real und hat Spuren hinterlassen.

Wir erzählen diese Geschichten nicht, um zu schockieren, sondern weil sie die langfristigen Auswirkungen der sexuellen Gewalt in der Kindheit auf Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft veranschaulichen. Eine Schwangerschaft ist zweifellos eine der öffentlichsten, körperlich exponiertesten und emotional schwierigsten Phasen im Leben einer Frau. Wie sie diese Zeit erlebt, wird durch frühere Ereignisse und Beziehungen tiefgreifend beeinflusst. Doch obwohl wir mittlerweile so vieles über sexuelle Gewalt wissen, kommen all diese Kenntnisse nur selten so zur Anwendung, dass Schwangere und Gebärende davon profitieren können.

Sexueller Kindesmissbrauch: Auftauchendes Bewusstsein

Die hohe Rate von Inzest und anderen Formen der sexuellen Gewalt gegen hilflose Kinder wird erst seit relativ kurzer Zeit öffentlich wahrgenommen. Gleichwohl könnte man fragen, ob der Kindesmissbrauch ein neues Phänomen in unserer Kultur darstellt oder ob es ihn schon immer gab, ohne dass wir ihn zur Kenntnis genommen haben. Die Antwort liegt auf der Hand. Seit jeher wurden Kinder sexuell missbraucht, doch vieles von dem, was in der Vergangenheit als akzeptabel galt – Bestrafungen, Spiele, Zärtlichkeiten oder Berührungen –, wurde erst in jüngerer Zeit, und zwar aufgrund der nachhaltigen schädlichen Folgen für das Kind, explizit als Missbrauch bezeichnet.

Die moderne Geschichte der Einstellung gegenüber sexuellem Kindesmissbrauch beginnt in der westlichen Kultur mit Sigmund Freud. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Existenz sexueller Gewalt gewöhnlich verleugnet, obwohl Freud und andere einen Zusammenhang zwischen der »Hysterie« und Inzest mit Kindern aufgezeigt hatten. Der Begriff Hysterie stammt aus dem Griechischen und bezeichnete zunächst eine Gruppe vager und geheimnisvoller Symptome, unter denen in erster Linie Frauen litten – einschließlich Muskellähmungen, Amnesien, Krampfanfällen und Taubheit von Körperteilen.

Die Hysterie wurde erst ernstgenommen, als einige der führenden Neurologen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, darunter Freud, Charcot, Janet und Breuer, sich mit schwer erkrankten Frauen wissenschaftlich zu beschäftigen begannen. Sie gelangten zu dem Schluss, dass die Hysterie durch ein massives psychisches Trauma verursacht werde, das den Bewusstseinszustand verändere (heute bezeichnet man diesen Vorgang als Dissoziation) und zu einem Erinnerungsverlust führe. Von einer Behandlung, die es der Patientin ermöglicht, sich an frühe Erfahrungen wieder zu erinnern, versprach man sich eine Linderung der Symptome. So entstand die »psychologische Analyse« oder »Redekur«.

In einer Zeit, in der das kulturelle Männer- und Frauenbild die Annahme, dass Frauen über wertvolles Wissen verfügten, nicht unterstützte, erfuhren diese Männer der Wissenschaft vieles über psychische Prozesse, indem sie den Frauen zuhörten. 1896 veröffentlichte Freud den ersten Beitrag, der einen Zusammenhang zwischen der Hysterie und frühkindlichen sexuellen Erlebnissen aufzeigte. Nur ein Jahr später nahm er jedoch eine Neuinterpretation seiner Entdeckungen vor, bestritt nun, dass die von seinen Patientinnen geschilderten sexuellen Begegnungen in der Realität jemals stattgefunden hatten, und bezeichnete sie als Phantasien.

