Die Personen und die Handlung des Buches sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig. Ausnahmen hierzu finden Sie in unserem Personen-/ Ortsregister.

BIBLIOGRAFISCHE INFORMATION DER DEUTSCHEN NATIONALBIBLIOTHEK Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar: www.dnb.de

2018

Alle Rechte vorbehalten

© by Athesia Buch GmbH, Bozen

Umschlag: Nele Schütz Design, München

Design & Layout: Athesia-Tappeiner Verlag

Druck: CPI Moravia Books s.r.o.

ISBN 978-88-6839-352-6

www.athesia-tappeiner.com

buchverlag@athesia.it

Inhaltsverzeichnis

  1. Kapitel
  2. Kapitel
  3. Kapitel
  4. Kapitel
  5. Kapitel
  6. Kapitel
  7. Kapitel
  8. Kapitel
  9. Kapitel
  10. Kapitel
  11. Kapitel
  12. Kapitel
  13. Kapitel
  14. Kapitel
  15. Kapitel
  16. Kapitel
  17. Kapitel
  18. Kapitel
  19. Kapitel
  20. Kapitel
  21. Kapitel
  22. Kapitel
  23. Kapitel

1.

„Madoia“, schimpfte Amalia, als der Wagen vor ihr abbremste. Nervös trommelten ihre schlanken Finger auf das Lenkrad ihres geliebten feuerroten Minis. Wie immer war sie viel zu spät dran, und dieser saublöde Stau auf der Brennerautobahn nahm ihr die Hoffnung, es gerade noch pünktlich zu schaffen.

Amalia war die letzten beiden Wochen für eine Fotostrecke im Auftrag von „Harper’s Bazaar“ im Serengeti-Nationalpark im Norden von Tansania unterwegs gewesen. Die Fotos von den Models in festlichen Abendkleidern im Animal-Print vor der Kargheit der baumarmen Savanne und den verschiedensten Wildtieren im Hintergrund waren atemberaubend geworden. Sie hatte riesige Gnuherden, Löwen, Hyänen, Zebras und Elefanten bestaunen können. Am vorletzten Tag war ihr ein Schnappschuss von einem Massai, der das aufwendige Treiben mit Maskenbildnern, Designern und Stylisten fassungslos beobachtet hatte, gelungen. Der Kontrast zwischen der glamourösen Künstlichkeit der Models und der natürlichen Würde des Massai war überwältigend gewesen. Sie fand, dass diese Aufnahme zu den eindrucksvollsten ihrer Karriere zählte.

Nun hatte sie eigentlich zu Hause in aller Ruhe ihre Bilder auswerten wollen, aber dann bekam sie gestern früh am Flughafen von Nairobi vom Pfarrer ihres Heimatdorfes den verstörenden Anruf, dass ihre Oma nach einem Unfall verstorben war. Der arme Mann war ganz verzweifelt, da er anscheinend schon tagelang versucht hatte, sie zu erreichen, sie aber keinen Handyempfang gehabt hatte.

Der elfstündige Flug von Nairobi über Amsterdam nach Berlin war ihr schier unendlich vorgekommen. Mit Tränen in den Augen hatte sie aus dem Flugzeugfenster in das unendliche Blau des Himmels gestarrt. Ihre geliebte Großmutter war schon vor knapp einer Woche verstorben – und sie hatte nichts mitbekommen. Nach einer kurzen Nacht mit wenig Schlaf war sie heute in aller Früh von Berlin nach Südtirol zur Beerdigung aufgebrochen. Sie hatte das Auto nehmen müssen, da der erste Flug, auf dem Plätze frei waren, erst am Nachmittag in Innsbruck gelandet wäre.

Besorgt blickte sie wieder auf die Uhr im Armaturenbrett. Schon nach zwölf. „Mist, Mist, Mist!“ Sie hatte vorgehabt, noch rechtzeitig zum letzten Rosenkranz im Haus ihrer Oma anzukommen. Doch die Uhr tickte ohne Erbarmen weiter, und Amalia kroch mit unter 50 Stundenkilometern über den Brenner.

Sie kramte in ihrer großen Handtasche nach ihrem Schminkbeutel. Wenn sie schon in Schrittgeschwindigkeit dahinschlich, konnte sie wenigstens ihr Make-up für die Beerdigung auffrischen. Als sie ihren dunkelroten Lippenstift auflegte, dachte sie wie jedes Mal, dass ihre Oberlippe im Verhältnis zur Unterlippe zu schmal sei. Besser gefielen ihr ihre gerade schmale Nase und ihre hohen Wangenknochen. Allerdings waren die grünen Augen, die ihr aus dem Spiegel entgegensahen, müde und ausdruckslos. Hastig versuchte sie ihren Sonnenbrand auf der Nase, den sie aus Afrika mitgebracht hatte, zu überpudern. Heute sah man ihr jeden einzelnen Tag ihrer 30 Jahre im Gesicht an, dachte sie kritisch. Am Morgen hatte sie es nicht mehr geschafft, ihre Haare glattzuföhnen, sodass ihre dunkelbraunen, schwer zu bändigenden Locken bis weit über ihre Schultern fielen. Amalia band sie entschlossen zu einem strengen Knoten zusammen, weil sie fand, dass sie sonst viel zu salopp für den Anlass wirkte. Als sie noch schnell ihre Wimpern tuschen wollte, hupte der Idiot im Auto hinter ihr, sodass sie vor lauter Schreck einen schwarzen Strich auf ihre Stirn patzte. Fluchend fuhr sie an und kam nach zwei Metern wieder zum Stehen. Sosehr sie auch mit Taschentuch und Spucke rieb, der Strich verwandelte sich nur in einen unförmigen grauen Fleck.

„Bravo, heute verschwört sich wirklich alles gegen mich“, dachte sie genervt. Dabei lag das Schlimmste erst noch vor ihr. Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen, als sie sich vorstellte, dass sie in wenigen Stunden am Grab ihrer Oma Zille stehen würde.

Zille war bisher der wichtigste Mensch in ihrem Leben gewesen. Nachdem ihre Eltern bei einem Lawinenunglück ums Leben gekommen waren, hatte die Großmutter sie aufgezogen. Mit einem traurigen Lächeln dachte sie an die kleine, zierliche Frau, die mit ungeheurer Energie alles angepackt hatte, was sich ihr in den Weg stellte.

