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Peter Heine

Islam zur Einführung

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Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

Im Internet: www.junius-verlag.de

© 2003 by Junius Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Florian Zietz

E-Book-Ausgabe September 2018

ISBN 978-3-96060-070-1

Basierend auf Printausgabe

ISBN 978-3-88506-365-0

2. Auflage 2005

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

1. Vorwort

2. Einleitung

3. Arabien vor dem Islam

Die Quellenlage

Die Gesellschaftsstruktur

Die Religion

Die Tugenden der vorislamischen arabischen Gesellschaft

4. Muhammad und der Koran

Das Leben des Propheten

Der Koran

5. Die islamischen Glaubenspflichten

Das Gebet

Das Fasten

Das Almosen

Exkurs: Die Kopfsteuer (Jizya) und andere Abgaben

Die Pilgerfahrt

Der Dschihad

Ethische Regeln

Islamische Eschatologie

6. Das islamische Recht

7. Islamische Sonderformen

Die Schiiten

Die Ismailiten

Die Bahai

Islamische Mystik

8. Schluss

Anhang

Anmerkungen

Literaturhinweise

Über den Autor

1. Vorwort

Seit dem 11. September 2001 ist der Islam wieder einmal in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. Wenn die tragischen Ereignisse von New York eine positive Konsequenz hatten, dann war es das sprunghaft wachsende Interesse einer breiten Leserschaft an objektiven Informationen über den Islam. Dabei standen vor allem Fragen nach dem »Heiligen Krieg« oder Märtyrer- und Paradiesvorstellungen im Vordergrund des Interesses. Dies sind aber nur Teilaspekte einer alten und komplexen Religion und Kultur. Ihre Basis an Glaubensvorstellungen und ritueller Praxis sowie die Auswirkungen auf alle Lebensbereiche sollen in dieser kurzen Darstellung im Vordergrund stehen. Die westlichen Islamwissenschaften haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten gerade in Fragen der Grundlagen der islamischen Religion und Geschichte beträchtliche Fortschritte gemacht. So reizvoll es gewesen wäre, diese wissenschaftlichen Entwicklungen hier zu referieren, hätte es doch den Rahmen einer Einführung gesprengt. Ich habe mich aber bemüht, immer dort, wo sich neuere Diskussionen entwickelt haben, auf die entsprechende Literatur hinzuweisen. Die Literaturhinweise dienen vor allem einer späteren vertiefenden Lektüre. Daher habe ich mich bis auf eine Ausnahme nur auf europäischsprachige Literatur bezogen.

Dieses Buch über den Islam ist von einem Nichtmuslim geschrieben. Muslime mögen diese Tatsache mit einigem Recht kritisieren. Doch noch bin ich der Meinung, dass eine gewisse Distanz zum Objekt einer Darstellung für ein Publikum, dem der Islam fremd ist, dem Leseverständnis nützt. Die Defizite, die ein westlicher Islamwissenschaftler auch nach einer jahrelangen und intensiven Auseinandersetzung mit dem Islam haben mag, werden vielleicht durch eine größere Vertrautheit mit den Fragen, die von der nichtmuslimischen Öffentlichkeit an Muslime und über den Islam gestellt werden, ausgeglichen. Es geht hier also vor allem um Fragen der Vermittlung.

Auch ein schmaleres Buch wird nicht vom Autor allein geschrieben. Es ist also Dank abzustatten: Für technische Hilfe habe ich Anke Bentzin und Birgit Koch zu danken. Ina Heine hat wieder einmal aus einer nicht immer leicht zu lesenden Vorlage einen gut lesbaren Text gemacht. Für die Fehler, die dieser Text enthalten mag, bin ich aber allein verantwortlich.

Arabische und persische Begriffe sind in einer Form wiedergegeben, die an die Praxis des International Journal of Middle East Studies angelehnt ist. Wenn nicht anders erwähnt, folgen die Zitate aus dem Koran der Übersetzung von Adel Theodor Khoury, Gütersloh 1982.