Warum dieser Sinneswandel? Nach der Veröffentlichung seines Beitrags im Jahre 1896 musste Freud feststellen, dass er von seinen ärztlichen Kollegen und von den Familienangehörigen seiner Patientinnen mit einem Bann belegt wurde. Einsam und ohne Anhänger trat er den Rückzug an. In ihrem Buch Die Narben der Gewalt schreibt Judith Herman: »Weibliche Hysterie war weit verbreitet. Wenn seine Patientinnen die Wahrheit gesagt hatten und seine Theorie stimmte, blieb nur die Folgerung, dass das, was er ›Perversion gegen Kinder‹ nannte, weit verbreitet war […] auch unter geachteten bürgerlichen Familien in Wien, wo er mittlerweile praktizierte. Dieser Gedanke war schlichtweg unannehmbar« (Herman [1997] 2010, S. 26).

Aufgrund des enormen Einflusses, den Freud ausübte, führte sein Widerruf zu jahrzehntelanger Verleugnung der Realität des sexuellen Kindesmissbrauchs und seiner Folgen. Fortan gründete sich die Freudsche Psychoanalyse auf seine Theorie, dass alle Frauen ihre biologische Minderwertigkeit unbewusst anerkennen und verachten. Sie fühlen sich, verglichen mit dem Mann, beschädigt und werden von Kastrationskomplexen und Penisneid beherrscht.

Eine solche Theorie war mit dem Status, den die Frau Ende des 19. Jahrhunderts in der westlichen Gesellschaft innehatte, vereinbar. Frauen hatten sich dem Mann unterzuordnen, waren von ihm abhängig und fanden wenig Gelegenheit zu sinnvollen Aktivitäten außerhalb des Hauses. Bis in die 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts war dieses Frauenbild in den westlichen Industriegesellschaften maßgebend. Als es sich zu verändern begann und die Frauenbewegung erstarkte, wurden auch Freuds Ansichten über die Weiblichkeit und seine Leugnung der realen sexuellen Gewalt gegen Kinder von zahlreichen hochangesehenen Experten hinterfragt und korrigiert oder verworfen.

In den 1970er und 1980er Jahren zeigten Untersuchungen über Kriegsveteranen, entführte Kinder und Überlebende anderer schwerer Traumata (Folter, Naturkatastrophen, Unfälle), dass die psychischen Folgen der erlebten Ohnmacht oder Hilflosigkeit augenblicklich oder erst verzögert zutage treten können, in jedem Fall aber langfristig und tiefgreifend sind. Die späten Auswirkungen eines sexuellen Traumas ähnelten, wie man nun begriff, den Folgen anderer Traumatisierungen. Damit rückte die sexuelle Gewalt ins Zentrum des Interesses; wissenschaftliche Studien, neue Therapiemethoden, die Aufmerksamkeit der Medien sowie Veröffentlichungen für Laien wie auch für professionelle Helfer waren das Ergebnis. Nun erst wurde die weite Verbreitung dieses heimlichen Terrors nach und nach erkennbar.

Es ist nicht ohne Ironie, dass Freuds ursprüngliche Entdeckungen über den Zusammenhang zwischen der Hysterie und dem Kindesmissbrauch 75 Jahre später anerkannt und bestätigt wurden. Die Zeit war reif. Die öffentliche Einstellung gegenüber Frauen war toleranter und rücksichtsvoller geworden, und Frauen gleich welcher ethnischen Herkunft und aus allen Bereichen des Lebens – öffentliche Personen, Häftlinge, Professorinnen, Prostituierte, Karrierefrauen, obdachlose Frauen, Arme wie Reiche – begannen, über ihre dunkle Geschichte des Missbrauchs, über seine Nachwirkungen, den Schmerz und die Panik und über den Preis zu sprechen, den sie mitunter noch Jahrzehnte später zu zahlen hatten. Gleichzeitig begannen auch Männer, ihre zuvor verschwiegenen schmerzlichen Erfahrungen sexueller Gewalt offenzulegen. Sie berichteten über den Missbrauch durch Lehrer, denen sie vertraut hatten, durch Geistliche, Fußballtrainer und Familienangehörige. Auf das Verbrechen des sexuellen Kindesmissbrauchs stehen heute schwere Strafen.