Wenn Amalia in einem Gespräch erwähnte, dass sie schon mit drei Jahren ihre Eltern verloren hatte, wurde sie meist mit Mitleid überschüttet. Doch sie selbst hatte nie das Gefühl, dass ihr etwas fehlte. An ihre Eltern konnte sie sich kaum erinnern, und ihre Oma hatte ihr eine sorglose, behütete Kindheit geschenkt. Wenn sie von der Schule nach Hause kam, wartete Zille mit einer heißen Schokolade, etwas Selbstgebackenem und vor allem mit einem offenen Ohr für ihre Erlebnisse, Sorgen und Nöte auf sie. Auf ihre pragmatische, unsentimentale Sichtweise, mit der sie Probleme betrachtet hatte, war immer Verlass gewesen. Mit Wehmut dachte sie an die vielen Wanderungen, Ausflüge und Bergtouren, die sie mit ihrer rüstigen Großmutter unternommen hatte. Zille hatte immer etwas zu erzählen oder zu zeigen gehabt.

Auch später, als Amalia von einem Leben in der großen weiten Welt träumte, hatte Zille sie unterstützt. Mit Stolz hatte sie den Weg ihrer Enkelin beobachtet, der diese weg aus Südtirol zuerst nach New York und später nach Berlin geführt hatte. „Die Jungen müssen hinaus in die Welt, die meisten zieht die Heimat dann schon wieder zurück“, hatte sie immer ruhig gesagt, wenn ein Dorfbewohner sie auf Amalias lange Abwesenheiten ansprach.

So offen Zille zuerst den vielen Reisen ihres Sohnes und später den Plänen ihrer Enkelin gegenüberstand, so eng war ihre Großmutter selbst mit ihrem kleinen Heimatort verwachsen. Hier hatte sie alles, was sie brauchte, um glücklich zu sein. Als ihre Großmutter Amalia einmal in Berlin besuchte, hatte die junge Frau genau gemerkt, dass Zille zuerst die Tage und schließlich die Stunden zählte, bis sie endlich wieder nach Pfunders zurückfahren konnte.

Daher war Amalia klar, wie wichtig es ihrer Oma gewesen war, dass auch nach ihrem Tod alles so ablief, wie es seit Generationen in Pfunders der Brauch war: Bis zur Beerdigung zu Hause in der Stube aufgebahrt, und jeden Abend würden die Leute vom Dorf kommen, um an ihrem Sarg den Sterberosenkranz zu beten. Amalia wusste, dass es ihre Pflicht gewesen wäre, während dieser Stunden, wenn die eintönigen Worte des Gebetes durch das Haus hallten, auf der Ofenbank zu sitzen und mitzubeten. Aber sie war nicht da gewesen. Und heute am Tag der Beerdigung kam sie auch noch zu spät. Allerdings hatte sie in gewisser Weise Glück gehabt. Der Pfarrer hatte ihr berichtet, dass wegen des Unfalls die Leiche obduziert werden musste. Sonst hätte die Beisetzung schon vor Tagen stattgefunden. Ohne sie.

Was für ein Unfall überhaupt …? Der Pfarrer war in diesem Punkt sehr vage geblieben. Auf einer Wanderung sei es passiert, hatte er lapidar verkündet und ihr dann den Termin für die Beerdigung mitgeteilt. War die alte Frau unglücklich gestürzt? Hatte sie einen Herzinfarkt erlitten?

Amalia hatte versucht, Hilda Raffeiner, die beste Freundin ihrer Großmutter, zu erreichen, um Genaueres in Erfahrung zu bringen, aber dann war ihr Flug aufgerufen worden und sie war nicht mehr dazugekommen, es noch einmal zu probieren. Wieder bedauerte sie das schlechte Timing. Wenn sie doch bloß früher von dem Unfall erfahren und sich selbst um alles hätte kümmern können. Sie fluchte nochmals aus voller Kehle.

Es war schon nach ein Uhr, als sie endlich um die letzte Kurve bog und man den ersten Blick auf die Pfundrer Kirche erhaschen konnte, die erhöht vor dem kleinen Bergdorf auf einem Hügel thronte. Der Himmel war milchig blau und der Kirchbichl lag im Sonnenlicht. Nachdem sie die ganze Fahrt über schwermütig an ihre Oma gedacht hatte, war dies der erste Moment, der ihre Stimmung hob. Die hohen Berge im Hintergrund, groß und erhaben, schenkten ihr wie immer Trost. Die mächtige Bergkulisse, die sich bis zu den beeindruckenden Dreitausendern der Zillertaler Alpen auftürmte, war immer gleich. Schon früher, als sie Pfunders verlassen hatte, um an der „School of Visual Arts“ in New York Fotografie zu studieren, hatte dieser erste Blick bei der Rückkehr auf ihr Heimatdorf sie immer tief berührt. Egal wie wichtig man sich selbst nahm, wie groß die Probleme schienen, die Berge zeigten einem wieder, wie klein und unbedeutend ein jeder Mensch war. Es gab ihr ein Gefühl der Sicherheit, dass es Dinge gab, die sich nicht veränderten, wie sehr ihr persönliches Leben auch gerade in Aufruhr war.

Sie holte beim Aussteigen tief Luft und strich das knielange, schlicht geschnittene schwarze Kleid, das mit einem schmalen Ledergürtel gehalten wurde, glatt. In den letzten Monaten hatte sie durch eine strikte kohlenhydratarme Ernährung einige Kilos verloren, sodass das Kleid endlich wieder locker saß.

Das schmale, im Südtiroler Stil erbaute Haus lag links an der Lärchstraße oberhalb des Letterhofs. Nervös schob sie die Tür zu dem kleinen Haus, in dem sie aufgewachsen war, auf. Schon im Flur standen dicht gedrängt Leute, die keinen Platz in der Stube gefunden hatten, und beteten den Rosenkranz. Amalia hielt inne und rang mit sich. Sollte sie hier im Gang bleiben und sich erst, sobald der Trauerzug das Haus verließ, unauffällig weiter vorne einreihen? Oder sollte sie in die Stube gehen, um ihrer Großmutter wenigstens während der letzten Momente in ihrem Haus nahe zu sein? Sie wusste, was Zille von ihr erwartet hätte. Also straffte sie ihre Schultern und drängte sich an den Menschen vorbei. Auf den alten Fliesen im Flur klackerten die Absätze ihrer High Heels furchtbar laut, und sie zog überraschte und auch verärgerte Blicke auf sich. Einige Bekannte nickten ihr stumm zu.

Als sie endlich in der Stube war, blieb sie wie erstarrt stehen. Auch wenn sie seit gestern wusste, dass Zille verstorben war und sie sich letzte Nacht in den Schlaf geweint hatte, war der Anblick des blumengeschmückten Sarges ein Schock, denn er vermittelte ihr die Endgültigkeit des Abschiedes. Man hatte die Vorhänge zugezogen und den Stubentisch aus dem Raum geschafft, damit genug Platz für den Sarg war. Zwei große silberne Kerzenleuchter mit brennenden Kerzen standen daneben und tauchten alles in ein flackerndes Licht.

