Die Drucklegung dieses Buches wurde ermöglicht durch die Südtiroler Landesregierung / Abteilung Deutsche Kultur in Zusammenarbeit mit dem Bildungsausschuss St. Leonhard in Passeier.

BIBLIOGRAFISCHE INFORMATION DER DEUTSCHEN NATIONALBIBLIOTHEK

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar: www.dnb.de

2017

Alle Rechte vorbehalten

© by Athesia AG, Bozen

Titelfoto: Karolina Gasser aus „Lebensbilder“ von Hans Rieder

Design & Layout: Athesia-Tappeiner Verlag

Druck: Athesia Druck, Bozen

ISBN 978-88-6839-258-1

www.athesiabuch.it

buchverlag@athesia.it

Gewidmet meinem

Sohn Benjamin Julius

und meiner Tochter Vera Laure

Zu diesem Buch

Die Erzählung „Unter der neunten Ecke“ ist zum großen Teil frei erfunden, beinhaltet jedoch viele Fragmente wahrer Begebenheiten.

Sie versucht, einen Einblick in die verschiedenartige Kommunikationsweise in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts zu geben, als in einem Tal, das von der sich geistig und technisch weiterentwickelnden Außenwelt teils abgeschnitten war, einige Familien noch sehr richtend übereinander redeten. In anderen Familien hingegen, zumeist eher im Dorfzentrum wohnend, war die Umgangssprache schon viel weltoffener, von feinerer Art und recht gewählter Ausdrucksweise. Dafür dürfte wohl der häufigere Austausch untereinander ausschlaggebend gewesen sein.

Diese Fragmente beschäftigten mich über Jahrzehnte hinweg, bis ich sie letztendlich auf diese Weise in die vorliegende Erzählung eingebunden habe.

Ich habe dabei versucht, die Erzählung trotz ihrer beinhaltenden Emotionalität möglichst wertfrei zu schildern. Sollten sich dennoch noch lebende Betroffene oder deren Angehörige in meiner Geschichte negativ dargestellt fühlen, was nicht meiner Absicht entspricht, so bitte ich sie um Entschuldigung.

Anton Gögele

Inhaltsverzeichnis

1

Martl ist nicht der Erste, der bei der Jaufenburg in St. Leonhard im Passeiertal nach einem Schatz gräbt. Und er bleibt nicht der Letzte. Viele, viele Leute haben dort schon gegraben, vor ihm und auch nach ihm noch. Der Autor selbst hat es auch einmal als Kind getan. Aber nicht jeder von ihnen hatte nicht nur kein Glück, sondern auch so viel Pech dabei gehabt wie Martl.

Schon sehr lange Zeit vor Martl will einst seine Mutter, die Bäuerin vom Pichlhof in Glaiten, bei der Jaufenburg gegraben haben. Sie ist es auch gewesen, die ihn zum ersten Mal darauf aufmerksam gemacht hat, dass es dort einen Schatz geben soll, welcher nur darauf warte, entdeckt zu werden.

Sie soll, als sie einmal in besserer Stimmung gewesen sei, ihm einmal erzählt haben, dass sie einen Korb voller Goldmünzen gefunden habe. Ledig sei sie damals noch gewesen. Sie habe die Münzen sorgfältig gezählt und sie mit einem Tuch und über diesem noch mit Kräutern schön zugedeckt, bevor sie sich auf den Weg nach Hause gemacht habe. Falls ihr jemand begegne, sollte dieser nicht merken, was sie in dem Körbchen trage, und ein Körbchen voll Kräuter würde ihr schon niemand stehlen wollen. Als sie dann zu Hause angekommen sei und den Korb habe leeren wollen, habe sie sorgfältig die Kräuter abgenommen, dann das Tuch entfernt, und da seien nur noch wurmige, faule Nüsse drin gewesen.