Berlin, 15.2.2003

Peter Heine

2. Einleitung

In einem Buch dieses Umfangs eine Religion und die aus ihr entstandene Kultur zu beschreiben kann zu Recht zumindest als kühn bezeichnet werden. Schließlich bestimmt sie das Leben von mehr als einer Milliarde Menschen. Sie existiert seit über 1400 Jahren und erstreckt sich über einen geographischen Raum zwischen dem westafrikanischen Senegal im Westen und der indonesisch-malayischen Inselwelt im Osten, zwischen der Insel Sansibar im Süden und den zentralasiatischen Republiken im Norden. Zudem behauptet sie sich als Minderheitenreligion in weiten Teilen der westlichen Welt.1 Die religiöse Praxis von Muslimen der Oberschicht in Kairo z.B. unterscheidet sich beträchtlich von der der ländlichen Bevölkerung in Bangladesch. Das, was von türkischen Arbeitsmigranten im Berliner Stadtteil Kreuzberg unter Islam verstanden wird, hat mit den Gedanken eines muslimischen Theologen an der Pariser Sorbonne wohl kaum etwas gemein. Gewiss, solche Dissonanzen treten auch bei der Beschreibung des Christentums auf. Wenn eine derartige Darstellung von einem christlichen Autor für ein Publikum verfasst wird, das selbst dieser Religionsgemeinschaft angehört oder zumindest aus einem christlich geprägten geistig-historischen Kontext stammt, kann die Kenntnis einer gemeinsamen Begrifflichkeit vorausgesetzt werden. Die notwendigerweise essenzialistische Beschreibung des Christentums wird durch die Lebenswelt des Lesers differenziert. Wenn ein nichtmuslimischer Autor für eine nichtmuslimische Leserschaft den Islam darstellt, kann bei den Adressaten die notwendige Differenzierungskompetenz nicht gegeben sein. Zwar haben heute die meisten Menschen in Deutschland eine gewisse Vorstellung vom Islam und den Muslimen, sei es aufgrund persönlicher Kontakte mit muslimischen Nachbarn, Arbeitskollegen oder Kommilitonen, sei es aufgrund von Urlaubs- oder Geschäftsreisen, sei es aufgrund von Medienberichten u.ä. Doch solche Kenntnisse sind zufällig, unsystematisch und beruhen nicht selten auf falschen oder verfälschten Informationen.

Verfälschungen hinsichtlich der Dogmen, der rituellen und gesellschaftlichen Praktiken des Islams sind kein Phänomen einer modernen antiislamischen Haltung westlicher Gesellschaften nach Terroranschlägen. Seit das Abendland die Existenz einer anderen, einer jüngeren monotheistischen Religion neben dem Christentum und dem Judentum zur Kenntnis nehmen musste, hat es auch immer Missverständnisse, Fehleinschätzungen und ganz bewusst falsche Darstellungen des Islams von westlicher Seite gegeben. (Gleiches muss natürlich auch für das Bild des Westens aus muslimischer Sicht gesagt werden.) Diese Haltung hing zunächst damit zusammen, dass die Einordnung des Islams für christliche Theologen des Mittelalters nicht einfach war. Angesichts der zahlreich vorhandenen Parallelen in den religiösen Traditionen und theologischen Meinungen konnte man Muslime nicht als Heiden betrachten, aber wegen der offenkundigen Unterschiede auch nicht als Christen. Man sah die Muslime daher als eine Art von Häretikern an, die es zum wahren christlichen Glauben zu bekehren galt.2 Gleichzeitig stellten muslimische Reiche über viele Jahrhunderte einen wichtigen politisch-militärischen Faktor im internationalen Kräftespiel der europäischen Staaten dar. Bei einem flüchtigen Blick erhält man den Eindruck, dass sich die Beziehungen zwischen muslimischem Morgenland und christlichem Abendland auf einen simplen Antagonismus reduzieren lassen. Die politische Praxis war aber stets eine sehr viel kompliziertere. Häufig handelten muslimische wie christliche Herrscher nach dem alten orientalischen Prinzip: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Die Entwicklung großräumiger strategischer Konzepte gab es auch schon im frühen Mittelalter. Karl der Große und der Abbasidenkalif Harun al-Raschid hatten mit dem Omayyadenkalifat von Cordoba einen gemeinsamen Gegner3 und das Frankreich Ludwigs XIV. hatte mit dem Osmanischen Reich gemeinsame Interessen im Mittelmeer und gegen die Habsburgische Monarchie.4 Dennoch blieb der Eindruck bestehen, dass der Islam eine ständige Gefahr für die abendländische Lebensweise darstellte. Es gibt die Auffassung, dass die Existenz des Islams eine wichtige Funktion für die Herausbildung einer abendländischen Identität übernahm. Das Interesse des Westens am Islam war in jedem Fall lebhafter als das der Muslime am Abendland. Da man sich unter christlichen Missionaren Gedanken darüber machte, auf welche Weise man die »Häretiker« auf der anderen Seite der Pyrenäen in den Schoß der Mutter Kirche führen könnte, wurden relativ früh Bemühungen unternommen, die wichtigen religiösen Quellen des Islams, vor allem natürlich den Koran, als das heilige Buch der Muslime, ins Lateinische zu übersetzen.5 Später waren es dann die Vertreter der Wissenschaft vom Alten Testament, die sich intensiv mit dem Islam und der Kultur vor allem der Araber beschäftigten. Sie glaubten, dass sich aus den sozialen, rechtlichen, religiösen und auch aus den technischen Verhältnissen insbesondere der beduinischen Gesellschaften der Arabischen Halbinsel Rückschlüsse auf die Situation der jüdischen Stämme des Alten Testaments ziehen ließen. Sie hofften, durch einen Vergleich mit modernen Beduinenstämmen zu einem größeren Verständnis des Altes Testaments zu gelangen.6 Dies war eine der Wurzeln für die Entstehung der Wissenschaft vom Orient, der Orientalistik.7 Das Interesse am Koran ging mit einem lebhaften Interesse für die mathematischen, naturwissenschaftlichen, technischen, medizinischen und philosophischen Errungenschaften der Muslime einher.