Öffentliches Gewahrsein

Obwohl noch vieles verbessert werden muss, reagiert die Öffentlichkeit auf sexuelle Gewalt gegen Kinder heute sensibler und wachsamer. Justiz, Medien und Gerichte begegnen den Opfern verständnisvoller und mit mehr Mitgefühl. Psychotherapeuten sind kompetenter und kenntnisreicher und arbeiten effektiver. Die Wahrscheinlichkeit, dass Täter bestraft werden, ist höher als in der Vergangenheit. Die Aufmerksamkeit von Kinder- und Jugendschutzeinrichtungen, Ärzten und Kinderkrankenschwestern ist geschärft. Es fällt ihnen heute leichter, Opfer sexueller Gewalt zu erkennen und in Sicherheit zu bringen.

Experten haben Programme entwickelt, um Kinder darüber zu informieren, wie sie sich vor sexueller Gewalt schützen können. Durch Puppenspiele und Theaterstücke sowie in Gesprächsrunden lernen Kinder, angemessene Berührungen und Handlungen von unangemessenen zu unterscheiden; sie lernen, ihrem eigenen Gefühl, dass etwas nicht geheuer ist, zu vertrauen; sie lernen, dass sie das Recht haben, ihren Körper zu schützen und »Nein« zu sagen, wenn jemand sie zu sexuellen Handlungen auffordert; sie lernen, wem sie von Übergriffen berichten können – auch dann, wenn der Täter ein enger Verwandter oder Freund oder jemand ist, von dem sie abhängig sind.

Ebenen des Erinnerns

Dieses Klima des Mitgefühls erleichtert es immer mehr Frauen, aber auch Männern, sich an die sexuelle Gewalt, die sie als Kind erfahren haben, zu erinnern und darüber zu sprechen. Viele Opfer aber schweigen weiter oder scheinen vergessen zu haben, was ihnen widerfahren ist – sei es aus Scham oder weil sie bedroht und ihnen fürchterliche Konsequenzen in Aussicht gestellt wurden, sollten sie das Geheimnis verraten, oder weil sie selbst glauben, dass die Aufdeckung zu nichts führen werde. Vielleicht denken sie auch, dass es vorbei oder nicht der Rede wert sei. Diese Haltung ist wahrscheinlich Ausdruck einer Bagatellisierung oder Verleugnung der langfristigen Folgen. Andere Opfer haben über den Missbrauch nicht gesprochen, weil sie tatsächlich nur eine vage oder gar keine bewusste Erinnerung daran haben. Und schließlich werden bestimmte Formen der sexuellen Gewalt, zum Beispiel der seelische oder verbale Missbrauch, weiterhin nicht wirklich ernstgenommen.

Die Frage drängt sich auf, ob jemand dermaßen schwerwiegende Erlebnisse tatsächlich »vergessen« kann. Die Erklärung liefert ein komplizierter, dem Selbstschutz dienender psychischer Mechanismus, der die Realität aus dem bewussten Gewahrsein verbannt. Dieser Dissoziationsmechanismus tritt bei Menschen häufig während einer traumatischen – auch sexuell traumatischen – Erfahrung oder im Anschluss daran auf.

Manche Opfer blenden sowohl die sexuelle Gewalt als auch den damit einhergehenden Schmerz, die panische Angst und die Ohnmacht aus, indem sie »dissoziieren« (sich »ausklinken«, »den Körper verlassen«, »auf Autopilot schalten«, »abdriften« oder »offline gehen«). Eine Frau schilderte, wie sie die sexuelle Gewalt als Kind überlebte: »Ich starrte auf eine bestimmte Stelle an der Zimmerdecke und war im Nu dort oben, wo mir nichts passierte. Ich verließ meinen Körper, der auf dem Bett bei ihm liegenblieb.« Sie schützte sich, indem sie das, was sie erlebte, ausblendete. Als sie sich Jahre später zu erinnern begann, sah sie, wie sie von der Zimmerdecke herab auf sich und den Täter schaute.