Das ist eine der netteren Erinnerungen, die Martl an seine Mutter hat. Zu den Traurigen gehört, dass sie meistens nur grässliche Schauermärchen erzählt hat, so auch, dass es in der Burg schauderhaft geistern solle. Nur wer reinen Herzens sei und vor jeder Grabung ein Ave-Maria bete, könne dort graben und Erfolg haben. Zu den traurigen Geschichten gehört aber auch, dass Martl auf dem Hof schon als Kind besonders viel arbeiten musste, viel mehr als seine Geschwister, wie es ihn deucht. Zu den traurigsten gehört ebenso, was ihm heute noch seelisch wehtut, dass die Mutter ihn wie auch alle seine Geschwister sehr viele Male brutal geschlagen hatte. Seine Geschwister hätten diese Kultur teilweise abgestritten, weil es einfach nicht wahr sein durfte, aber um diese Wahrheit auszuhalten, sie in ihre eigenen Familien weitergetragen. So will zumindest Martl es genau wissen. Nur er nicht und nicht der Bruder Anton. Sein Bruder Anton deshalb nicht, weil er Pfarrer geworden ist und keine Kinder gezeugt hatte. Er selbst nicht, weil er nie eine Frau gefunden hatte und daher keine Familie und keine Kinder hatte.

Martl fragt sich noch oft, wo denn da das reine Herz gewesen sei, und versucht selbst, reinen Herzens zu sein, indem er alles vermeidet, was das Herz trüben könnte. Die Schweine auf dem Hof, welchen die Mutter die Nüsse damals dann verfüttert habe, hatten sich diese faulen Nüsse aber anscheinend nicht verdient. Sie seien von den Nüssen alle draufgegangen. Auch einige Hühner, die noch Reste gefunden hatten. Und ein Fuchs ebenso, der sich dann die Hühner leicht hatte holen können. Ja, vielleicht habe die Mutter sich die faulen Nüsse verdient, tröstet er sich selbst, wenn er daran denkt, auch, wenn er diese Geschichte heute noch nicht glaubt, weil die Verwandlung von Gold in Nüsse für ihn nicht nachvollziehbar ist.

Er versteht überhaupt nicht, warum Menschen ihren Kindern solche Geschichten erzählen, die wahren Geschichten aber nicht. Die Geschichte mit den Nüssen fällt ihm gerade wieder ein, weil er jetzt selbst am Graben ist, nachdem in den letzten Wochen und Monaten die Legende so oft im Dorf kursierte, dass der Schatz noch nicht gefunden sei. Manchmal denkt Martl gar, es wäre gut gewesen, wenn die Mutter selbst in eine solche Nuss gebissen hätte. Danach geht es ihm immer sehr schlecht. Den Zusammenhang kann er sich nicht erklären. Er denkt, da liege sicher ein Fluch darauf, dass er sich nach solchen Geistesregungen sofort so elend fühle. Ab und an versucht er nämlich, zu verstehen, warum die Mutter so war, wird mit dem „Nachhirnen“ aber nicht fertig. Die Mutter schob es immer auf eine christliche Erziehung, damit aus einem Lausbub ein rechter Mensch werde.

Martl – so wird er im Dialekt genannt – hat selbst auch mehr als nur einmal mit seinen Händen und mit Pickel und Schaufel, später dann auch einzig noch mit einem Stocher und seinen bloßen Händen ausgebaggert. Natürlich ist Martl ein dialektaler Name und leitet sich von Martin ab. Und er leitet sich aus dem Lateinischen von Martinus ab, aber man könnte ebenso gut von Martl auf das italienische Wort „martello“ Rückschlüsse ziehen, und wäre sein Werkzeug dann noch statt einer Schaufel, einem Pickel oder einem Stocher ein Hammer (martello), so würde es Martl namentlich alle Ehre machen, was den Zusammenhang mit seiner heimlichen nächtlichen Tätigkeit bei der Jaufenburg betrifft. Was Martl da nachgesagt wird, war wirklich der Hammer. Wie viele andere müssten da aber auch Martl oder Martello oder der Hammer heißen!