In der frühen Abbasidenzeit (750-1258) hatte vor allem in Bagdad eine lebhafte Übersetzungstätigkeit von griechischen und aramäischen Texten ins Arabische begonnen. Zahlreiche Zeugnisse der griechischen und hellenistischen Literatur, die in ihren Originalsprachen verloren gegangen sind, blieben in ihrer arabischen Version erhalten. Von dort gelangten sie dann wieder in den Westen. Die Muslime hatten in diesem Vermittlungsvorgang aber mehr als eine »Briefträgerfunktion« inne. Viele der aus den antiken Texten gewonnenen Erkenntnisse haben sie weiterentwickelt. Dies gilt für die Medizin wie für die Astronomie, aber auch und vor allem für die Philosophie. Ibn Sîna (Avicenna), der in der muslimischen Tradition eher als Augenarzt bekannt ist, oder Ibn Rushd (Averroes) waren auch für die abendländische Scholastik die wichtigsten Kommentatoren der Werke des Aristoteles.8 Eine Vielzahl von aus dem Arabischen stammenden Fremdwörtern in den europäischen Sprachen wie »Algebra«, »Giro«, »Alkohol« legen davon Zeugnis ab, in wie zahlreichen unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, aber auch ganz alltäglichen Lebensbereichen muslimischer Einfluss prägend war.9

Schließlich gab es ein ökonomisch-politisch-militärisches Interesse, das zur Beschäftigung mit dem Orient motivierte. Zunächst setzten sich vor allem die See- und Handelsmächte, für die das Mittelmeer eine entscheidende Rolle spielte, also die italienischen Stadtrepubliken sowie die Königreiche Spanien und Portugal, mit der geistigen und gesellschaftlichen Herausforderung, die der Islam für sie darstellte, auseinander. Später bemühte sich dann auch das seefahrende England um den direkten Zugang zu den Regionen, in denen Gewürze und andere kostbare Handelsgüter vermutet wurden. Man versuchte, die von Muslimen kontrollierten Seewege nach Indien zu umgehen oder die muslimische Konkurrenz auszuschalten.10 Dazu benötigte man u.a. auch Kenntnisse der muslimischen See- und Landkarten. Je stärker die europäischen Mächte wurden, desto größer wurde ihr Interesse an den islamischen Regionen des südlichen und östlichen Mittelmeers. Mit der Expedition Napoleon Bonapartes nach Ägypten im Jahr 1798 fand dieses Interesse seinen ersten praktischen Ausfluss. Die militärische Unternehmung war intensiv wissenschaftlich vorbereitet worden. Die französischen Truppen wurden von der »Mission de l’Égypt« begleitet, einer interdisziplinär zusammengesetzten Wissenschaftlergruppe, die später in einer berühmten und umfänglichen »Description de l’Égypt« die Ergebnisse ihrer Recherchen zusammenstellte.11 Die wachsenden Interessen der europäischen Kolonialmächte in verschiedenen Teilen der Welt, in denen Muslime lebten, verstärkten die wissenschaftlich-orientalistischen Bemühungen. In London, Paris oder dem niederländischen Leiden entstanden praxisorientierte wissenschaftliche Einrichtungen zur Ausbildung von Verwaltungspersonal, das für die Kolonien vorgesehen war.12 Eine gewisse Ausnahme bildete Deutschland, dessen koloniale Interessen sich erst spät artikulieren konnten. Zeitlich versetzt entstanden dann aber auch in Berlin und Hamburg vergleichbare Einrichtungen.13 In Deutschland stand eine romantische Orientbegeisterung im Vordergrund. Bedeutende Vertreter der deutschen Literatur wie Goethe, Rückert, Heine setzten sich intensiv mit dem Orient und seinen Kulturen auseinander. Die Märchensammlung von 1001 Nacht prägte in Deutschland das Orientbild. Dieser Romantizismus war allerdings nicht auf Deutschland beschränkt. Die ersten erfolgreichen »Türkenopern« entstanden in Frankreich, um dann mit der Entführung aus dem Serail in der Wiener Klassik einen Höhepunkt und mit der Italienerin in Algier von Rossini einen spektakulären Abschluss zu finden. Der Orient als Handlungsort spielte vor allem in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts eine geradezu dominierende Rolle. Die Malerei dieser Zeit entwickelte mit den »Orientalisten« Ingres oder Lewis eine ebenso romantisierende Perspektive.14