Die Erkenntnis, dass ihre Oma nie wieder auf der Ofenbank sitzen und ein Kreuzworträtsel lösen würde, traf sie mit grausamer Wucht. Nie wieder würde sie, die grauen Haare streng zu einem Dutt zurückgebunden, sie über den Rand ihrer Lesebrille anschauen und geduldig darauf warten, was Amalia zu erzählen hatte. Nie wieder würden sich die gütigen blauen Augen belustigt zusammenziehen, wenn sie von den Albernheiten des Modebusiness berichtete. Wie gerne hätte sie sie noch ein einziges Mal gesehen. Amalia schluckte. Auf keinen Fall wollte sie vor den Anwesenden in Tränen ausbrechen. Sie blieb am Sarg stehen, legte ihre Hand auf das glatte Holz und begann, in den Rosenkranz einzustimmen. Automatisch formten ihre Lippen die Worte, die ihr Leben seit ihrer Kindheit begleitet hatten.

Schließlich machte der Vorbeter ein Zeichen, und die Sargträger hoben den Sarg auf den Rollwagen. Amalia konnte ein Schluchzen nicht länger unterdrücken. Nun verließ ihre geliebte Oma zum letzten Mal ihr Haus. Tränen verschleierten ihren Blick, als sie hinter dem Sarg den schmalen Hausgang hinausging. Der Weg zur Kirche schien kein Ende zu nehmen, denn ihre eleganten Schuhe waren für den stetig bergab führenden Weg komplett unpassend. Das war ihr natürlich klar gewesen, aber da sie erst um Mitternacht nach Hause gekommen war, hatte sie nur noch völlig übermüdet ein paar Kleidungsstücke in einen Koffer geworfen. Leider arbeitete ihr Verstand vor dem ersten Kaffee nur auf Sparflamme, und sie war beim Verlassen der Wohnung in die erstbesten Schuhe geschlüpft, die im Flur lagen. Als sie dann in Stöckelschuhen im Auto saß, hatte sie festgestellt, dass sie bereits viel zu spät dran war. Also beschloss sie kurzerhand, die Schuhe auszuziehen und barfuß zu fahren. Sobald sie in Pfunders angekommen war, würde sie die hochhackigen Schuhe im Leopardenprint durch schwarze Ballerinas austauschen, die sie für die Beerdigung ganz unten im Koffer verstaut hatte. Doch Zeit zum Umziehen war keine gewesen.

Ihre Füße schmerzten höllisch. Sie riss sich zusammen. Sie sollte sich schämen, während der Beerdigung ihrer Großmutter über Äußerlichkeiten nachzudenken. Aber sie konnte einfach nicht aus ihrer Haut. Dadurch, dass sie zusammen mit den engsten Freunden ihrer Großmutter und ein paar Großcousinen ganz vorne lief, hatte sie das Gefühl, dass sie von hinten von kritischen Blicken durchbohrt wurde. Wahrscheinlich würden sich später alle das Maul darüber zerreißen, dass sie zuerst zu spät gekommen und dann dem Sarg wie ein Storch hinterhergestakst sei. Entschieden schüttelte sie den Kopf. Und wenn schon. Hier ging es um ihre Oma, und alles andere war für den Moment nebensächlich. Sie stimmte wieder in den Rosenkranz mit ein.

Auf dem Weg zur Kirche wurde der Leichenzug immer länger, da an jeder Weggabelung, die sie passierten, einige Dorfbewohner warteten, um sich anzuschließen. Wann immer der Trauerzug an einem Holzkreuz am Straßenrand vorbeikam, wurde innegehalten und der Ablass gebetet. Beim Felder, einem Haus in der Nähe der Kirche, wurden sie von Pfarrer Auer für die Einsegnung erwartet. Danach ging es die letzten Meter zu der kleinen Barockkirche St. Martin, die erhöht auf dem Kirchbichl stand, steil bergauf.

Als die Gemeinde in der Kirche „Zum Paradies mögen Engel dich geleiten“ anstimmte, konnte sie die Tränen nicht länger zurückhalten. Sobald es wieder still wurde, wischte sie verstohlen ihre Tränen ab und sah sich um. Hilda, die neben ihr saß, hatte auch feuchte Wangen. Für einen kurzen Moment drückte die engste Freundin von Zille ihr die Hand. Amalia lächelte sie dankbar an. Der innige Augenblick wurde unterbrochen, als ein Handy laut zu klingeln begann. Im ersten Moment war Amalia empört. Welcher Vollidiot störte den Trauergottesdienst mit schnöder Technik? Aber dann erkannte sie den Klingelton: „Where the streets have no name“ von „U2“. Oh Gott! Das war ihr eigenes Mobiltelefon. Mit hochrotem Kopf suchte sie in ihrer großen Handtasche danach. Die Zeit, bis es ihr gelang, das Handy zum Verstummen zu bringen, kam ihr ewig lang vor. Als endlich wieder Stille in der Kirche eintrat, sah Amalia verschämt nach unten. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken.

Pfarrer Auer machte eine tragende Pause, und sie konnte förmlich seinen vorwurfsvollen Blick auf sich ruhen spüren. Dann begann er mit seiner sonoren Stimme, aus dem Leben der Cäcilia Huber zu erzählen. Sein Rückblick war detailliert und an manchen Stellen sogar überraschend humorvoll. Dankbar wagte sie nun doch, den Blick zu heben. Es tat gut, dass ihre Oma ein letztes Mal durch die einfühlsamen und treffenden Worte des Pfarrers allen in Erinnerung gerufen wurde. So wie sie gewesen war: tapfer und stark, als ihr Mann starb, mutig bei Bergtouren und beim Skifahren, liebevoll als Mutter und Großmutter, lustig und ausdauernd beim Feiern und stur, wenn es um lokale Politik oder ums Watten ging. Er beschrieb, wie Zille es trotz Widrigkeiten geschafft hatte – in einer Zeit, wo es nicht selbstverständlich war, dass Frauen arbeiteten –, sich einen Namen als Fotografin zu machen, und dass sie ihre Arbeit bis zuletzt mit Stolz und Leidenschaft ausgeübt hatte. Er endete mit den Worten: „Wir nehmen traurig Abschied von der Pfundra Bildomocharin.“

Die junge Frau schluckte. Zille war wirklich eine beeindruckende Person gewesen.

Nach dem Gottesdienst ging die Gemeinde hinaus auf den Friedhof, wo auf der Westseite der Pfarrer die Beisetzung vornahm. Der Friedhof von Pfunders hatte Amalia schon immer gefallen. Jedes Grab war mit einem Eisenkreuz geschmückt. Manche waren verschnörkelt, manche einfach, manche altmodisch, manche modern. Aber alle zusammen ergaben ein stimmiges Bild. Auf den meisten Gräbern, die liebevoll mit bunten Blumen bepflanzt waren, brannten rote Grablichter.