Der Nachname? Der wurde wahrscheinlich bei seiner Taufe zum letzten Mal genannt: „Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes auf den Namen Martin …“ Durch die Verabreichung dieser heiligen Taufe darf Martl einmal innerhalb der Friedhofsmauer seine letzte Ruhe finden. Wer nicht getauft ist, muss draußen bleiben. Das könnte ein Satz eines jeden Pfarrers im Dorf gewesen sein. Der Autor selbst hat es noch miterlebt, dass ein Ungetaufter außerhalb des gesegneten Reviers seine letzte Ruhe finden musste. Ja, vielleicht wurde Martls Nachname später noch in der Schule genannt. Eher wohl nicht, weil er der Einzige mit diesem Vornamen war. Wenn mehrere denselben Vornamen haben, werden sie in der Regel auch noch mit dem Nachnamen genannt, damit es keine Verwechslung gibt. Vielleicht wird der ganze Name einmal nach seinem Ableben noch im Gemeindearchiv von St. Leonhard oder in der Urkundensammlung der Kirche von dort stehen. Das wird er selbst dann nicht mehr überprüfen können.

Martl redet nicht mehr über die Schule. Er erinnert sich auch nicht mehr daran, wie viele Klassen Grundschule er besucht und wie oft er sie wiederholt hatte, ehe er ausgeschult wurde, weil er sich auch gar nicht daran erinnern will. Würde er dies tun, müsste er eigentlich auf sich stolz sein, auch wenn die Auswirkungen des Schulstoffes auf ihn nicht gerade großartig waren. Aber es war eine besondere Leistung, so früh aufzustehen, um in den Stall zu gehen, das Vieh zu füttern und auszumisten, um dann den weiten Schulweg ins Tal hinunterzumarschieren, an Hunger und Kälte zu leiden und doch nicht zu verhungern und zu erfrieren. Dann ging es den steilen Weg nach Hause und wieder an die bäuerliche Arbeit. Der Stolz, sofern er einen darüber besessen hätte, wäre ihm aber früh als eines der ärgsten und gefährlichsten Laster und Feinde eines christlichen Lebens ausgetrieben worden.

Vom schon erwähnten Bruder, dem Pfarrer, lebt Martl nicht nur geografisch, sondern auch von seiner Zielorientiertheit her und hirnleistungstechnisch Tausende von Meilen entfernt, auch wenn ihm so manche Raffinessen nachgesagt werden, wie in der Regel jedem, der in irgendwelchen Bereichen des Lebens hinten geblieben ist. Sein Bruder hatte erst in Dorf Tirol im Priesterseminar studiert und war dort wegen Untugend geflogen, hatte sich dann aber den Sprachen zugewandt und wurde auf diesem Gebiet Professor. Erst später war er trotzdem Pfarrer geworden, weil er dies um jeden Preis für sich selbst erreichen wollte. Und so ist Martl einfach nur der Martl. Er beobachtet aber, dass viele, die früh schon frech waren oder es sein durften, später einmal viel besser durchs Leben kommen.

Wann hat sich das zugetragen? Da Martl selbst es nicht wusste und mittlerweile leider nicht mehr unter den lebenden Erdenbürgern weilt, während diese Geschichte niedergeschrieben wird, wird der Versuch nachträglich gemacht, historisch zu ordnen. Die Schule besuchte er ab 1925 herum, jedenfalls kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Wie viele Klassen Martl damals wirklich besucht hat, kann nicht mehr eruiert werden.

Die Ruine der Jaufenburg besucht Martl auch, aber sicher viel später und mehrere Male. Und er besucht sie aus anderen Gründen als die Schule. In die Schule musste er einstmals gehen.