Eine schwere Traumatisierung kann das Erinnerungsvermögen des betroffenen Menschen ausschalten, sodass die Erfahrung aus dem alltäglichen Bewusstsein verbannt oder dissoziiert wird. Sie bleibt dann möglicherweise jahrelang verborgen oder lediglich als eine fragmentarische Erinnerung auf vorbewusster Ebene erhalten. Die Erinnerung an sexuelle Gewalt kann über lange Zeit völlig unzugänglich bleiben, bis sie vielleicht irgendwann wiederbelebt wird. Dies geschieht offenbar zumeist dann, wenn die Überlebende ein Alter oder ein Stadium der Reife erreicht, in dem sie stark genug ist, um sich dem schmerzvollen Heilungsprozess auszusetzen – gewöhnlich im vierten oder fünften Lebensjahrzehnt. Manchmal jedoch bricht sich die Erinnerung Bahn, bevor die Frau bereit und in der Lage ist, sich mit ihr auseinanderzusetzen, zum Beispiel in einer Schwangerschaft.

Selbst dann, wenn sich Kinder an die erlittene sexuelle Gewalt nicht erinnern, entwickeln sie Mechanismen der Selbstberuhigung, um das Trauma zu bewältigen: Daumenlutschen, Hin- und Herschaukeln, eine mantrahafte Wiederholung von Kinderreimen oder Worten, die keine Bedeutung haben (»Tamtaram, tamtaram«; »Knall, zisch, bäng«). Diese Verhaltensweisen können später wieder auftauchen, zum Beispiel in extremen Stresssituationen wie einer Geburt, wenn Erinnerungen an den Missbrauch reaktiviert werden.

Ruth

Ruth wurde als Kind Opfer schwerer sexueller Gewalt. Sie suchte um Beratung nach, weil sie die Geburt ihres ersten Kindes als traumatisch erlebt hatte. Sie berichtete, dass die Wehen mit stundenlangen entsetzlichen, lähmenden Rückenschmerzen einhergingen, bis die Ärzte ihr schließlich eine Periduralanästhesie (PDA) gaben.

Als sie diese Erlebnisse schilderte, erinnerte sie sich auch daran, dass die einzige Hilfe, die sie während der Wehen fand, darin bestand, sich an ihren Teddybären zu klammern und pausenlos Kinderreime zu summen.

Sobald sie sich emotional auf diese Erinnerung einließ, fiel ihr ein, dass das Umarmen und Wiegen des Teddybären ihr als Kind geholfen hatte, sich selbst zu beruhigen und zu trösten, nachdem der Täter von ihr abgelassen hatte. Während er sie missbrauchte, wiederholte sie ständig die Verse: »Himpelchen und Pimpelchen … stiegen auf einen Berg … Himpelchen war ein Heinzelmann … und Pimpelchen war ein Zwerg … Himpelchen und Pimpelchen …« Ruth wurde im Alter von drei bis sieben Jahren missbraucht.

Sie suchte Beratung, als ihr bewusst wurde, dass dieser kindliche Umgang mit Stress und emotionalem Schmerz zu einer lebenslangen Gewohnheit geworden war. Nun wollte sie lernen, Angst, Stress und Spannung auf eine eher erwachsene Weise zu bewältigen. (Entsprechende Methoden werden im 8. Kapitel ausführlich erläutert.)