In einem zu Beginn der Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts entstandenen Buch hat der aus Palästina stammende amerikanische Literaturwissenschaftler Edward Said der westlichen Orientalistik den Vorwurf des »Orientalismus« gemacht.15 Darunter verstand er, dass der Westen, hier vor allem die Orientalisten, den Orient entweder als unterentwickelt und zurückgeblieben beschrieben und damit die wirtschaftliche, politische, militärische und kulturelle Kontrolle über ihn rechtfertigten oder ihm vorwarfen, dass er dem westlichen romantischen Bild nicht entsprach, woraus sie ebenfalls ein Überlegenheitsgefühl herleiteten. Die Kritik von Edward Said bestand nicht zu Unrecht, auch wenn man in Einzelheiten unterschiedlicher Meinung sein könnte. Die zukünftige Entwicklung der westlichen Orientalistik kann nur dahingehen, dass man sich weniger über Muslime und deren kulturelle Äußerungen informiert, als vielmehr mit ihnen über ihre Kultur und die Reaktionen, die in dieser durch den dominierenden westlichen Einfluss entstehen, nachdenkt.

3. Arabien vor dem Islam

Die Quellenlage

Über die religiösen, politischen, sozialen oder kulturellen Verhältnisse auf der Arabischen Halbinsel in der Zeit vor der Entstehung des Islams gibt es nur einige wenige verlässliche Überlieferungen. Zwei unterschiedliche Textgruppen sind in dieser Hinsicht von Bedeutung. In der Regel erfolgte die Tradierung in mündlicher Form; einige Dokumente sind aber offensichtlich schon sehr früh schriftlich fixiert worden. Dies sind wohl vor allem Gedichte. Es wird berichtet, dass besonders gelungene Beispiele vorislamischer Poesie auf Tücher gestickt und dann an dem Heiligtum der heidnischen Araber, der Kaaba in Mekka, aufgehängt wurden. Diese Gedichte wurden daher als »al-Muallaqât« (die Aufgehängten) bezeichnet. Die Dichter dieser berühmten Verse, sieben an der Zahl, sind namentlich bekannt. Weniger berühmte Gedichte wurden mündlich überliefert und erst nach der Einführung des Islams und einer damit einhergehenden stärkeren Verbreitung der arabischen Schrift verschriftlicht. Die Gedichte, die als »Qasîda« (Sg.) bezeichnet werden, haben gewöhnlich eine festgelegte Struktur. Sie beginnen mit der Klage des Dichters um eine verlorene Geliebte und enden mit dem Lob eines Mäzens. Zwischen diesen beiden Teilen finden sich Beschreibungen von Tieren, natürlichen Ereignissen, Waffen u.ä., Eigenlob des Dichters für seine Heldentaten, Spottgedichte, die sich auf einen anderen Dichter beziehen oder auf einen feindlichen Stamm usw. Neben solchen Formen finden sich auch Trauerlieder oder in Reime gefasste Sprichworte. Viele dieser Gedichte sind nur bruchstückhaft erhalten.