Er ging nicht freiwillig. Er konnte damals die Zusammenhänge nicht sehen: um fünf Uhr aufstehen, Rosenkranz beten, dann ausmisten, Vieh füttern, tränken und melken helfen. Anschließend ein Frühstücksbrot und ein Häflein Milch hinunterwürgen, dann in die Schule rennen. Dort erst ein Morgengebet, dann schreiben, lesen und rechnen lernen, wieder ein Abschlussgebet, und den steilen Weg mit leerem Magen den Berg hinauf nach Hause, Mittagessen und wieder an die Arbeit auf dem Feld. Am Abend Vieh füttern, beim Melken helfen, Abendessen, Rosenkränze beten und ins Bett. Nächsten Tag das Gleiche, übernächsten Tag das Gleiche …

Als er jung war, hatte er keine Zeit, die Jaufenburg aufzusuchen. Damals haben Männer sonst schwer geschuftet, wenn sie nicht gerade in Kriegen waren, aus denen so viele junge Pseirer nicht mehr zurückgekommen sind. Die Tafeln an der westlichen Außenmauer der Kirche in St. Leonhard listen auf, wie viele damals im Ersten Weltkrieg für Gott, Kaiser und Vaterland und im Zweiten Weltkrieg für Hitler in den Krieg gezogen sind. Dorthin, wo der Kaiser oder seine Offiziere und nachher Hitler und seine Schergen sie zum Kämpfen hingeschickt hatten und sie – immer vorne an der Front – liegen geblieben waren.

Für ein paar zerfallende Mauern – ich meine die der Jaufenburg – interessierte sich in dieser Zeit von Armut, Hunger, Orientierungslosigkeit, Fremdbeherrschung, Zerrüttung und Elend kaum jemand. Der baufällige Turm hätte schon wenigstens geflickt werden sollen, damit er nicht einmal ganz in sich zusammenkracht und spielende Kinder unter sich begräbt. Von den restlichen Mauern fielen jedes Jahr eine oder zwei mehr um oder zerbröckelten zumindest, wie in den Kriegen auf den Schlachtfeldern die Soldaten. Das Schlachtfeld der Burg war in den letzten zig Jahren bis heute immer die Witterung. Während der Tiroler Freiheitskriege trugen die Franzosen dazu bei, die Burg zu zerstören. Es wird auch von einigen vermutet, dass die Franzosen damals den versteckten Schatz schon geborgen und nach Paris gebracht hätten. Auf jeden Fall sollen sie in den Jahren achtzehnhundertneun und achtzehnhundertzehn um die Burg herum ein Lager aufgeschlagen haben, weil von dort aus ein brillanter Überblick über das Passeiertal herrscht.

Es gab nach dem Ersten Weltkrieg kein Geld, um den Turm oder erst recht dazu noch die ganze Vorburg wieder herzurichten. Wer hätte denn das machen sollen? Und wozu? Es war nicht einmal in der Öffentlichkeit bekannt, wem die Burg gehörte. Und, wer hätte denn in ihr wohnen sollen?

Als Martl älter wird, geht er an Sonntagen nach den Gottesdiensten öfters, wenn er kein Geld hat, um sich ein Glas Wein zu kaufen oder es überhaupt schafft, aufzustehen, hinauf zur Burg. Er schleicht gedankenversunken um das Gemäuer herum, trödelt vor sich hin und wird von den anderen Leuten damit in Ruhe gelassen – ein einsamer, armer Hund eben, der keinem was zuleide tut. Ist er eigentlich von Burgen fasziniert? Vielleicht. Immer, wenn er bei der Burg ist, schaut er das Mauerwerk von allen Seiten an. Kein Mensch konnte aus diesen Blicken aber einen Schluss ziehen, wenn er sich nicht selbst irgendwann Monate später verraten hätte. Ihn treibt ein einziger Satz, den er, wie andere auch, schon öfters irgendwo aufgeschnappt hat, und seine immer leeren Taschen.

