Die Drucklegung dieses Buches wurde ermöglicht durch die Südtiroler Landesregierung / Abteilung Deutsche Kultur.

Die Personen und die Handlung dieses Buches sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Nach einer Idee von Christian Kranauer

DANK

Meiner Familie,

meinen Lieben,

meinen Freunden,

meinen Helfern.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

26. Februar 2018

Ferdinand streckte sich, drückte den Rücken durch und setzte sich dann wieder kerzengerade auf den Besucherstuhl. Sein Blick wanderte durch das weiße Zimmer. Die kahle Wand wurde von einem schmutzigen Fenster unterbrochen. In der linken Ecke des Zimmers, also genau hinter ihm, hing ein Fernseher. Sein Nutzen war Ferdinand allerdings unklar, schließlich schaltete sein Vater ihn ja nie ein. Wie denn auch, er konnte ja nicht einmal die Finger bewegen, um die Fernbedienung zu benutzen, geschweige denn fernsehen oder zuhören.

Über dem Bett hing ein kleines hölzernes Kruzifix. Ferdinands Blick blieb daran hängen. Er sah Jesus mit der Dornenkrone und den Stigmata einige Minuten lang an. Sein bärtiges Gesicht war leidend, schicksalsergeben, dennoch weinte der Gekreuzigte nicht. Seine Hände und Füße bluteten, die Rippen hoben sich von seinem mageren Körper ab. Unter den Rippen sah man die Wunden, die man ihm mit den Lanzen in den Leib gestoßen hatte, um zu sehen, ob er noch lebte.

Ferdinand mochte das Kruzifix nicht. Vor einigen Wochen, als man seinen Vater hierhergebracht hatte, hatte Ferdinand beim Anblick des hölzernen Jesus Hoffnung geschöpft. Er hatte gedacht, nun ist er bei meinem Papi, er wird ihm schon wieder auf die Beine helfen, er und die Ärzte werden es schon richten. Es würde schon alles wieder gut werden. Doch nichts wurde gut, egal, wie oft er Jesus am Kreuze um Hilfe gebeten hatte. Erst hatte er ihn ganz leise und vorsichtig angesprochen und ein kleines Gebet aufgesagt. Er hatte geflüstert, weil er sich ein wenig geschämt hatte. Dann, als tagelang nichts passiert war, hatte er ihn angefleht. Er hatte geweint, hatte ihn wieder und wieder gefragt, wie er denn bloß seinem Vater helfen könne, doch Jesus hatte stets geschwiegen. Dann hatte Ferdinand die Wut gepackt und er hatte ihn angeschrien, er solle ihm endlich eine Antwort oder ein Zeichen geben, doch nichts war geschehen. Jesus hatte einfach nur weiter da oben an seinem Kreuz gehangen und Ferdinand hatte versucht, ihn zu strafen, indem er ihn nicht einmal mehr beachtete, wenn er ins Zimmer kam.

Jetzt verengten sich seine Augen und er ließ vom Kruzifix ab. Er drehte den Kopf, stand langsam auf und ging zum Fenster. Dieser ewige Schnee, er hörte einfach nicht auf. Immer noch fielen die Flocken dick und nass vom wolkenverhangenen Himmel und glitzerten im Schein der Straßenlampen, die den Parkplatz erhellten. Ferdinand mochte auch den Schnee nicht mehr, genau wie Jesus.

Früher einmal, da hatte er den Schnee geliebt. Sein ruhiges Weiß, die Kälte und die Stille, die er brachte, hatten ihm stets ein Gefühl der Geborgenheit gegeben. Doch nun hatte sich auch der Schnee als falscher Freund entpuppt und ihm das Liebste genommen. Eine Lawine war vor einem knappen Monat abgegangen und hatte seine Mutter erstickt und nahezu alle Knochen ihres schmalen Körpers zerbrochen. Man hatte sie geborgen, ihr Leben hing noch an einem seidenen Faden. Sie war ins Krankenhaus gebracht worden und dann auf dem Operationstisch ihren schlimmen Verletzungen erlegen.

Ferdinand sah sie immer wieder vor sich, wie sie auf dem Totenbett gelegen hatte, ihre schwarzen Haare, die sie sonst als Zopf trug, lagen offen auf dem Kissen. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Gesicht weißer als der Schnee. Ihre feinen, schwarzen Wimpern hatten sich keinen Millimeter bewegt. Überall hatte sie dunkle Flecken gehabt, im Gesicht, am Hals, auf den Armen. Als er ihr einen Kuss auf die Stirn geben wollte, hatte sich ihre Haut ganz kalt angefühlt, die Wärme war schon Stunden zuvor aus ihrem zierlichen Körper gewichen. Er hatte sie sanft an den Schultern gepackt, Ferdinand hatte einfach nicht verstanden, dass sie tot war. Er begriff nicht, dass sie ihre Seele am Berg gelassen hatte, dass er nun keine Mutter mehr hatte. Er hatte sie bei den Oberarmen genommen und kräftig geschüttelt, doch der Körper seiner Mutter war starr liegen geblieben.

Er hatte seine Großmutter um Hilfe gebeten, doch diese hatte nur mit Schluchzen und einem Vaterunser reagiert. Ferdinand war wütend geworden, schreiend war er aus dem Zimmer gelaufen, hatte geflucht und die Ärztin angerempelt. Ein Pfleger war hinzugekommen, dann hatte der Großvater ihm eine ordentliche Ohrfeige gegeben und ihn an sich gezogen. Erst in diesem Moment hatte Ferdinand begriffen, dass seine Mutter Marie nicht mehr mit ihnen nach Hause kommen würde. Daraufhin hatte er sich zitternd auf einen Besucherstuhl gesetzt und eine halbe Stunde vor sich hin gestarrt, bis sie endlich kamen, die erlösenden Tränen. Der Pfarrer, die Großeltern und die Ärztin hatten neben ihm gesessen, bis er sich wieder gefangen hatte.

Ferdinands Vater Reinhold hatte den Lawinenabgang im hinteren Martelltal überlebt. Er hatte es geschafft, in der Lawine zu schwimmen und an ihrer Oberfläche zu bleiben. Er wusste, wie man sich zu bewegen hatte und dass man vor dem Gesicht einen Hohlraum mit den Händen bilden musste, um sich wenigstens ein paar Minuten Sauerstoff zu sichern. Doch trotz seiner Geistesgegenwart und allen Geschicks war es ihm nicht gelungen, bei Bewusstsein zu bleiben. Man hatte ihn schließlich kopfüber im Lawinenkegel gefunden, er war ohnmächtig, die Lawine hatte seine Gliedmaßen verdreht. Mit dem Hubschrauber wurde er ins Krankenhaus nach Schlanders gebracht, wo man ein schlimmes Schädel-Hirn-Trauma festgestellt hatte.