Wenn dissoziierte Erinnerungen an sexuelle Gewalt wiederauftauchen, gelangen sie häufig als schattenhafte, verschwommene Träume, als Tagträume oder in Form von Panikattacken, Angst, Erinnerungsfetzen oder Flashbacks ins Bewusstsein. Unter Umständen geschieht viele Jahre lang gar nichts, bis die Opfer von diesen Vorgängen überrascht werden und sich die verwirrenden Symptome nicht erklären können. Begleitet werden solche Erinnerungen häufig von depressiven Gefühlen und Angst, deren Intensität unter Stress oder wenn aktuelle Vorkommnisse Erinnerungen an sexuelle Gewalt triggern, zunimmt. Für viele Opfer sind diese Gefühle dann so verwirrend und beunruhigend, dass sie um professionelle Hilfe nachsuchen.

Zusammenfassung

Die Häufigkeit von sexueller Gewalt gegen Kinder und die langfristigen Folgen sind nach wie vor beunruhigend und bestürzend. Trotzdem werden wir Freuds Fehler, die von ihm selbst entdeckten Wahrheiten zu widerrufen, schwerlich wiederholen. Angesichts der Fülle an gesicherten Daten aus einer Vielzahl von Quellen ist es unmöglich, die Existenz und die weitreichenden Folgen des Kindesmissbrauchs zu leugnen. Mit wenigen Ausnahmen konzentriert sich die Forschung heute darauf, zu klären, wie (nicht ob!) die im Kindesalter erlittene sexuelle Gewalt die Betroffene noch als Erwachsene beeinträchtigt und wie wir dazu beitragen können, die Wunden zu heilen.

2. KAPITEL

Sexuelle Gewalt im Kindesalter und ihre Folgen im Erwachsenenleben

  • »Ich bin ein eher unauffälliger Typ, das war ich schon immer. Ich trage zeltartige Sweatshirts, um meine Figur zu verstecken, und würde mich niemals im Badeanzug zeigen. Ich schäme mich zu Tode darüber, dass mich die Leute im Kreißsaal fast völlig nackt gesehen haben.«
  • »In Restaurants oder in einem Wartezimmer muss ich grundsätzlich so sitzen, dass ich den Eingang im Blick habe – ich schlafe sogar mit Blick auf die Schlafzimmertür –, weil ich sehen muss, wer sich mir nähert. Als ich unter den Wehen die PDA bekam und der Arzt, der sie mir verabreichen wollte, hinter mir stand, bin ich völlig ausgerastet.«
  • »Ich leide schon Zeit meines Lebens unter Bauchschmerzen, Verstopfung und Migräne. Kein Arzt hat mir je helfen können, deshalb haben mich die entsetzliche Übelkeit in der Schwangerschaft und die Verdauungsschwierigkeiten nicht im Mindesten überrascht.«

Viele Kinder, die sexuell missbraucht oder verbal, seelisch oder körperlich misshandelt wurden, leiden unter ähnlichen Spätfolgen. Als Erwachsene haben sie ein negatives Selbstbild, sind unter Umständen sogar überzeugt, den Missbrauch »verdient« zu haben, weil sie böse waren, oder man hat ihnen immer wieder erklärt, dass sie selbst den Täter provoziert haben, indem sie mit ihm flirteten und ihn verführten. Unbewusst haben viele Missbrauchsüberlebende eine extreme psychische Abwehr entwickelt, indem sie sich emotional »betäubten« (ihre emotionalen Reaktionen quasi ausschalteten oder Teile ihres Körpers nicht mehr wahrnahmen). Andere Betroffene wurden überaus wachsam und sind auch im Erwachsenenleben ständig auf der Hut vor möglichen Gefahren. Wieder andere entwickeln ein zwanghaftes Bedürfnis nach einem durch und durch geregelten und vorhersagbaren Tagesablauf. Überlebende werden oft von unerklärlichen Panik- und Angstattacken heimgesucht; viele dieser Frauen haben Angst davor, ihre eigenen Kinder zu verletzen oder zu gefährden. Beziehungen zu anderen Erwachsenen erscheinen ihnen missbräuchlich oder ungerecht. Sie fühlen sich als Opfer. Nicht wenige klagen über körperliche, psychische, soziale oder sexuelle Schwierigkeiten.