Dichter waren in der vorislamischen arabischen Gesellschaft sehr einflussreiche Persönlichkeiten, die mit ihren Werken den Ruhm von Stämmen oder Einzelpersonen vergrößern oder verringern konnten. Ihre besondere sprachliche Fähigkeit verschaffte den Dichtern der arabischen Stämme eine quasi religiöse Autorität.16 Die Gedichte geben einen gewissen Einblick in die Normen und Verhaltensregeln der vorislamischen arabischen Gesellschaft. Wir erhalten auch manche Informationen über deren materielle Kultur oder die wirtschaftlichen Grundlagen. Vieles bleibt aber im Ungewissen. So haben wir nur sehr geringe Kenntnisse über die religiösen Verhältnisse, über die konkreten politischen Beziehungen der Stämme untereinander oder zu den großen bzw. kleinen Staaten in der Umgebung, über Handelswege oder wirtschaftliche Praktiken. Die zweite Art von Texten sind die so genannten »Ayyâm al-arab« (Schlachttage der Araber), in denen in Prosa die militärischen Auseinandersetzungen der verschiedenen Beduinenstämme untereinander beschrieben werden. Diese Texte wurden zunächst mündlich überliefert und erst später schriftlich fixiert.17 Man kann sich leicht vorstellen, dass sie stets die subjektive Sichtweise des jeweiligen Stammes wiedergegeben haben. Diese Darstellungen wurden bezüglich ihrer Übereinstimmung mit den realen Geschehnissen nur durch die Berichte anderer an diesen Auseinandersetzungen beteiligter Gruppen korrigiert. Die Auswertung solcher Texte bedarf natürlich einer entsprechenden Quellenkritik. Muslimische Historiker haben sich seit dem Mittelalter intensiv für die vorislamische Zeit interessiert. Dafür gab es zwei wichtige Beweggründe. Der erste war, dass für Muslime all die vorislamischen Regelungen und Verhaltenweisen als kompatibel mit dem Islam angesehen wurden, die nicht ausdrücklich durch den Koran oder den Propheten Muhammad verboten worden waren. Die vorislamischen Traditionen konnten insofern als Quelle für die rechtlichen Verhältnisse des späteren Islams betrachtet werden.18 Zugleich konnten diese Überlieferungen auch als eine Hilfe bei der Interpretation von Teilen des Korans verstanden werden, die den Gläubigen nicht ohne weiteres nachvollziehbar waren. Daher war der wissenschaftliche Umgang mit diesen vorislamischen Quellen seit dem 2. Jahrhundert islamischer Zeitrechnung (8./9. Jahrhundert n. Chr.) von außerordentlicher Bedeutung für das muslimische Selbstverständnis und ist es bis auf den heutigen Tag geblieben.19 Das zweite Motiv war das folgende: Muslime sind auch heute noch der Meinung, dass der Erfolg des Islams ein Beweis für seine Wahrheit sei. Dieser Erfolg erscheint umso beeindruckender, je schlechter die Umgebung sich darstellt, in der er entstanden ist. Daher haben muslimische Gelehrte z.B. schon früh damit begonnen, Zeugnisse über merkwürdige soziale oder sexuelle Praktiken in der vorislamischen arabischen Welt zu sammeln und in einen Gegensatz zu den Regeln des islamischen Rechts zu setzen. Über den Wahrheitsgehalt solcher Berichte kann man nur spekulieren.

Neben den autochthonen arabischen Quellen gibt es auch einige wenige über die vorislamische beduinische Gesellschaft, die auf Berichte der benachbarten Völkerschaften zurückgehen. Hier sind vor allem die Nachrichten von Reisenden und Händlern zu nennen, die mit Arabern in Kontakt gekommen waren und deren Schilderungen dann Eingang in zeitgenössische byzantinische, persische oder äthiopische Darstellungen gefunden haben.20 Auch diese Informationen können nur nach einer sorgfältigen Quellenkritik verwendet werden. Wenn man von derartigen positivistischen Einschätzungen absehen will, bleibt ein anderer wichtiger Aspekt für das Verständnis des Islams und seiner Gesellschaften bestehen. Für Muslime war die Darstellung der vorislamischen Gesellschaften, so wie sie sich in den genannten Quellen darboten, die historische Wahrheit und ist es bis auf den heutigen Tag mehr oder weniger geblieben, wie ein Blick in aktuelle Geschichtsbücher für arabische Schüler zeigen kann. Sie stellt eine Grundlage für die historische und nationale Identität der verschiedenen arabischen Staaten dar, auch wenn die aktuellen staatlichen Formen mit diesen Traditionen kaum noch etwas zu tun haben.21