Zwei Wochen lang hatte er im Koma gelegen, dann hatte er einen Moment lang das Bewusstsein wiedererlangt, die Familie und die Ärzte hatten Hoffnung geschöpft, doch was dann folgte, war schlimmer als der dauernde Schlaf. Ferdinands Vater hatte schlimme Schmerzen und wenn er nicht gerade vor sich hin dämmerte, verkrampften sich seine Glieder und sein Gesicht. Er litt unter Fieberschüben und schaffte es oft kaum zu atmen, er röchelte und manchmal weinte er sogar dicke Tränen, die sein Kissen durchnässten. Die Ärztin hatte Ferdinand erklärt, dass diese Tränen von der Verletzung seines Gehirns herrührten, doch Ferdinand war sich sicher, dass Reinhold vor Schmerzen und aus Trauer um Marie weinte. Die Mediziner wussten nicht weiter, sie hatten ihn untersucht, wo sie nur konnten, die verschiedensten Arzneien ausprobiert, aber nichts schien zu helfen. Sein Körper hatte unter der Last der Lawine einen zu großen Schaden genommen, zu lange hatte seinem Gehirn der nötige Sauerstoff gefehlt.

Mit jeder Flocke, die vom Himmel fiel, wuchs Ferdinands Zorn auf den Schnee. Er biss die Zähne aufeinander, bis sie knirschten. Seine Hände, die er in den Hosentaschen hielt, ballten sich zu Fäusten. Er spürte, wie sich seine Fingernägel in die Handballen gruben, er drückte noch fester zu, der beißende Schmerz tat gut. Er presste die Lippen zusammen, bis auch sie wehtaten, und drehte sich dann brüsk um, starrte erst seinen Vater, dann Jesus am Kreuze und dann wieder seinen Vater an. Zwei Sekunden später schnappte er sich seine Jacke, die er über die Stuhllehne gehängt hatte, und verließ hinkend das Zimmer. Er lief durch die Gänge des Krankenhauses, nahm den Fahrstuhl ins Parterre, ging eilig an der Pforte vorbei und stieg in den grünen Panda seines Großvaters, der bereits seit zehn Minuten dort auf ihn wartete. Der Geruch von Kälte, Schnee, Tabak und Alkohol schlugen Ferdinand entgegen. Auf der Fahrt sprachen sie nicht miteinander. Ferdinand und sein Großvater brauchten keine Worte, um einander zu verstehen. Überhaupt hatten sie selten miteinander gesprochen.

TEIL I

Kapitel 1

November 1994

Vom malerischen, auf 1300 Metern gelegenen Dorf Martell gelangte man in einer knappen Autostunde zum hinteren Ufer des Zufrittsees, einem blaugrünen Stausee mitten in den von dichten Lärchen bewachsenen schroffen Felsen Südtirols. Vom Zufrittsee führten die Serpentinen hinauf in Richtung Talschluss und zur Enzianalm. Hinter einer Kurve lag der ehemalige Borromeohof. Verfolgte man den Forstweg weiter, erreichte man nach einer knappen Stunde zu Fuß die Lyfialm. Auf einem etwas weniger bequemen Trampelpfad kam man durch den Wald zum Pedertal und zur Schildhütte. Man benötigte etwa eine Stunde und gutes Schuhwerk, um das steinerne Häuschen auf etwa zweitausend Metern Meereshöhe zu erreichen. Wer auf die Schildhütte wollte, musste einfach nur dem Pederbach folgen. Bereits vor der Abzweigung, an der sich die Wanderwege zur Lyfialm und zur Schildhütte trennten, hörte man sein leises Plätschern am Wegesrand. In den meisten Monaten des Jahres war der Pederbach ein liebliches, unscheinbares Bächlein, doch in den Zeiten der Schneeschmelze konnte er schnell zu einem reißenden, eiskalten Gewässer anschwellen, der nicht wenige gefährliche Stellen aufwies. Einige Brücken führten über das Bachbett, die im Herbst schnell zu rutschigen Hindernissen wurden. Eine kleine Brücke hatte es ganz besonders in sich: Sie war aus einem alten Baumstamm gefertigt worden, der sich nach einem Unwetter über den rauschenden Bach gelegt hatte. Eifrige Handwerker hatten den Baumstamm mit einigen Brettern und einer Brüstung begehbar gemacht. Das Glatteis, das sich im Herbst auf dem runden Baumstamm bildete, hatten sie jedoch nicht bedacht, und so holte sich so mancher Wanderer nasse Füße und blaue Flecken in der kalten Jahreszeit.

Einmal aus dem Wald herausgetreten, durchschritt man das grüne Hochtal. Ohne große Steigung ging der Weg bis zur Hütte, die sich nach weiteren hundert Höhenmetern auf einem kleinen Hügel inmitten der schroffen Wände präsentierte. Stolz stand sie da auf ihrem Hügel, aus schwarzem Schieferstein gebaut. Neben ihr standen ein kleiner Stall, in dem ein paar Ziegen und Schafe Platz hatten, eine Schupfe, in der Heu und allerhand Werkzeug gelagert wurden, davor zwei Bänke und ein Tisch, an dem die Familie Platz nahm, wenn es das Wetter erlaubte. Ein paar Meter von der Hütte entfernt hatte man einige Wegweiser aufgestellt, um den Wanderern den Weg zurück zur Enzianalm oder hinauf zur Plattenspitze und Schildspitze anzuzeigen. Wer sich getraute, konnte die Schildhütte auch mit dem Auto über einen kleinen Schotterweg erreichen. Doch nicht viele hatten den Mut, ihren Wagen über den steinigen Weg zu lenken, und tatsächlich waren die Schildbauern, wenn sie denn einmal ins Tal mussten, keinen Verkehr auf ihrer kleinen Zufahrtsstraße gewohnt.

