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Verlag Voland & Quist GmbH, Dresden und Leipzig, 2017

© by Verlag Voland & Quist GmbH

Korrektorat: Annegret Schenkel

Umschlaggestaltung: HawaiiF3

Satz: Fred Uhde

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

E-Book: zweiband.media, Berlin

ISBN: 978-3-86391-188-1

www.voland-quist.de

Nikita Afanasjew, geboren 1982 in Tscheljabinsk, Russland, lebt seit 1993 in Deutschland. Zur Finanzierung von Schule und Studium übte er diverse Gelegenheitsjobs aus, etwa als Bauarbeiter, Gerüstbauer und Bierzapfer. Als Reporter schreibt er unter dem Namen Nik Afanasjew für Tagesspiegel, 11 Freunde, Dummy u.a. Für seine journalistische Tätigkeit wurde er ausgezeichnet mit dem Deutschen Reporterpreis 2015 und nominiert für den Axel-Springer- sowie den Henri-Nannen-Preis. Banküberfall, Berghütte oder ans Ende der Welt ist sein Debütroman.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Autoreninfo

1. Kein Zucker

2. Fontäne 9

3. Der gelbe Bach

4. Ein Kinn mit Mann dran

5. Endlich dagegen

6. Herzlichen Glückwunsch

7. Kunst am Bau

8. Papiertiger

9. Der kneifende Schritt

10. Gottes grosse Titten

11. Der letzte Schatz

12. Am Berg

13. Vorhang auf

14. Das Interview

15. Ausbelichtung

16. Überfahrt

17. Parallelaktion

18. Zeitlos schön

19. Auszugskiste

20. Dienst nach Vorschrift

21. Ex

22. Rotkehlchen

23. Feldarbeit

24. Dienstlich und privat

25. Krieg und kein Frieden

26. Hinter einer Kurve

27. Upside down

28. Utopian art

29. Zeilen

30. Guter Wille

1. Kein Zucker

Jakob Ziegler war dreißig Jahre, neun Stunden und siebzehn Minuten alt, als er zum ersten Mal Post von sich selbst bekam. Der vergilbte Briefumschlag war unbeschriftet und so dünn, als wäre er leer. Darin wartete ein unachtsam abgerissener Zettel mit einer Botschaft, die auf eine Visitenkarte gepasst hätte und in ihrer giftigen Konsequenz doch zu groß für diesen Augenblick war.

Jakob warf den Umschlag ungeöffnet auf den Boden und trug seinen Unmut den langen Weg von der Außentür seines Wohnateliers in die Küche. Er war erst durch jenes tobsüchtige Klingeln erwacht, das dem Brief vorausgegangen war. Er brauchte Kaffee.

Pulver ging in Wasser auf. Jakob hustete ausgiebig und suchte mit seinen Augen die Küche ab. Sie war im Verhältnis zum überdimensionierten Atelier winzig. Was nicht heißt, dass es leicht war, etwas darin zu finden. Jakob versteckte den Zucker stets an unterschiedlichen Orten. Es war eine gescheiterte Entwöhnungsstrategie, die aufzugeben er sich nicht traute. Gestern noch hatte er überlegt, das weiße Zeug ins Klo zu schütten, doch war ihm diese Geste zu kapriziös erschienen; es waren ja nicht George »Blow« Jung und das Koks, sondern nur Jakob und der Zucker.

Die Spüle erstickte in dreckigem Geschirr. Bierflaschen bevölkerten den Tisch. In dessen Mitte stand ein Aschenbecher, um den herum so viele Kippenstummel lagen, als hätte er sich aus Protest gegen seinen Dauerdienst erbrochen. Sieht aus wie nach einer Party, dachte Jakob, nach einer Geburtstagsparty. Dreißig Jahre, eine Wegmarke.

Zunächst hatte er fliehen wollen. An die Ostsee hätte er es sicher geschafft; weit genug, um bei ausgeschaltetem Handy seine Ruhe zu haben. Doch Jakob ertrug die Vorstellung nicht, dass seine Leute eine Überraschungsparty für ihn schmissen, auf der er fehlte und deshalb für eine nach Aufmerksamkeit lechzende Sechzehnjährige gehalten würde.

So hatte er nur auf allen Kanälen um Funkstille gebeten, sich mit Bier, Wodka und seiner Melancholie im Atelier verbarrikadiert. Zumindest so lange, bis seine Freundin Jolanda kurz vor Mitternacht geklopft hatte. Er besaß nie die Kraft, sie abzuweisen.