Amalia bekam eine Gänsehaut, als der Kirchenchor das „Magnificat“ sang. Als ihr schließlich die Trauergäste ihr Beileid aussprachen, verschwammen vor ihr die vielen bedrückten Gesichter zu einer undurchdringlichen Masse. Sie antwortete mechanisch auf die tröstenden Worte, fühlte sich aber mutterseelenallein. Nur als Hilda und später ihre Kindergartenfreundin Evi sie kurz in den Arm nahmen, fühlte sie ein wenig Wärme in ihr Herz zurückkehren.

Evi nahm sie im Auto mit zum Gasthof Brugger. Teilnahmslos schaute Amalia aus dem Fenster. Pfunders war ein typisches Südtiroler Bergdorf am Ende eines engen v-förmigen Tales. Das Zentrum mit der Kirche lag auf ungefähr 1.100 Metern, aber die prächtigen Bauernhöfe zogen sich bis weit über 1.500 Meter über die steilen grünen Hänge hinauf und lagen noch lange, nachdem das Tal im Schatten versunken war, im hellen Sonnenschein. Als sie nach kurzer Fahrt ihr Ziel erreichten, half ihr Evi liebevoll aus dem Auto. „Das schaffst du schon“, flüsterte sie ihr zu. Amalia lächelte dankbar.

Im hinteren Saal des Gasthofs war schon alles für den Leichenschmaus, das „Malile“, wie es in Pfunders heißt, hergerichtet. Auf jedem Tisch standen Wein und Wasser für die Gäste bereit, und wie üblich brachte die Tochter des Hauses für jeden Tisch eine große Schüssel mit dampfender Suppe. Amalia setzte sich neben Hilda. Überrascht stellte sie fest, dass sie richtig Hunger hatte. Die Gerstensuppe, großzügig mit Speck und Gemüse angereichert, duftete unwiderstehlich. Auch wenn sie sich in Berlin, wie die meisten ihrer Freundinnen, vegetarisch ernährte, gab es Momente, in denen man eine Ausnahme machen musste – und diese Suppe duftete einfach zu verführerisch. Speck hin oder her.

Als sie gerade den ersten Löffel zum Mund führen wollte, stieß Hilda sie grob in die Rippen. Amalia ließ den Löffel sinken und starrte ihre Tischnachbarin verwundert an. Mit dem Kinn wies diese zum Pfarrer, der gerade aufgestanden war, um das Tischgebet zu sprechen. Oje, sie war wirklich zu lange weg gewesen. Das hätte keine Pluspunkte gegeben, wenn sie als Einzige gegessen hätte, bevor gebetet worden war. Sobald der Pfarrer geendet hatte, griff ein jeder hastig nach seinem Löffel. Anscheinend war sie nicht die Einzige, die Hunger hatte.

Zuerst wurden nur gedämpfte Unterhaltungen geführt, aber nachdem die ersten Weingläser geleert worden waren, wurde die Stimmung entspannter, und man konnte vereinzeltes Lachen hören. Auch an ihrem Tisch ging es lebhaft zu. Einem jeden fielen Anekdoten und Geschichten zu Zille ein. Und als Amalia den anderen erzählte, wie ihre Oma in Berlin bei einer Modenschau im Umkleidebereich belegte Brote ausgepackt und die Models zum Essen genötigt hatte, weil an den armen Dingern ja gar nix dran sei, gab es lautes Gelächter.

„Die Bildomocharin war schun was Bsunders“, sagte Evi, „Ich habe dich manchmal beneidet. Euer Weiberhaushalt ist mir oft viel unterhaltsamer vorgekommen als das Chaos bei mir daheim.“

Evi war mit drei älteren Brüdern aufgewachsen, sodass es bei ihr zu Hause oft hoch hergegangen war. Aber das zierliche blonde Mädchen hatte ihre Brüder im Griff gehabt und sich zu wehren gewusst, dachte Amalia belustigt.

Bevor sie antworten konnte, mischte sich ihre Nachbarin, die Steinhauser Anna oder „Stoana Nanne“, wie sie im Dorf genannt wurde, ein. Nanne war eine etwas grobschlächtige Frau, die ihr Herz auf der Zunge trug. Sie wohnte, solange Amalia denken konnte, neben ihnen. Dem Anlass entsprechend trug sie ein dunkles Kostüm, das an ihrer Brust gefährlich spannte. Wie immer hatte sie die grauen, dünnen Haare zu einer Flechtfrisur hochgesteckt. Amalia konnte sich nicht erinnern, Nanne jemals mit einer anderen Frisur gesehen zu haben.

„Weil du und deine Oma immer gar so eng ward, hat es mich schon sehr gewundert, dass du nicht früher gekommen bist. Beim Beten für die Zille habe ich dich nämlich nie gesehen“, rügte Nanne. „Ich dachte schon, du kommst gar nicht“, fügte sie noch vorwurfsvoll hinzu.

„Ich habe erst gestern von dem Unfall erfahren. Ich war in Afrika“, verteidigte sich Amalia schuldbewusst.

„Na ja, Hilda hat sich um alles gekümmert. Und viele Leut’ waren da zum Beten“, zeigte Nanne sich versöhnlich.

„Ja, auf unsere Hilda ist halt Verlass“, antwortete Amalia so laut, dass es Hilda hören konnte.

„Ah geh, das war doch selbstverständlich“, wehrte diese ab, aber Amalia sah ihr an, dass sie sich über das Lob freute. Hilda war in Amalias Leben immer eine Konstante gewesen. Die ruhige, warmherzige Frau hielt sich zwar meist im Hintergrund, war aber ein Mensch, auf den man sich voll und ganz verlassen konnte. Wenn ihre Großmutter wegen ihrer Arbeit nicht zu Hause sein konnte, hatte Amalia ihre Nachmittage bei Hilda verbracht. Sie war eine rundliche Frau, deren graues Haar zu einem gepflegten Bob geschnitten war. Die allwöchentlichen Friseurbesuche waren ein Luxus, den sie sich erst die letzten Jahre gönnte. Hilda war mit einem erfolgreichen Unternehmer verheiratet, dessen Büro sie bis vor Kurzem freundlich – aber bestimmt – organisiert hatte. Auch wenn sie inzwischen nicht mehr täglich in der Zimmerei arbeitete, war sie immer sorgfältig und teuer gekleidet, wirkte dabei aber nie aufgeputzt.

„Was ist denn eigentlich genau passiert? Der Pfarrer hat nur was von einem Unfall gesagt“, fragte Amalia.

Plötzlich verstummten alle Gespräche an ihrem Tisch.

„Du weißt gar nicht, was mit der Zille geschehen ist?“, fragte Nanne ein wenig zu laut.