Die Schildbauern, das waren Franz Gufler und seine Frau Else. Geheiratet hatten sie im Jahre 1965, fünf Jahre später, in einer stürmischen Nacht im November, wurde ihr Sohn Reinhold geboren. Sieben Stunden hatte Else in den Wehen gelegen, die Hebamme hatte es kaum durch Schnee und Eis zur Schildhütte geschafft und den sturen Willen der Bauern verflucht, die ihre Kinder nicht im Dorf zur Welt bringen wollten. Der weitere Kindersegen in der Familie blieb aus, sehr zur Verwunderung der eigenen Verwandtschaft. Schließlich wussten alle, wie einsam und kalt es oben auf der Schildhütte war und dass man dort mit den Tieren zu Bett ging. Etwas stimme mit der Else nicht, munkelte man im Dorf, vermutlich lag es daran, dass sie noch einer anderen Liebe nachtrauerte, die sie in den Bombenjahren verloren hatte. Oder es lag am Franz, sagten die anderen, schließlich war ihm bewusst, dass er die Verlobte eines anderen zunächst begehrt und schließlich geehelicht hatte. Sicherlich nahm ihm das schlechte Gewissen die Manneskraft, flüsterten die Spötter hinter vorgehaltener Hand.

Reinhold wuchs zu einem kräftigen Burschen heran. Er war ein fleißiger und guter Schüler. Seinem Vater ging er beim Schafscheren und bei der Herstellung des Ziegenkäses stets zur Hand. Für den Hof war er unersetzlich und sein Vater versicherte ihm nahezu jeden Tag, dass er, sobald er alt genug dafür sei, der rechtmäßige Besitzer der Schildhütte werden würde. Reinhold war seinem Vater dankbar, doch winkte er stets ab, zum Altwerden hätten die Eltern ja noch später Zeit.

*

Es war im Jahre 1995, Reinhold war gerade fünfundzwanzig Jahre alt geworden, als eines Tages der Pfarrer schnaufend und mit vor Kälte geröteter Nase zur Schildhütte kam und Franz einen Brief in die Hand drückte. Zwei Wochen zuvor war Franz’ einziger Bruder Horst verstorben, nachdem er mal wieder allzu tief ins Glas geschaut hatte und mit dem Auto vom vereisten Weg gerutscht war. Das Auto hatte sich bei dem Unfall überschlagen, der Onkel war noch aus dem Auto gekrochen, dann aber liegen geblieben und erfroren. Gehen hatte er nicht mehr gekonnt, der Aufprall hatte ihm beide Beine gebrochen. Tags darauf hatte ihn eine Frau tot im verschneiten Abhang gefunden.

Franz hatte den Pfarrer in die Schildhütte gebeten, ihm einen Schnaps angeboten und gefragt, was denn nun schon wieder passiert sei, schließlich hatten sie doch gerade erst seinen Bruder, Gott hab ihn selig, zu Grabe getragen.

»Da, schau in den Brief, Franz. Dein Junge hat geerbt. Das war der letzte Wille vom Horst«, antwortete der Pfarrer, leerte das Schnapsglas in einem Zuge und rieb sich die roten Hände.

Franz nahm den Brief entgegen, riss ihn auf und las das Testament seines Bruders langsam und aufmerksam durch. Ja, der Pfarrer hatte die Wahrheit gesagt, der Hof oberhalb des Dorfes Martell gehörte nun seinem Sohn. Horst hatte keine Kinder gehabt und so wäre er, Franz, der nächste Erbe gewesen. Da die Brüder aber nach einem Streit in jungen Jahren keinen Kontakt mehr miteinander pflegten, wunderte Franz die Entscheidung seines Bruders nicht.

Er rief seinen Sohn zu sich, befahl ihm, sich hinzusetzen, und legte ihm das Testament hin: »So, Bub, jetzt bist du Hofbesitzer. Der Horst hat dir seinen Saustall hinterlassen.«

Reinhold hatte erst ungläubig seinen Vater, dann den Pfarrer und zum Schluss das Testament angestarrt. »Wie? Hofbesitzer? Ich?«

»Ja, da steht’s, schwarz auf weiß. Der letzte Willen vom Horst. Na dann, viel Glück, Bub«, polterte Franz, setzte das Schnapsglas noch einmal an und verließ dann die Stube.

Reinhold sah seinem Vater nach. War er nun wütend auf den eigenen verstorbenen Bruder, weil er nicht ihm, sondern dem Neffen den Hof vererbt hatte? Und warum hatte er ihm Glück gewünscht? So recht wusste Reinhold nicht, was er davon halten sollte. Aber der letzte Wille war nun eben der letzte Wille, daran war nicht zu rütteln. Da konnte der Vater sich noch so sehr aufregen, der Hof vom Horst gehörte nun ihm. Reinhold sah den Pfarrer fragend an.

Der antwortete nur: »Wenn du was brauchst, kommst du am Sonntag zur heiligen Messe. Weißt ja, wo sie stattfindet.« Dann hatte er sich noch einen Schnaps eingeschenkt, ihn wiederum in einem Zug geleert und war aus der Hütte gegangen.

Reinhold stellte sich ans Fenster und sah dem schimpfenden Pfarrer nach, dem im Sturm die Kappe davongeflogen war.

Tags darauf ging Reinhold selbst in den Ort hinunter, um seinen neuen Besitz zu begutachten. Beim Anblick des Hofes stellten sich Reinhold die Nackenhaare auf. Der erste Gedanke war, das Erbe sofort abzulehnen. Der Garten und das riesige Erdbeerfeld waren verwildert. Wo einmal Kartoffeln, Kürbisse, Tomaten und Salat angebaut worden waren, hatte nun meterhohes Unkraut das Kommando übernommen. Wilde Brombeeren waren gewachsen, ihre vertrockneten stacheligen Ranken waren überall, das Gemüsebeet glich einem grauweißen Urwald. Die Scheune wollte er gar nicht betreten, er hatte Angst, dass sie beim Öffnen des Tores in sich zusammenbrechen würde. Das Erdbeerfeld hinter dem Haus lag brach. Als er sich ihm näherte, konnte er eine streunende Katze beobachten, die gerade eine riesige Maus gefangen hatte. Oder war es gar eine Ratte? Sie fauchte, als sie ihn sah, und verschwand mit ihrer fetten Beute im Gestrüpp.