Die Gesellschaftsstruktur

Mekka, die Stadt, in der zu Beginn des 7. Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung der Islam entstand, lag zu dieser Zeit am Rand der damals bekannten Welt, auf der Arabischen Halbinsel, etwa siebzig Kilometer vom Roten Meer entfernt. Von den großen Reichen der Perser, Byzantiner und Äthiopier trennten sie die weiten Wüsten Arabiens. Nach der Tradition war Mekka im 5. Jahrhundert n. Chr. gegründet worden und hatte sich im Lauf der Zeit zu einem wichtigen Handelszentrum entwickelt, weil der Ort an der Kreuzung wichtiger Karawanenstraßen lag. Von hier führten Routen nordwärts nach Syrien, nordöstlich nach Mesopotamien, südlich ging es in das Weihrauchland Jemen und nach Westen zum Roten Meer, von wo Ägypten, Äthiopien und die antiken internationalen Handelswege nach Indien und China erreicht werden konnten. Mekka muss eine so große wirtschaftliche Bedeutung entwickelt haben, dass um 570 n. Chr. der äthiopische Statthalter im Jemen versuchte, die Stadt unter seine Kontrolle zu bringen. In seinem Heer führte er auch einen oder mehrere Kriegselefanten mit. Seine Expedition blieb erfolglos, ging aber in die islamische Überlieferung als das »Jahr des Elefanten« ein, das Muslimen als das Geburtsjahr des Propheten Muhammad gilt.22

Die Bevölkerung der Arabischen Halbinsel bestand aus Nomaden und sesshaften Oasenbewohnern, die jedoch beide eine segmentäre patrilineare Sozialstruktur aufwiesen. Diese Struktur findet sich auch heute noch bei den arabischen Beduinenstämmen und den Berbergruppen Nordafrikas. Unter »Segmentierung« versteht man in hohem Maße egalitäre Gesellschaftsstrukturen. Nach den gemeinsamen Traditionen dieser Gemeinschaften stammen alle Mitglieder einer derartigen Gruppe von einem gemeinsamen Vorfahren ab. Alle seine Nachkommen bilden den »Stamm« (qabîla). Von diesem in der Regel mythischen Urahn abstammende Familienverbände bilden Untergruppen oder Clans, diese wiederum Großfamilien, die ihrerseits aus Eltern, unverheirateten Kindern und verheirateten Söhnen mit ihren Frauen und Kindern bestehen. Auf den jeweiligen Ebenen der Clans und Großfamilien besteht zumindest theoretisch absolute Gleichheit der Angehörigen einer Gruppe. Individuen sind nur im Rahmen dieser Strukturen überlebensfähig. Die Angehörigen eines Stammes sind zu gegenseitiger Hilfeleistung verpflichtet. Das wirkt sich vor allem in Form der Blutrache aus. Die verschiedenen Stämme befinden sich nach der Theorie in einem permanenten Kriegszustand miteinander, es sei denn, sie haben sich zu Stammeskonföderationen zusammengeschlossen. Ein weiteres Charakteristikum für die Sozialstruktur der städtischen wie nomadischen arabischen Gesellschaften ist auch die Parallelcousinen-Heirat.23 Nach dieser Heiratsregel besteht eine Präferenz für eine Ehe zwischen einem Mann und dessen Cousine väterlicherseits. Diese vorislamische Heiratsregel wurde in die islamischen Gesellschaften mit übernommen. Über die Stellung der Frau in der vorislamischen arabischen Gesellschaft gibt es unterschiedliche Berichte. Einerseits ist von matriarchalen Strukturen, ja sogar von Polyandrie die Rede. Aus einigen Hinweisen im Zusammenhang mit der Biografie des Propheten Muhammad wird zumindest auf Uxorilokalität (der Mann zieht nach der Heirat an den Ort seiner Frau) geschlossen.24 Andererseits ist aber wahrscheinlich, dass Frauen in der vorislamischen arabischen Gesellschaft in der Regel einen geringeren Status hatten. Dafür spricht, dass es offenbar die Tötung von weiblichen Neugeborenen gab, gegen die sich der Islam in aller Schärfe wandte. Frauen waren in vorislamischer Zeit wohl auch nicht erbberechtigt.