Amalia konnte in deren Gesicht Mitleid erkennen, aber auch eine gewisse Vorfreude blitzte in Nannes Augen auf: Die Erregung, einem neuen Zuhörer, der von nichts wusste, eine aufregende Geschichte auftischen zu können.

„Also, das war so“, begann sie mit einem Flüstern, das über drei Tische zu vernehmen war, und rutschte näher zu Amalia, „die Zille, die Hilda, die Rosa und ich sind miteinander in den Weitenberg gegangen, haben dort etwas gegessen und danach gewattet.

Amalia unterdrückte ein Lächeln. Nach der Einleitung hätte sie etwas Spektakuläreres erwartet. Dass die vier älteren Damen gern watteten, war im ganzen Dorf bekannt. Schon als Amalia noch zur Schule ging, war Zille regelmäßig zum Kartenspielen gegangen und an diesen Abenden erst spät heimgekehrt. Die Frauen hatten sich immer abwechselnd bei einer daheim getroffen, zuerst hatte es Kaffee und Kuchen, später dann eine Marende und Wein gegeben. In den letzten Jahren hatten sie das Kartenspielen immer öfter mit einem Ausflug zu den Almen in der Umgebung oder mit der Einkehr in benachbarte Wirtschaften verbunden.

„Und was ist dann passiert?“, fragte sie, als ihr die effektvolle Pause von Nanne zu lang wurde.

Hilda übernahm das Wort und übersah geflissentlich den bösen Blick, den ihr Nanne zuwarf. „Der Felix war mit dem Jeep im Weitenberg“, begann sie. Felix war Nannes Sohn, der, da er bei der Weidegenossenschaft war, eine Fahrerlaubnis für dieses Gebiet hatte. „Er hat kurz angehalten und gefragt, ob wir mit ihm rausfahren möchten. Ich, die Nanne und die Rosa sind mit ihm mitgefahren, weil wir schon vom Hinweg müde waren.“

„Sind ja auch nicht mehr die Jüngsten, heu?“, mischte sich Nanne wieder ein.

„Genau“, wischte Hilda den Einwurf beiseite. „Aber die Zille wollte zu Fuß gehen. Weißt ja, wie sie war.“

Amalia nickte. Mit ihren 74 Jahren war Zille unglaublich rüstig gewesen. Sie war bei jedem Wetter täglich mindestens eine Stunde spazieren gegangen und in Pfunders bedeutete das automatisch, dass man Höhenmeter zurücklegen musste.

„Also sind wir mit dem Felix mitgefahren und die Bildermacherin ist zu Fuß aufgebrochen. Es war der erste August, und in Pfunders ist die Jagd auf den Hirsch aufgegangen.“

Wieder nickte Amalia. Diesmal ein wenig ratlos. Sie wusste, dass dies jedes Jahr der Höhepunkt der Jagd war. Alle Jäger des Reviers, ungefähr 40, konnten ab dem ersten August insgesamt zwei freigegebene Hirsche schießen. Wenn diese erlegt waren, war die Hirschjagd wieder für ein Jahr vorbei.

„Und heuer war ein kapitaler Sechzehnender im Weitenberg“, ergriff Nanne das Wort, „die Jaga waren alle ganz narrisch vor lauter Jagdfieber.“

Hilda übernahm wieder: „Auf alle Fälle waren fast alle Jäger unterwegs, und da ist es zu dem tragischen Unfall gekommen.“

Amalia runzelte die Stirn. Was hatte denn ihre Oma, die ihr Lebtag noch nie ein Gewehr in der Hand gehabt hatte, in Gottes Namen mit den Jägern zu tun?

„Ja und da muss einer von den Jägern über den Weg geschossen haben, obwohl das strengstens verboten ist, und hat die Zille erschossen.“

Amalia merkte, wie ihr die Farbe aus dem Gesicht wich. „Die Oma wurde erschossen?“, krächzte sie fassungslos.

Betretenes Schweigen breitete sich am Tisch aus.

Wild gingen Amalias Blicke über die Tische. Es waren einige Jäger vertreten. Sogar an ihrem eigenen Tisch saßen zwei: Hildas Mann und ihr Sohn Hannes.

Sie sprang auf. „Wer war es? Wer hat meine Oma erschossen? Wer hat sie umgebracht?“, fragte Amalia mit bebender Stimme in die Runde.

Evi zog sie behutsam wieder auf ihren Stuhl zurück. „Setz dich“, zischte sie. „Es war ein Unfall. Ein furchtbarer Unfall.“

Amalia bemühte sich um einen ruhigeren Tonfall. „Wer war es? Ich muss es wissen.“ Sie schaute in die Runde, aber keiner begegnete ihrem Blick.

Jeder sah verlegen in seine Suppe. Eine bedrückende Stille breitete sich aus.

Hilda räusperte sich. „Wir wissen es nicht, Amalia. Der Schütze hat sich davongeschlichen, statt zu seiner Schuld zu stehen. Es waren Wanderer, die den Notarzt und die Carabinieri gerufen haben. Die Polizei ermittelt. Sie haben alle registrierten Waffen in Pfunders eingesammelt und nehmen Untersuchungen vor.“

„Ballistische Untersuchungen heißt das“, tat Nanne, eine begeisterte sonntägliche „Tatort“-Schauerin, den Anwesenden kund.

Hilda nickte. „Sie sind sicher, dass sie den Schuldigen bald haben. Es muss ja jemand vom Dorf sein. Ein Fremder mit einem Gewehr wäre ja aufgefallen. Vor allem am ersten August.“

Amalia wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte sich einen Herzinfarkt in schöner Natur vorgestellt und sich damit getröstet, dass ihre Großmutter bis zuletzt ein gutes Leben gehabt hatte und ihr Krankheit und langsamer Verfall erspart worden waren. Aber erschossen? Das wirkte viel grausamer und willkürlicher.

„Hat sie noch gelebt, als die Wanderer sie gefunden haben?“, fragte sie.

„Nein. Sie muss sofort tot gewesen sein. Blattschuss“, fügte Nanne mit ihrem üblichen Feingefühl hinzu.

Hilda griff nach Amalias Hand. „Sie hat nicht leiden müssen. Ich finde, das ist ein Trost.“

Amalia schwieg. Das musste sie erst einmal verdauen. „Und der Jäger, der sie aus Versehen erschossen hat, ist einfach abgehauen?“ Sie konnte selbst den Zorn und die Verachtung in ihrer Stimme hören.