Der Zustand der Beete wurde vom Stall übertroffen: Horst hatte Vieh gehalten, vier Milchkühe und einen Bullen. Reinhold hatte den Onkel zugegebenermaßen seit einigen Monaten nicht mehr gesehen und auch nicht mehr von ihm reden gehört. Hätte er sich nur einmal erkundigt, dachte er, als er den Stall betrat und – vom Verwesungsgestank benommen – wieder rückwärts hinaustaumelte. Vom Zuchtbullen war keine Spur, vermutlich hatte Horst ihn verkauft. Von den vier Kühen waren nur noch zwei übrig, deren verendete Leiber nun im Stall lagen und verwesten. Ein schrecklicher süßer Geruch hatte sich breitgemacht, überall surrten Schmeißfliegen herum.

Reinhold konnte sich nicht beherrschen, er rannte davon und übergab sich hinter dem Stall. Mit so einem grausigen Nachlass hatte er beim besten Willen nicht gerechnet. Auch um das Wohnhaus war es nicht gut bestellt. Die Stube glich einer wüsten Kellerei, überall lagen leere Schnaps- und Weinflaschen herum. Der Onkel schien sich in der letzten Zeit nur noch vom Alkohol ernährt zu haben. Die Speisekammer war voller verdorbener Lebensmittel, im winzigen Schlafzimmer des Onkels wimmelte es nur so von Ungeziefer. Als Reinhold in den Dachboden des Hauses ging, um sich dort umzuschauen, knirschten die Dielen erst warnend, dann brach das Holz unter seinem Gewicht entzwei und er landete im Bett des Onkels, das sich genau unter dem Dachboden befand. Reinhold war gehörig erschrocken und hatte auch ein paar Schrammen abbekommen, aber das verwanzte Bett hatte ihm in diesem Moment wohl die Knochen gerettet, und so entschied er, es als einziges Möbelstück zu behalten. Den Rest der Möbel würde er gleich morgen zur Mülldeponie fahren lassen.

Im kommenden Jahr war Reinhold damit beschäftigt, den Hof wieder auf Vordermann zu bringen. Aus dem Vorhaben, die Möbel gleich am nächsten Tage abholen zu lassen, wurde natürlich nichts, der Container wurde erst im Januar geliefert. Immerhin kam am nächsten Morgen der Lkw des Abdeckers vorgefahren, um die beiden toten Kuhleiber aus dem Stall zu holen. Reinhold hatte ja schon vieles in seinem jungen Leben gesehen und war eigentlich den Anblick toter Tiere gewohnt, doch der Verwesungsgestank und die schwarzen Fliegenschwärme, die bei der Bergung der beiden Tiere aufstiegen, übertrafen seine Vorstellungskraft und stellten seinen Magen erneut auf eine harte Probe.

»Was wird jetzt aus den beiden?«, fragte er den Abdecker mit zugehaltener Nase.

»Seife, wo noch was rauszuholen ist. Der Rest wird verbrannt. Man sieht sich«, sagte der Mann und streckte ihm die Hand entgegen, mit der er gerade seine grausige Arbeit verrichtet hatte.

Reinhold gab ihm angewidert die Hand – auch wenn er nur aus Dankbarkeit einschlug. »Hoffentlich nicht«, murmelte er, als der Abdecker vom Hof fuhr.

Kapitel 2

April 1995

Es war im April des Jahres 1995, als Reinhold seine zukünftige Frau Marie kennenlernte. Reinhold war nach Mals gefahren, um auf dem Georgimarkt junge Pflanzen zu kaufen. Das Feld hinter seinem Haus hatte die ganzen Jahre seit seinem Einzug in das alte Bauernhaus brach gelegen, die Arbeiten im Haus und im Stall hatten den jungen Mann viel zu sehr auf Trab gehalten, als dass er sich auch noch um die Beete hätte kümmern können. Überhaupt waren ihm seine Schafe und Ziegen viel wichtiger als all das Obst und Gemüse, doch seine Mutter Else hatte ihm seit geraumer Zeit in den Ohren gelegen, er solle nun endlich den fruchtbaren Boden nutzen, so gutes Obst und Gemüse wie das vom Horst habe sie seit seinem Tod nicht mehr gegessen. Man könne es schließlich für den Winter einkochen oder auf dem Markt verkaufen … oder der eigenen Mutter schenken, hatte sie lächelnd gesagt.

Reinhold hatte seine Einkäufe schnell erledigt, er hatte beim erstbesten Stand angehalten und der jungen Gärtnerin die verschiedensten Pflänzchen abgekauft. Tomaten, Salat, Kohlrabi, Bohnen, einige Gewürze und auch ein paar Erdbeerpflanzen, obwohl es noch viel zu früh war, sie zu pflanzen, schließlich war im April der Boden im Martelltal noch tiefgefroren. Die junge Verkäuferin mit den langen schwarzen Haaren hatte ihn nur kurz angesehen und nahezu wortlos bedient, nicht etwa, weil sie unfreundlich, sondern weil sie sehr schüchtern war. Auch Reinhold war kein besonders redseliger junger Mann und froh darüber, mit der Dame nicht auch noch einen Anstandsplausch halten zu müssen. Sie überreichte ihm die Quittung und die Kisten mit Setzlingen, Reinhold nahm sie entgegen und bedankte sich. Das restliche Geld steckte er in die Tasche und beschloss, sich am Getränkestand doch noch einen Kaffee zu genehmigen, bevor er nach Hause fahren würde, um die Pflanzen ins Warme zu bringen. Er hatte eigens für sie ein kleines Treibhaus neben dem Stall aufgestellt, damit sie in diesem eiskalten Frühling nicht erfroren. Im Mai würde er sie setzen.

Richtig sündig kam er sich vor, als er die Tasse mit heißem Kaffee entgegennahm, Milch und Zucker dazugab und sie dann genüsslich im Stehen trank. Solchen Firlefanz hätte sein Vater nie gemacht. Reinhold fühlte sich plötzlich wie ein Mann von Welt und beobachtete das bunte Treiben auf dem Pflanzenmarkt, der jedes Jahr im April stattfand. Gemüse, Kräuter, kleine Bäume, Rosen, eine wahre Pracht, obwohl es im April noch empfindlich kalt war. An anderen Ständen wurden Werkzeug, Holzspielzeug und Handarbeiten verkauft. Gegenüber von dem Stand, an dem er sich seinen Kaffee gegönnt hatte, bot ein Gärtner seine Geranien an. »Geranien, Geranien, Geranien …«, dachte Reinhold. Er hatte einen Balkon, den er eigentlich schmücken sollte. Ein wenig Geld war ihm ja noch geblieben, da konnte er schon noch ein paar Pflanzen mitnehmen, um sein neues trautes Heim zu schmücken. Ohne Blumen wirke sein Hof verlassen, hatte Else im letzten Sommer gesagt und dann leise gebrummt: »Dem fehlt die Seele …«