Jolanda hatte eine Flasche Sekt dabeigehabt und ihre Jolanda-Laune, diese gleichmütige Lebensfreude, die keinen bestimmten Grund hat und eher beruhigend als ansteckend wirkt. Ihre blassblonden Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden, Sommersprossen umspielten ihre Nase. Sie roch nach sommerlichem Nachtwind. Jakob bat Jolanda herein und ignorierte sie. Jolanda hielt es eine Stunde bei ihm aus.

Er hätte sie ganz abweisen oder freudig empfangen müssen. Entweder oder. Den Rest der Nacht hatte Jakob mit seinen Selbstgedrehten zugebracht. Und mit Selbsthass.

Endlich entdeckte er den Zucker.

Das Paket stand auf dem obersten Regal hinter einem nicht beendeten Risiko-Brettspiel. Jakob kletterte auf einen Holzstuhl, hörte das Holz knarzen, hielt inne. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und betrachtete seine weißen Truppen in Australien, die erfolglos um die Herrschaft auf dem Kontinent gekämpft hatten und tief im Westen endgültig aufgerieben zu werden drohten. Es musste toll sein, dort in Australien. Jakob griff nach dem Zucker, das Brett wackelte auf der Kante und fiel erst, als er zu Boden gesprungen war.

Nachdem er sich unter die Dusche in seinem Schlafzimmer gezwungen hatte, betrachtete Jakob sein Gesicht im Spiegel. Seine Augenringe erschienen ihm tiefer, seine Nase schiefer als zuvor. Fast wünschte er, irgendwo auf seinem Kopf ein graues Haar zu erkennen. Er wollte sich nicht in Selbstmitleid suhlen und redete sich ein, dass alles gar nicht schlimm war. Was wirklich stimmte. Darin lag ja das Problem. Sein Leben war nicht berauschend, nicht gut, aber eben auch nicht schlimm genug, um Fragen zu stellen, auf die neue Antworten fällig wären.

Jakob erinnerte sich an eine Weisheit seines Onkels Albert, der an sich eher selten mit Weisheiten auffiel. Ein richtig bekackter Morgen hätte ihm zufolge nur wenig mit einer beschissenen Nacht oder einem Kater zu tun. Einen bekackten Morgen würde auszeichnen, seinem Opfer zu vermitteln, von nun an in regelmäßigen Abständen wiederzukommen; will sagen: gar nicht mehr zu gehen.

Zurück in der Küche kippte Jakob zwei Löffel Zucker in den abgekühlten Kaffee. Er wartete. Er kippte einen dritten hinterher. Ex und weg. Jakob erfreute sich an dem Gedanken, dass sein bester Freund Ben diese Risiko-Partie nicht mehr gewinnen würde.

Er wusste immer noch nicht, ob er wütend auf Ben war. An seinem eigenen Geburtstag um kurz nach neun mit Sturmklingeln geweckt zu werden ging gar nicht. Doch Jakob selbst hatte Ben den Auftrag erteilt, ihm diesen Brief zuzustellen, beziehungsweise seinem späteren Ich. Vor sechs Jahren war das … oder war es schon sieben Jahre her?

Ben sollte den Brief jedenfalls zustellen, falls Jakob es mit dreißig nicht geschafft haben würde. Was sie früher unter geschafft haben verstanden, konnte Jakob nicht mehr genau sagen. Auf jeden Fall hatte diese Kategorie damals viel mit Geld zu tun. Wie er es heute definieren würde, wusste Jakob ebenfalls nicht. Nur dass Ben richtig geurteilt hatte, da von geschafft haben bei ihm keine Rede sein konnte, das sah Jakob ein. Unglaublich, dass Ben den Brief so lange aufbewahrt und ein so betrunkenes Versprechen eingelöst hatte.

Jakob ging zur Tür. Er griff nach dem Umschlag, riss ihn an der Außenkante auf, holte das unachtsam abgerissene Stück Papier heraus. Die einzige darauf geschriebene Zeile erschien ihm heimtückisch und banal, wie eine Erziehung, die sich in seltenen, unnötig harten Schlägen auf den Hinterkopf erschöpft.

Er las die Zeile, las sie so oft, dass sie in Worte zerfiel, die Worte zu Buchstaben, bis nichts mehr einen Sinn zu ergeben schien.

Wenn ich das lese, bleiben mir drei Optionen: Banküberfall, Berghütte oder ans Ende der Welt.