Unvermittelt ergriff Hildas Mann das Wort: „Wir Jäger sind von dem Vorfall genauso entsetzt wie du. Eine Schande ist das! So ein Unfall hätte nie passieren dürfen. Jeder Jagdanfänger weiß, dass man nie über Wege schießen darf. Aber ein Jagdunfall durch Dummheit, Übereifer oder Unachtsamkeit ist in meinen Augen noch das kleinere Übel. Dass der Schütze die Zille liegen hat lassen und sich aus dem Staub gemacht hat, ist verabscheuenswert! Alle Mitglieder des Jagdvereins Pfunders schämen sich für dieses feige, ehrlose Verhalten. Ich war an diesem Tag zwar selber nicht dabei, weil ich geschäftlich in Mailand auf einer Messe war, aber seit ich zurück bin, tue ich alles dafür, die Carabinieri bei ihren Ermittlungen zu unterstützen. Ich habe ihnen sofort Belege zur Verfügung gestellt und Zeugen für meinen Aufenthalt in Mailand benannt, damit es nicht zu Verzögerungen kommt. Intern arbeiten wir im Jagdverein mit Hochdruck daran, dem Täter auf die Spur zu kommen. Der Tod deiner Großmutter ist für uns alle ein großer Verlust. Sie war eine besondere Frau, auch wenn ich manche Dinge, die sie getan hat, nicht gutheißen konnte.“ Er nahm Amalias Hand mit seinen beiden und hielt sie einen Moment lang fest.

Verblüfft schaute Amalia den großen Mann an. Sie hätte schwören können, dass seine grünen Augen in dem sonnengebräunten zerfurchten Gesicht feucht glänzten. Dieser Gefühlsausbruch überraschte sie. Der alte Raffeiner, der im Dorf nur der „Riegla Soggila“ genannt wurde, seit er in den 1980er-Jahren ein eigenes Sägewerk aufgebaut hatte, sah sie noch immer durchdringend an. Er war eine stattliche Erscheinung, groß, und obwohl er weit über siebzig war, wirkte er kraftvoll und vital. Er war nach wie vor ein begeisterter Skifahrer und im Sommer oft in den Bergen zu finden. Wenn er auf Gemeindeversammlungen das Wort ergriff, wurde ihm respektvoll zugehört, da ihn die meisten Dorfbewohner bewunderten. Er war als Jüngster von elf Geschwistern auf einem ärmlichen Hof am Riegel, einem steilen Hang über Pfunders, aufgewachsen und hatte es geschafft, aus einem Einmannbetrieb in einer alten Schupfe eine florierende Zimmerei zu machen und später sogar ein Sägewerk aufzubauen. Weit über die Grenzen von Südtirol hinaus fand er seine Kunden. Sein größter Coup war, eine Skihütte im alpenländischen Stil an den Scheich von Dubai zu verkaufen. Amalia wusste das alles von Evi, weil ihre Oma, wie ihr jetzt auffiel, nie viel vom Soggila gesprochen hatte.

In all den Jahren hatte dieser Mann keine zehn Worte mit ihr gewechselt. Meist knurrte er bloß eine kurze Begrüßung, wenn er sie sah, und ging ihr in der Regel aus dem Weg. Amalia wusste, dass er ansonsten ganze Gasthäuser mit Jagdgeschichten unterhalten konnte und im Dorf für seine großzügige und amüsante Art bekannt war. Doch ihr gegenüber war er immer wortkarg und schroff gewesen. Auch jetzt hatte er sich noch nicht an der Unterhaltung über ihre Großmutter beteiligt, sondern war ständig hinausgegangen, um zu telefonieren. Aber anscheinend hatte er Zille, ungeachtet seiner abweisenden Haltung, gemocht.

Bevor Amalia eine passende Erwiderung auf die überraschende Beileidsbekundung einfiel, wandte er sich jedoch abrupt ab und stand auf.

Nanne lenkte die Aufmerksamkeit wieder auf sich, weil sie Hildas Mann, der nun mit dem Mobiltelefon am Ohr hinausging, hinterherschrie: „Soggila, irgendwann wachst des Ding noch bei dir fest. Fehlt nur noch, dass da oben a Antenne rauswachst.“ Nanne war bekannt dafür, dass sie immer, ohne lang nachzudenken, darauf losredete und oft hanebüchene Sätze zum Besten gab. Wenn ihre Zuhörer dann lachten, war ihr oft nicht klar, warum. „Meinst eigentlich, dass uns die Karpf informieren, wenn sie wissen, wer es war?“, fragte Nanne jetzt in die Runde.

„Ja, bestimmt kommt die Polizei als Erstes zu dir. Wahrscheinlich wissen alle Carabinieri: Wenn die Stoana Nanne was weiß, dann ist ganz Pfunders innerhalb einer Stunde ausreichend informiert“, sagte Evi mit einem Grinsen.

Trotz allem musste jetzt auch Amalia lächeln, denn wie jeder im Dorf wusste auch sie, dass Nanne unglaublich neugierig war und für den neuesten Ratsch und Tratsch lebte.

Als ein wenig später die ersten Gäste aufbrachen, war Amalia erleichtert und schloss sich ihnen möglichst unauffällig an.

Beim Abschied sagte Hilda leise zu ihr: „Es tut weh, wenn man einen geliebten Menschen plötzlich verliert, und wenn einem der Tod dann noch so sinnlos vorkommt, ist es besonders schwer. Gitsche, du weißt, du kannst jederzeit zu mir kommen. Wenn dir in dem leeren Haus die Decke auf den Kopf fällt, kannst du auch gern bei uns übernachten.“

Dankend lehnte Amalia das freundliche Angebot ab. Sie wollte jetzt erst einmal allein sein und das Erfahrene verarbeiten. „Die Oma – erschossen!“ Das war ein Satz, der ihr jedes Mal, wenn sie ihn dachte, einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ.

2.

Müde und völlig ausgelaugt öffnete Amalia wenig später die Haustür, die wie immer unverschlossen war. Sie ließ ihre Tasche auf den grauen Fliesenboden im Eingangsbereich fallen und ging in die zugestellte Küche. Dort standen die Holzstühle, der braune Ledersessel, ein Kästchen und der Tisch, alle Möbel, die Hilda zusammen mit Nanne aus dem Wohnzimmer geräumt hatte, damit der Sarg und die Betenden Platz hatten. Kurz rang sie mit sich, ob sie alles bis zum nächsten Tag stehen lassen sollte, entschied sich aber dann doch, alles an seinen ursprünglichen Platz zu räumen. Sie dachte an Zille, die Sprichwörter und Bauernregeln geliebt und diese immer wieder zitiert hatte. Sicherlich hätte sie mit erhobenem Zeigefinger gesagt: „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen“, dachte Amalia wehmütig und stellte die Kerzen, die während des Betens für die Verstorbene angezündet worden waren, zusammen. Unschlüssig betrachtete sie zwei große versilberte Kerzenständer. Wo kamen die denn her? Oma hatte so etwas Prunkvolles mit Sicherheit nicht besessen. Hatte das Bestattungsunternehmen sie zur Verfügung gestellt oder stammten sie aus Hildas Haushalt? Sie nahm sich vor, dies am nächsten Tag in Erfahrung zu bringen, und stellte sie erst einmal in den Flur.