Als Reinhold sich darauf ein wenig genauer bei den Nachbarsleuten umgeschaut hatte, war ihm aufgefallen, wie recht seine Mutter hatte. Alle hatten sie die »Brennende Liebe« vor ihren Häusern wachsen, sie strahlten in Rot, Weiß und Violett und zeigten so ihre Liebe und Treue zum Vaterland. Damals, 1939, so hatte Else ihm erklärt, als seine Großeltern bei der Option vor die Wahl gestellt wurden, ob sie das Land verlassen oder bleiben wollten, hatten sie sich entschieden zu bleiben, obwohl ihnen nichts Gutes versprochen worden war. Zum Beweis hatten sie trotz der Widrigkeiten jener Jahre ihren Balkon und den Herrgottswinkel in der Stube immer mit roten Geranien geschmückt. Genauso hatte es später auch Else getan, dem kalten Wetter des Hochtals zum Trotz, denn der Frühling und der Sommer waren dort oben Gäste, die schnell wieder das Weite suchten.

Reinhold nahm also seine Erdbeerpflanzen, kaufte noch zwanzig Geranien dazu und ließ sich eine Schubkarre leihen, um seine Einkäufe zum Auto zu bringen, das er außerhalb des Marktgeländes geparkt hatte. Als er an dem Stand der jungen Erdbeerverkäuferin vorbeiging, stand dort an ihrer Stelle eine ältere Frau und schwatzte eifrig mit einer Kundin. Reinhold ging weiter und schob seine Einkäufe vorsichtig vor sich her, um die jungen empfindlichen Pflanzen nicht kaputt zu machen. Seinen Jeep hatte er an einer Hauswand geparkt, inzwischen stand links neben ihm ein Auto, der Fahrer hatte ihm kaum Platz gelassen. Er belud die Ladefläche, ließ gedankenverloren die Schubkarre neben dem Auto stehen, zwängte sich ächzend auf den Fahrersitz und setzte zurück. Dann wendete er, er musste achtgeben, niemanden über den Haufen zu fahren, und fuhr los. Zwei Straßenecken weiter fiel ihm ein, dass er die Schubkarre dem rechtmäßigen Besitzer hätte zurückbringen müssen, und schlug sich gegen die Stirn.

Als er wieder am Parkplatz war, stand die Schubkarre nicht mehr dort, wo er sie vergessen hatte. Reinhold fluchte, das würde ihn teuer zu stehen kommen. Er parkte, stieg hastig aus und sah im Gedränge die junge schwarzhaarige Frau, die ihm die Erdbeerpflanzen verkauft hatte. Sie schob die Karre über den erdigen Boden und musste ein paarmal stehen bleiben, weil sie sich im Schlamm festgefahren hatte. Na warte, dir werd’ ich’s zeigen, knurrte Reinhold und rannte ihr hinterher. Die junge Frau lief aber nicht zum eigenen Stand, sondern bog links zu dem Geranienverkäufer ab. Sie grüßte den Verkäufer mit einem schüchternen Winken, stellte die Schubkarre ab und ging dann wieder zu ihrem Stand. Reinhold wusste nicht recht, was er tun sollte. Das Einzige, was ihm in diesem Moment richtig erschien, war, sich beim Händler zu entschuldigen.

Dieser sagte: »Ist nicht schlimm, nächstes Mal denkst halt dran. Nur gut, dass die Marie immer ein waches Auge hat.«

Reinhold kramte den letzten 5000-Lire-Schein aus seinen Taschen hervor, drückte ihn dem Händler in die Hand und bat ihn um eine weitere Geranienpflanze, die er ihr zum Dank schenken würde.

»Soso«, meinte er, »dann hast du wohl deine brennende Lieb’ gefunden …«

Reinhold bedankte sich, entschuldigte sich noch einmal für seine Vergesslichkeit und ging erneut zum Stand, an dem er die Pflänzchen gekauft hatte. Die junge Frau band gerade ihre Schürze und zählte den Kassenbestand, als er ihr schüchtern die Pflanze in ihrem erdigen Töpfchen entgegenstreckte. Sie blickte von der Kasse auf, sah erst die grüne Pflanze, dann Reinhold an und wurde rot.

»Danke, dass du die Karre zurückgebracht hast«, stammelte dieser, »ich hab sie in der Eile ganz vergessen.«

»Schon recht«, flüsterte sie und wagte noch einen kurzen Blick in Reinholds blaue Augen, senkte dann aber gleich wieder den Kopf und schloss sanft die Kasse.

»Die ist für dich«, sagte er und wedelte mit der Pflanze vor ihrer Nase herum, »… als Dankeschön.«

Marie nahm Reinhold die Blumen ab und stellte sie vorsichtig auf ihren kleinen Tisch. Sie wusste nicht recht, was sie noch sagen sollte, schließlich hatte sie ja nur dafür gesorgt, dass ihr Nachbar seine Schubkarre wiederbekam. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass der vergessliche junge Mann zurückkehren und ihr Blumen schenken würde. Da ihr keine passenden Worte einfielen, blieb sie einfach still und sah ihn weiter an, ohne ihm dabei zu sehr in die Augen zu starren. Ihre Mutter hatte ihr beigebracht, dass sich dies für junge Mädchen nicht schickte.

»Nun, dann werde ich mal wieder heimfahren. Danke noch mal. Wie heißt du denn?«

»Ich bin die Marie von Katharinaberg in Schnals«, antwortete sie artig, genau wie es sich Fremden gegenüber gehörte.

»Ich bin der Reinhold. Von Martell. Ich wünsch dir einen schönen Tag, Marie. Vielleicht sieht man sich ja mal wieder.«

»Ja, wer weiß. Auf Wiedersehen«, flüsterte sie und berührte vorsichtig die noch geschlossenen Geranienblüten.