Neben den Stammesangehörigen fanden sich auch fremde Personen, die sich unter den Schutz einer Gruppe gestellt hatten und daher über einen geringeren Sozialstatus verfügten. Zu den Gruppen, die aufgrund einer bestimmten Tätigkeit marginalisiert wurden, gehörten die Schmiede und schließlich Sklaven, die als Kriegsgefangene unter die Kontrolle von Freien gekommen waren oder weil sie einem Schuldner gegenüber ihren Verpflichtungen nicht nachkommen konnten. Offenbar gab es auch weibliche Sklaven.25

Die politischen Strukturen der vorislamischen arabischen Gesellschaft können als vordemokratisch bezeichnet werden. Politische Entscheidungen wurden in Stammesversammlungen getroffen, denen alle erwachsenen männlichen Mitglieder des Stammes angehören. In diesen Versammlungen spielte ein Stammesoberhaupt (Shaikh) eine koordinierende Rolle. Seine Aufgabe war es, durch Verhandlungsgeschick, rhetorische Begabung und Überzeugungskraft die Zustimmung aller Mitglieder der Versammlung zu erreichen. In der Folge hatte er dann auch dafür zu sorgen, dass die zu einer Aktionseinheit zusammengekommenen Personen so lange zusammenbleiben, bis das geplante Ziel erreicht ist. In der politischen Praxis war die Egalität natürlich weniger ausgeprägt. Es fanden sich Familien, die immer wieder den Shaikh stellten, die aus den unterschiedlichsten Gründen über mehr Vermögen verfügten als andere und daher in der Lage waren, ärmere Stammesgenossen in eine materielle und politische Abhängigkeit zu bringen. Ja, es entstanden sogar Klientelverhältnisse. Man muss also trotz der grundsätzlichen Egalität von einer geschichteten vorislamischen arabischen Gesellschaft ausgehen.26

Die Religion

Die ursprüngliche Religion der Arabischen Halbinsel war ein Animismus vielfältiger Erscheinungsformen. Menschen, die in einem engen Kontakt mit der Natur leben, wie das bei den vorislamischen Beduinen der Fall war, beleben die Natur mit geistigen Wesen. Das arabische Heidentum ist gekennzeichnet von einer Vielzahl solcher Wesen, von denen angenommen wurde, dass sie in den unterschiedlichsten Naturerscheinungen ihren Sitz haben. Man ging davon aus, dass Geister in Bäumen, großen Steinen, Brunnen, Seen und Gestirnen existierten.27 Einige dieser Vorstellungen haben sich auch im islamischen Kontext erhalten können. Hier ist vor allem auf die Jinnen hinzuweisen, die auch im Koran genannt werden. Bei ihnen handelt es sich um Wesen aus Feuer, die dem Menschen unsichtbar bleiben, ihm schaden, aber auch nutzen können. Noch im heutigen Volksislam spielen Jinnen eine wichtige Rolle.28 Ethnohistoriker schließen nicht aus, dass es auch Formen von Totemkulten gegeben hat, die mit animistischen Vorstellungen korrespondierten.29 Aus den animistischen Vorstellungen entwickelten sich dann Göttergestalten, die ein vielköpfiges Pantheon bildeten. Zumindest in Mekka ergab sich daraus eine Götterhierarchie, an deren Spitze ein oberster Gott, Allah, stand, der in dieser Stadt eine besondere Verehrung genoss.30 Diesem Gott war eine Reihe von weiblichen Gottheiten zugeordnet, die als seine Töchter betrachtet wurden. Darüber, inwieweit diese Göttinnen mit Gestirnen wie dem Mond zusammenhingen, können nur Vermutungen angestellt werden.31 Allah war in Mekka ein besonderes Heiligtum gewidmet, die Kaaba.32 Zu Ehren dieses höchsten Gottes fanden regelmäßig festliche Rituale statt, die mit Handelsmessen verbunden waren. Während dieser Zeit standen die Händler unter dem besonderen Schutz dieser höchsten Gottheit, was auch für ihre Anreise nach Mekka und die Rückkehr in ihre Herkunftsorte galt, sodass es zu einer engen Verbindung zwischen religiösen und wirtschaftlichen Aktivitäten kam.