Als endlich alles erledigt war, setzte sie sich für einen Moment auf die Ofenbank. Früher war der Platz auf der Ofenbrücke, einer Liegefläche mit Matratzen und weichen Kissen über dem Ofen, ihr Lieblingsort gewesen. Dort hatte sie stundenlang gelesen und die wohlige Wärme genossen, während draußen Herbststürme tobten oder dicke Schneeflocken vom Himmel fielen. Zille hatte währenddessen meist auf der Bank gesessen, die an zwei Seiten übereck um den Ofen herumlief. Amalia meinte, das gleichmäßige Klimpern der Stricknadeln zu vernehmen. Schmerzlich wurde ihr bewusst, dass es nur eine liebe Erinnerung war.

Traurig ging sie in die Küche. Sie kochte Wasser und öffnete das Küchenschränkchen, in dem ihre Großmutter ihre Teesorten aufbewahrte. In Berlin hätte sie jetzt einen starken türkischen Tee genossen, um die Müdigkeit zu vertreiben und noch ein wenig zu arbeiten. Doch hier gab es nur „Schlaf wohl“ oder einen anregenden Tee, der „Morgentau“ hieß, aber Fenchel enthielt, wie sie am Etikett erkennen konnte. Schon als Kind hatte sie Fencheltee gehasst, daher entschied sie sich für „Schlaf wohl“. Sie ließ sich auf die Eckbank fallen und betrachtete erschöpft ihre nackten schmerzenden Füße, die sie auf den gegenüberliegenden Holzstuhl gelegt hatte. Auf dem Weg zum Friedhof hatte sie sich mit den blöden Stöckelschuhen Blasen gelaufen.

Sie lauschte. Es war so ungewöhnlich still in der Küche. Früher gingen hier Nachbarn und Freunde ein und aus, und der Raum war erfüllt von Omas Stimme und ihrem Lachen. Im Radio war stets der „RAI Sender Bozen“ gelaufen, obwohl Amalia viel lieber „Ö3“ gehört hätte. Als sie jetzt in sich hineinhörte, spürte sie, dass ihr die Ruhe guttat. So tröstend die Beileidsbezeugungen der anderen Dorfbewohner auch gewesen waren, sie hatte seit dem Anruf des Pfarrers doch kaum einen Moment gehabt, um zu trauern.

Sie hatte es schön gefunden, dass so viele beim Malile positive und meist lustige Erinnerungen an die Verstorbene erzählt hatten. Aber die Enthüllung, dass ihre Oma von einem Jäger versehentlich erschossen worden war, hatte Amalia aus der Bahn geworfen. Schwer und drückend lastete seitdem die Vorstellung auf ihr, dass eine Kugel ihre Großmutter durchbohrt und der Schütze sie blutend liegen gelassen hatte. Auch wenn sie aller Wahrscheinlichkeit nicht hatte leiden müssen, kam ihr dieser Tod brutal und sinnlos vor. Der Riegla Soggila hatte recht: Viel schwerer als die Tat selbst wog die Tatsache, dass der verantwortliche Jäger sich aus dem Staub gemacht hatte. Das war wie Fahrerflucht nach einem Autounfall. Die Hinterbliebenen standen mit unzähligen unbeantworteten Fragen allein da.

Nach außen hatte sie bis auf wenige Momente die Fassung bewahrt, doch jetzt in der Stille der Küche ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Sie hatte heute den Menschen beerdigen müssen – also für immer verloren –, der sich wie eine Mutter um sie gekümmert hatte. Obendrein war sie sich heute ständig beobachtet vorgekommen. Natürlich war ihr klar, dass das Leben in der Stadt sie verändert hatte, aber heute hatte sie zum ersten Mal das Gefühl gehabt, nicht mehr zur Dorfgemeinschaft zu gehören, obwohl sie hier aufgewachsen und zur Schule gegangen war. Wahrscheinlich war es sonst die Anwesenheit ihrer Oma gewesen, die ihr den Eindruck von Zugehörigkeit und Sicherheit vermittelt hatte. Amalia zuckte zusammen, als das Telefon plötzlich klingelte und sie aus ihren trüben Gedanken riss. Sie stand auf und ging in den Flur. Dort hing seit ewigen Zeiten ein hellgraues Telefon mit Wählscheibe an der Wand. Oft hatte sie Zille angeboten, ein schnurloses Telefon zu besorgen, doch diese hatte immer dankend abgelehnt. Irgendwie hatte sie an dem alten Ding gehangen. Doch als Handys modern geworden waren, hatte sich die alte Dame zu Amalias Überraschung als eine der Ersten im Dorf eines zugelegt. „So bin ich für meine Kunden immer erreichbar, auch wenn ich gerade Hochzeiten fotografiere oder in den Bergen unterwegs bin, um Landschaftsaufnahmen zu machen. Das macht Sinn“, hatte sie mit Überzeugung zu ihrer verdutzten Enkelin gesagt. „Engl“, meldete sich Amalia ein wenig heiser.

„Hallo, ich möchte gerne mit Frau Huber sprechen.“

Amalia schluckte, bevor sie antwortete: „Meine Großmutter ist letzte Woche verstorben.“ Nach einem Moment, in dem betretene Stille herrschte, fügte Amalia mit belegter Stimme hinzu: „Vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen?“

„Entschuldigen Sie, ich … äh … wusste das mit Frau Huber nicht. Äh … mein Beileid.“

„Danke“, sagte Amalia knapp und wollte sich gerade verabschieden, als die Frau am anderen Ende zu einem Wortschwall ansetzte: „Ich bin Martina Rauch vom Verlag Rauch und Zauner in Brixen. Frau Huber wollte das Kapitel über Pfunders im Bildband ‚Dorfleben damals und heut‘ bis nächste Woche fertigstellen. Ich weiß, das klingt jetzt vielleicht unverschämt, aber ihre Großmutter hat mir von Ihnen erzählt. Sie sind doch die Modefotografin? Meinen Sie, Sie könnten das Kapitel zu Ende führen? Soweit ich weiß, hatte sie bereits die Archive ihres Mannes gesichtet und Fotos zusammengestellt. Das Buch sollte für einen guten Zweck auf einer Gala in Bozen verkauft werden. Ihre Oma wollte das unbedingt machen. Es war ihr ein wirklich wichtiges Anliegen. Das Geld kommt nämlich bedürftigen Kindern zugute. Das Kapitel ist auf 25 Bilder begrenzt, ein jedes mit kurzer Beschreibung, damit die Druckkosten nicht zu hoch ausfallen. Meinen Sie nicht, Sie könnten die Arbeit beenden?