*

Marie stammte aus einer fünfköpfigen Familie, die seit jeher in Katharinaberg im vorderen Schnalstal gelebt hatte. Ihr Vater war bei einem Unfall im Wald verstorben, als Marie gerade mal sieben Jahre alt gewesen war. Im späten Herbst hatte er mit seinen Brüdern und Vettern ein paar Bäume gefällt. Sie schlugen junge kräftige Bäume, die im Winter ordentlich Brennholz abgeben würden, und auch ein paar alte morsche Stämme, damit sie nicht unter der Last des Schnees brachen und unkontrolliert ins Tal rutschten. Die Arbeit war schon fast getan, als Hans Leitner feststellte, dass er sein Beil im Wald liegen gelassen hatte. Er ging noch einmal alleine durch das steile Waldstück und suchte nach seiner Axt. Als er sich wieder auf den Rückweg machte, merkte er vermutlich, wie sehr ihn die Blase drückte, und wollte sich hinter einem Baum erleichtern. Dabei glitt er auf dem vereisten Waldweg aus und stürzte in die Tiefe, wobei er fast seine Hose verlor und sich das Genick brach.

Die anderen beiden Männer hatten sich bereits ins Auto gesetzt, den Flachmann angesetzt und den Wagen gestartet. Durch das Motorengeräusch hatten sie Hans’ Hilfeschrei nicht gehört. Erst als er eine halbe Stunde später nicht auftauchte, machten sich die Männer auf die Suche nach ihrem Vetter und fanden ihn mit gebrochenem Genick und zerrissenen Hosen auf dem eisigen Waldboden. Auf der Rückfahrt aus dem Wald befanden sich auf dem Anhänger nicht nur die meterlangen Baumstämme, sondern auch der Leichnam von Maries Vater, der gerade einmal zweiunddreißig Jahre alt geworden war.

Hans Leitner hinterließ seine Frau Elisabeth und drei Kinder: Katharina, mit ihren zwölf Jahren die Älteste, Lenz, der damals zehn Jahre alt gewesen war, und die kleine Marie. Es folgten harte Zeiten für die Leitners, nun musste die junge Mutter ihre drei Kinder alleine aufziehen und sich gleichzeitig um den Hof kümmern. Eine neue Heirat kam für Elisabeth nicht infrage; zu sehr litt sie unter dem Verlust ihres geliebten Ehemannes. Soweit Marie zurückdenken konnte, hatte sie ihre Mutter nach jenem Samstag im Winter nur noch in schwarzer Kleidung gesehen. Tagein, tagaus, zu jeder Jahreszeit: Elisabeth trug Trauer. Sie erzog ihre Kinder mit liebevoller Strenge, schließlich musste sie nun auch den Vater ersetzen. Jeden Sonntag, wenn die heilige Messe am späten Vormittag vorbei war, blieb die »schwarze Liese«, wie sie sie nun im Dorf nannten, noch eine Weile in der Pfarrkirche sitzen, die auf dem hohen Felsen über dem Eingang des Schnalstals thronte. Sobald die Gläubigen das Kirchlein verlassen hatten, kniete sie vor der Jesusstatue nieder, die angeblich ein Blinder geschnitzt hatte.

Marie hatte sich nie in die Nähe dieser Statue gewagt, das viele Blut auf dem kauernden Körper und der leidende Gesichtsausdruck des Gottessohnes machten ihr große Angst. Die drei Geschwister warteten immer auf ihre Mutter, die einfach nicht aufhören wollte, den Jesus des blinden Mannes anzubeten. Meistens wischte sie sich nach ihrem Gebet verstohlen ein paar Tränen von den Wangen, nahm ihre drei Kinder bei den Händen und führte sie am Pfarrer vorbei aus der Kirche hinaus. Ohne das Haupt zu heben, gingen sie gemeinsam durch die kleine Menschenmenge die Straße entlang bis zu ihrem Hof, der sich ein paar hundert Meter oberhalb der Dreihundertseelengemeinde befand.

Eines Tages hatte Marie den Mut aufgebracht, ihre Mutter zu fragen, warum sie denn immer vor dem Jesus stehen bleibe, den der blinde Mann geschaffen hatte.

»Der Mann, der das Bildnis geschaffen hat, war nicht blind. Er sah Jesus mit dem Herzen. Ich bete zu diesem Bildnis, um euren Vater mit meinem Herzen sehen zu können und nicht blind zu werden wie die Männer, die im Wald nicht auf ihn achtgegeben haben.«

Nach dieser Erklärung gab sich Marie redlich Mühe, die Dinge um sich herum nicht nur mit den Augen, sondern auch mit ihrem Herzen wahrzunehmen. Sie nahm sich fest vor, niemals zu erblinden und immer aufmerksam zu sein. Als sie nun die kleine Geranie vorsichtig wiederaufnahm, um sie in ein Tuch zu wickeln, musste sie erneut an die Jesusstatue des blinden Mannes und die Erklärung ihrer Mutter denken. Es war schon gut, die Dinge immer im Blick zu haben – selbst wenn es sich nur um die Schubkarre des Nachbarn handelte.

Kapitel 3

Dezember 1995

Noch im selben Jahr, nachdem Reinhold seine Marie auf dem Georgimarkt in Mals kennengelernt hatte, entschied er, um ihre Hand anzuhalten. Oft hatten sie sich in der Zwischenzeit nicht gesehen, schließlich lag eine gute Autostunde zwischen den beiden Höfen und die alltäglichen Aufgaben ließen den beiden jungen Menschen nur wenig Freizeit. An diesem Abend zum ersten Advent aber würde es so weit sein. Reinhold hatte sich rasiert, stand in seinem kleinen Badezimmer vor dem Spiegel, versuchte noch einmal seine braunen Locken zu bändigen und versprach seinem Spiegelbild immer und immer wieder seine ewige Liebe und Treue. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er längst auf dem Weg zu Marie sein sollte, also warf er sich schnell den Janker über und schlüpfte in die guten Schuhe, die sofort an den Füßen kniffen. Kaum saß er im Auto, sehnte er sich nach seinen derben Stiefeln, die er sonst jeden Tag trug. Nach dem dritten Versuch sprang sein Wagen endlich an und er fuhr die Kehren durchs Martelltal hinunter, auf der Staatsstraße an Latsch und Kastelbell vorbei und bog schließlich links ab, um ins Schnalstal und zu Marie zu gelangen. Bereits in den ersten Kehren trieb der Wind die Flocken vor seinem Auto wild durcheinander. Einige Kilometer weiter tauchte endlich das Schild zu Katharinaberg auf und sein Jeep tuckerte behäbig die letzten Kehren hinauf.

Zehn Minuten später stand Reinhold vor Maries Haustür. Nervös rieb er sich die Hände und klopfte erst zaghaft, dann lauter an die Tür. Nichts regte sich, nicht einmal der Hund bellte. Er klopfte erneut, rief ihren Namen. Stille und Dunkelheit umgaben ihn, er legte das Ohr dicht an die Tür, da hörte er, wie das Licht angeschaltet wurde. Noch einmal wummerte er an die Tür, als er endlich die dumpfe Stimme von Maries Mutter vernahm. Die Frau öffnete, hielt die Haustür aber nur einen Spalt auf, vermutlich hatte sie Angst vor dem unbekannten Gast.

»Was wollen Sie?«

»Ich wollte zur Marie. Ist sie nicht zu Hause?«

»Wer sind Sie?«

Reinhold wurde bewusst, dass er für Maries Mutter ein Fremder war. Schließlich stand er zum ersten Mal vor Maries Tür, sie hatte ihn ihrer Mutter noch nicht vorgestellt. Elisabeth Leitner musste etwa fünfzig Jahre alt sein, aber in ihrem dunklen Schlafrock und mit ihrem faltigen Gesicht hinterließ sie bei Reinhold den Eindruck, dass sie Maries Großmutter sei. Sie blickte den jungen Mann kritisch an. Im fahlen Licht sah er, dass ihr linkes Auge grau vom Star war.

»Ich bin der Reinhold. Ich wollte die Marie heute Abend ausführen. Ist sie nicht zu Hause?«

»Naa, die ist ins Tal hinuntergefahren, einen jungen Mann treffen. Ich weiß nicht, wann sie wiederkommt. Da kommen Sie wohl zu spät. Wiederschauen.«

Weitere Fragen erlaubte Maries Mutter nicht. Sie schloss die Tür leise und schaltete das Licht wieder aus. Reinhold konnte nicht fassen, was er da hörte. Ihn packte die blinde Wut. Dieses Weibsbild hatte ihm die ganze Zeit etwas vorgegaukelt. Von wegen große Liebe, von wegen ewige Treue. Deshalb hatte sie ihn nie zu sich nach Hause gebeten, da war noch ein anderer Mann, der um sie warb. Nun hatte sie sich für einen anderen entschieden und ihm Hörner aufgesetzt, bevor er sie überhaupt hatte fragen können. Leise fluchend und mit Zornestränen in den Augen stolperte Reinhold die schneenassen Treppen hinunter, ging zu seinem Auto und fuhr die Serpentinen ins Tal zurück.

Ein paarmal musste er anhalten, so weh tat die Eifersucht. Sein Herz schien in Stücke zu zerspringen, wenn er daran dachte, wie Marie nun bei einem anderen saß oder vielleicht sogar schon in seinen Armen lag. Wie hatte er sich nur so sehr in ihr täuschen können. Dann war ihre ganze Schüchternheit nur ein Schauspiel gewesen, in Wahrheit hatte sie ihn einfach nur zappeln lassen. Er ließ das Schnalstal und den Sturm hinter sich und schwor sich, nie wieder nach Katharinaberg zurückzukehren. Er hätte auf seinen Vater hören sollen, der ihm geraten hatte, die Frau fürs Leben im eigenen Tal zu suchen. Wie dumm war er nur gewesen, zu glauben, dass eine hübsche junge Frau wie Marie auf ihn warten würde, der nie Zeit für die schönsten Dinge im Leben hatte? Nun, das hatte er jetzt davon.

Er bog wieder auf die Staatsstraße ab, Schnee und Wind hatten nachgelassen. Bei Goldrain bog er ins Martelltal ab und lenkte seinen Wagen über die Serpentinen in Richtung des Dorfes Martell. In der dritten Kehre sah er einen kleinen grauen Wagen an der Leitplanke stehen. Reinhold fuhr im Schritttempo an dem stehenden Fahrzeug vorbei und sah, dass die Motorhaube offen stand. Eine kleine Gestalt hatte sich über das Innenleben des Autos gebeugt. Reinhold wollte schon weiterfahren, ihm war nun wirklich nicht danach, nach dieser Erfahrung auch noch einen kochenden Kühler zu reparieren. Doch dann packte ihn das Mitleid und er hielt an. Beim Aussteigen erkannte er Marie.

»Na, ist die Reise zu deinem Liebsten hier schon zu Ende?«, fragte er laut, als er auf sie zuging. Im Licht der Scheinwerfer sah er, dass sie geweint hatte.

»Ja, er war nämlich nicht zu Hause, so wie wir es vereinbart hatten«, antwortete sie trotzig.

»Nun, da haben wir etwas gemeinsam. Statt auf mich zu warten, ist meine Liebste ausnahmsweise einfach mit einem anderen ausgegangen. Marie, ruf den Abschleppdienst und scher dich zum Teufel.«

»Wovon sprichst du? Überhaupt, wie redest du mit mir? Wo warst du? Ich bin bis zu deinem Hof gefahren, genau wie wir es ausgemacht hatten. Du warst nicht da, dein Nachbar hat nur gesagt, dass du heute Abend eine junge Frau bezirzen wolltest, so wie du dich rausgeputzt hättest. Wie heißt sie denn? Ist sie eine bessere Partie als ich?«, schrie sie und trommelte dabei auf Reinholds Brust, der endlich seinen Irrtum erkannte und Marie an sich drückte. Plötzlich musste er vor Erleichterung so laut lachen, dass Marie verdutzt innehielt und ihn anstarrte.

»Ich wollte doch zu dir, Marie. So fein gemacht habe ich mich nur, weil ich mit dir über etwas ganz Wichtiges sprechen wollte. Komm, setz dich ins Auto, deinen Wagen holen wir morgen früh ab. Kommst mit zu mir, ja? Nur heute Nacht?«

Kapitel 4

Juni 1996

Marie stand in ihrer dunklen Kammer vor dem Spiegel und starrte sich an. Noch trug sie ihre Alltagskleidung, die, mit der sie den Stall ausmistete und das Vieh molk. Ihre Hochzeitstracht hing bedrohlich an einem Bügel und verdeckte den halben fichtenhölzernen Schrank. Marie hatte Angst. Sie war glücklich, schließlich liebte sie Reinhold. Sie hatte sich die ganze Zeit nichts sehnlicher gewünscht, als seine Frau zu werden, aber nun, wo es so weit war, wollte sie nur noch flüchten. Sie sah auf die Wanduhr, sie hatte noch gute zwei Stunden Zeit, dann würden die Kirchenglocken unten im Dorf läuten und sie zur Kirche rufen. Pünktlich zum Läuten würde ihr Bruder in ihrem Zimmerchen auftauchen, sie würde sich bei ihm unterhaken und sich von ihm durch das Haus, den Hof, das Dorf und schließlich zum Altar führen lassen. Langsam würde sie die schmale Treppe hinuntergehen. Dabei würde sie aufpassen müssen, nicht aus Versehen zu stolpern. Bei dem Gedanken, die schmale Treppe hinunterzufallen, schauderte Marie.