Andernfalls wäre ich wirklich in großen Schwierigkeiten. So kurzfristig jemand anderen dafür zu finden, ist fast unmöglich. Es soll nächste Woche bereits in Druck gehen“, endete die Frau.

Amalia musste sich bemühen, höflich zu bleiben. Was bildete sich diese Frau Rauch eigentlich ein? Erst heute war die Beerdigung gewesen und die sorgte sich nur darum, dass ein Buch nicht fertig wurde. „Nein. Es tut mir leid. Ich fahre übermorgen Abend nach Berlin zurück“, sagte sie schroff und konnte es sich nicht verkneifen, schnippisch hinzuzufügen, „da werden Sie sich wohl oder übel etwas anderes für Ihre Spendenaktion einfallen lassen müssen. Auf Wiederhören.“

Bevor sie auflegen konnte, hörte sie noch ein „Rufen Sie mich an, falls Sie es sich doch noch anders überlegen“.

Als Amalia die Tasse mit ihrem dank Frau Rauch kalt gewordenen Kräutertee zur Spüle brachte, fiel ihr Blick auf ein Bild, das sie als Vierzehnjährige mit Zille neben dem Gipfelkreuz des Weißzints zeigte. Es war Amalias erster Dreitausender gewesen. Die Tränen begannen von Neuem zu fließen. Es war schon nach zehn, bis sie sich wieder einigermaßen gefangen hatte. Erschöpft beschloss sie, ins Bett zu gehen. Der Wohnbereich und Omas Schlafzimmer lagen im Erdgeschoss. Oben befanden sich ein Bad, ihr früheres Kinderzimmer und das Atelier. In den 1980er-Jahren hatte Zille eine zweite Treppe anbauen lassen, damit ihre Kunden von außen ins Fotostudio gelangen konnten, ohne durch die Wohnung gehen zu müssen. Sie ging schnell ins Bad, wo sie die Fliesen, die wie immer eiskalt waren, unter ihren nackten Füßen spürte. Als sie beim Zähneputzen in den Spiegel schaute, fuhr sie zusammen. Sie sah furchtbar aus. Die Nase knallrot vom Sonnenbrand, die Augen verquollen vom Weinen und auf ihrer Stirn prangte ein großer dunkelgrauer Fleck. „Ach herrje, die wasserfeste Wimperntusche von der Autofahrt. Was mussten die Leute von ihr gedacht haben, als sie so schlampig zur Beerdigung aufgetaucht war? Wieso hatte keiner etwas zu ihr gesagt? Ach, auch egal – jetzt war auch nichts mehr daran zu ändern.“ Sie wusch sich schnell das Gesicht und ging dann müde in ihr altes Kinderzimmer.

Wie immer war ihr Bett mit einer rosafarbenen Blümchenbettwäsche frisch bezogen, so als hätte Zille ihr Kommen jeden Moment erwartet. Doch anders als bei ihren sonstigen Besuchen stellte sich dieses Mal kein heimeliges Gefühl ein, als sie unter die Bettdecke schlüpfte. Früher hatte sie immer gedacht, dass das Haus und ihr Kinderzimmer es waren, die ihr Geborgenheit und das Gefühl „zu Hause zu sein“ schenkten, wenn sie von ihren Reisen und Auslandsaufenthalten zurückgekommen war. Aber jetzt stellte sie bitter fest, dass ohne die Herzlichkeit ihrer Oma das Haus still und beinahe fremd auf sie wirkte. Obwohl es August war, fror sie und konnte sogar an ihren Beinen Gänsehaut spüren. Amalia fühlte eine tiefe Leere in ihrem Inneren. Ihr wurde schmerzhaft bewusst, dass nicht Übermüdung und Schlafmangel der letzten Tage sie frieren ließen, sondern die Einsamkeit.

Kurz bevor sie nach Afrika geflogen war, hatte sie sich in Berlin von ihrem Freund Ben getrennt. Sie waren zwei Jahre zusammen gewesen. Doch nach der anfänglichen Verliebtheit hatte sich immer mehr herauskristallisiert, dass sie beide unterschiedliche Ansichten hinsichtlich ihrer Zukunft hatten. Beide räumten ihren Berufen höchste Priorität ein, was anfangs für Amalia mit ein Grund war, warum sie sich in Ben verliebt hatte. Ben erwartete nicht von ihr, dass sie jeden Abend und jedes Wochenende Zeit für ihn hatte und ihn bekochte, sondern er war stolz darauf, dass sie genau wie er Karriere machte. Am Monatsanfang hatten sie ihre Terminkalender abgestimmt und sich, wann immer möglich, an den Orten getroffen, an denen sie beruflich zu tun hatten. Irgendwann hatte sie sich jedoch gefragt, ob sie sich ihr Leben wirklich so vorgestellt hatte. Sollten sie sich immer nur dann sehen können, wenn sich im Kalender des jeweils anderen gerade ein Platz fand? Eingetragen als Meeting?

Sie hatte lange Gespräche mit Ben darüber geführt, hatte ihm erklärt, dass sie irgendwann ein gemeinsames Zuhause, vielleicht auch eine gemeinsame Familie haben wollte. Zuerst hatten sie um einen Kompromiss gerungen und um ihre Beziehung gekämpft, aber bald feststellen müssen, dass es keine Einigung gab. Ben war kein Mann, der gerne an einem Ort blieb. Berlin war nur ein Drehkreuz für ihn, um beruflich durch die Welt zu jetten.

Schließlich hatte sie am Wochenende, bevor sie nach Afrika geflogen war, die Beziehung, die seit Wochen nur noch dahingedümpelt war, endgültig beendet. Doch gerade bereute Amalia ihre Entscheidung. Wäre Ben jetzt hier, könnte sie sich an seiner Schulter anlehnen. Sehnsüchtig dachte sie daran, wie schön es wäre, jemanden zu haben, mit dem sie über alles reden könnte, der sie jetzt nach Omas Tod auffinge und ihr Kraft gäbe. Der den Weg der Trauer gemeinsam mit ihr ginge. Der ihr jetzt helfen könnte, den tragischen Tod Zilles zu verkraften. Unwillkürlich rollten einige Tränen über ihre Wangen. Dann fasste sie sich. Unsinn. Ben hätte niemals den Kongress in Australien, auf dem er gerade war, abgesagt. Er hätte ihr telefonisch Mut zugesprochen, sie daran erinnert, dass sie eine starke Frau sei und spielend alleine damit fertig werde. Er hätte sie sicherlich täglich angerufen und Anteil genommen, aber letztlich wäre sie trotzdem alleine am Grab ihrer Großmutter gestanden. Nein, sie hatte das Richtige getan.

Amalia kuschelte sich tiefer in ihr Kissen. Obwohl sie völlig erschöpft war, wollte sich kein Schlaf einstellen. Die Gespräche vom Malile