Plötzlich stand ihre Mutter in der Tür. Sie hatte das Knarren der Dielen nicht wahrgenommen, zu sehr war sie damit beschäftigt gewesen, ihr Spiegelbild anzusehen und sich für die eigene Angst zu rügen.

»Kind, was ist? Magst du das Gewand nicht anziehen? Wie schauen denn deine Haare aus, Marie? So zerzaust kannst mir aber nicht vor den Altar treten. Was soll denn dein Mann denken?«, fragte sie streng und nahm die Bürste in ihre Hand.

Marie wusste, dass ihre Mutter es nicht allzu ernst meinte, die Gedanken der anderen Leute waren ihr immer gleich gewesen. Sie schielte zu ihr hinüber, um ihr verschmitztes Lächeln zu sehen. Dabei bewegte sie sich keinen Zentimeter vom Spiegel weg.

»Geh her da«, befahl Elisabeth und schob ihr den Stuhl hin. Dann begann sie, das lange, glatte schwarze Haar ihrer Tochter zu bürsten. Sie knüpfte es säuberlich zu einem Zopf und steckte ihn fest an ihrem Hinterkopf zusammen. Marie genoss die Berührungen ihrer Mutter, auch wenn sie dabei nicht gerade viel Feingefühl zeigte. Dennoch: Es waren vertraute Berührungen von Händen, die sie kannte und liebte. Gerade als Elisabeth die letzte Haarklammer an Maries Hinterkopf versteckt hatte, stand diese mit einem heftigen Ruck auf und rannte aus der Tür. Sie hörte, wie ihrer Mutter vor Schreck die Bürste aus der Hand fiel. Sie landete mit einem Poltern auf dem Dielenboden.

»Kind, was ist denn? Wart doch. Ich war noch nicht fertig«, rief die Mutter und stürzte ihr nach. Doch Marie war längst die Treppe zum Hof hinuntergerannt.

Das helle Tageslicht blendete sie, als sie sich wie eine flüchtige Schwerverbrecherin kurz auf der Straße umsah und diese dann hektisch überquerte. Hinter sich hörte sie die Stimme ihrer Mutter, die sich aus dem Küchenfenster gebeugt hatte und nach ihr rief. Marie drehte sich nicht um, sie brauchte ein paar Minuten an der frischen Luft, sie musste nur ein wenig durchatmen. Nur noch einmal zu meinen Kühen, dachte sie und rannte in Richtung Weide. Völlig außer Atem stand sie am Weidezaun, sie schnaufte und schwitzte in der Sommersonne. Dann ging sie langsam an ihm entlang und betrat die Weide. Sie nahm ihre Schuhe ab, spürte das weiche Gras unter ihren Fußsohlen. Sie atmete tief durch, eine Mischung aus dem Duft von Kuhfladen und Sommerblumen machte sich in ihrer Nase breit. Schon wurde ihr leichter ums Herz. Langsam lief sie weiter, auf die vier Kühe zu, die friedlich grasten und wiederkäuten.

Sie verscheuchte Reinholds Bild, das sie seit Tagen vor Augen hatte, und versuchte angestrengt, an ihre Kindheit zu denken. Sie wollte das Bild ihres Vaters heraufbeschwören, doch sie sah nur die alten Fotografien vor sich, die nichts mit leibhaftigen Erinnerungen zu tun hatten. Wie er wohl gewesen ist? Ob er ein guter Ehemann war? Die Mutter hatte immer mit Tränen in den Augen von ihm gesprochen, sie musste ihn sehr lieb gehabt haben. Einen anderen hatte sie danach auch nicht gewollt. Wie es wohl sein würde, mit Reinhold zusammenzuleben? So recht konnte sie es sich nicht vorstellen. Überhaupt konnte sie sich gar nicht vorstellen, woanders als zu Hause zu leben. Sie würde Katharinaberg verlassen. Ihre Heimat, ihren Geburtsort, für immer. Nie wieder Weihnachten mit den Geschwistern und der Mutter, sondern nur zu zweit.

Bei dem Gedanken, die eigene Familie so trist beim Christbaum sitzen zu sehen, zog sich ihr Herz so fest zusammen, dass sie fast keine Luft bekam. Wenn die Mutter nun krank werden würde und Hilfe brauchte? Wer würde dann nach ihr sehen? Wenn sie es nicht mehr schaffte, rechtzeitig die Herztabletten zu nehmen? Wenn sie vor Kummer und Einsamkeit eingehen würde? Sie konnte die eigene Mutter doch nicht einfach im Stich lassen. Welcher Teufel hatte sie nur geritten, einer Heirat mit einem aus Martell zuzustimmen? Hätte sie sich denn nicht einen Mann aus dem Dorf suchen können, so wie alle anderen Frauen auch? Aber nein, sie hatte sich in einen Fremden verliebt und nun würde sie all dies hier verlassen müssen. Plötzlich musste sie weinen, die Tränen kamen einfach und ließen sich nicht aufhalten. Sie zitterte, fühlte sich elend, setzte sich nieder und legte den Kopf auf die Knie und ließ ihren Tränen freien Lauf.

»Junge Frau, geht es Ihnen nicht gut?«, fragte eine leise Stimme hinter ihr. Marie erschrak fast zu Tode und sah abrupt auf. Neben ihr stand eine Frau, ihr Haar war schlohweiß, ihr Gesicht vom Wetter und Alter zerfurcht. Sie hatte sich zu ihr heruntergebeugt wie eine Großmutter zu ihrem kleinen Enkelkind.

»Nein. Also, ja, mir geht es gut«, stammelte Marie.

»Warum dann all diese Tränen an einem so herrlichen Sommertag?«, fragte die Alte und zeigte ein nahezu zahnloses Lächeln. Trotz des Dufts nach Weide und Kühen roch Marie, dass die Kleidung der alten Frau nach Mottenkugeln stank.

»Nein, das kann ich Ihnen nicht sagen. Es ist nichts, wirklich. Ich muss jetzt auch wieder gehen. Danke, dass Sie sich gesorgt haben«, antwortete Marie höflich und stand auf, um sich das Gras vom Hosenboden zu klopfen.