Wie lautet dieser Satz, den er zum ersten Mal von seiner Mutter, dann aber noch von etlichen anderen Leuten gehört hatte? „Unter der neunten Ecke liegt der Schatz.“ Dieser Satz ist vielen im Dorf bekannt. Jedenfalls zu Martls Lebzeiten hatte ihn sicher jeder schon gehört. Auf Martl muss der Satz aber eine ungeheure Anziehungskraft besessen haben. Was das Wissen über den Schatz angeht, darüber hat sich noch kein Einziger konkret geäußert. Darüber gibt es nur wildeste Spekulationen. Aber viele Bürger sind durch die Sage getrieben, und jeder achtet darauf, was der andere macht, der diesen Satz je ausgesprochen hat. Alle Augenpaare im Dorf beobachten aufmerksam, ob jemand sich bei der Jaufenburg konkret zu schaffen macht. Dass es dabei noch keinen Mord gegeben hat, mag daran liegen, dass die Kostbarkeit offenbar bis jetzt noch nicht gehoben ist.

Jeder konnte sich ein Bild machen, wie der Martl vorgehen würde, um diesen Schatz zu finden: mit Schaufel, Pickel und so weiter … Aber keiner wusste, wie schwierig es sein musste, diese neunte Ecke zu finden, wenn er sich nach dem Plan orientierte, den Martl einmal skizziert gesehen hat.

Es ist Mitte der 1930er Jahre, als Martl es einmal genauer wissen will. So lange hat er gewartet und so lange hat sein Kopf Vorbereitungsarbeiten geleistet. Schlechte Schlafplätze, Hunger, Kälte und Unzufriedenheit haben ihm den nötigen Mumm dazu gegeben.

Martl ist einer der ganz wenigen, die am Samstagnachmittag die Baubaracken nicht verlassen, wenn die Straßenbauarbeiter an der Jaufenstraße Feierabend haben. Die anderen, die an der Passstraße arbeiten und in St. Leonhard, St. Martin, Moos oder Walten wohnen, gehen nach Hause und kommen am Sonntagabend wieder zurück, oder sie können jede Nacht zu Hause schlafen, weil sie es nicht weit haben. Nur noch ein paar Süditaliener, die für den Straßenbau einerseits und zur Unterwanderung der Südtiroler Bevölkerung andererseits in den Norden Italiens geholt worden sind, schlafen die Nacht von Samstag auf Sonntag auch in den Baracken.

Martl hat es mit ihnen nicht einfach. Er versteht kein Wort, wenn sie miteinander reden. Oft scheint es ihm, dass sie über ihn lachen und sich lustig machen. Einige zeigen auch eine instrumentalisierte Südtirol-Feindschaft. Sie ist ihnen wahrscheinlich nicht angeboren, denn einige sind auch darunter, die andere Instrumente lieber nutzen, nämlich Musikinstrumente. Sie singen und spielen nach Feierabend und haben es lustig. Ihre fremdländische Musik gefällt Martl sogar. Trotzdem ist er nicht so gerne unter ihnen. Aber wohin soll er denn gehen, wenn Feierabend oder Wochenende ist? Auf den Pichlhof hinaufgehen kann er nur, wenn er dort auch arbeitet, obwohl es sein Elternhaus ist. Im Dorf gibt ihm kaum einer einen Unterschlupf, vor allem nicht, wenn er nicht auf dem Hof arbeitet und, wo jeder weiß, dass er jetzt Arbeit im Straßenbau gefunden hat.

Nicht zu arbeiten, ist jetzt häufiger, als dass er was tut. Er schafft es meistens einfach nicht, sich aufzuraffen. Er weiß selbst nicht, warum. Wenn er nicht arbeitet, trinkt er auch nicht, obwohl ihn einige im Dorf einen „Süffel“ nennen und manche ihn ganz gerne abgefüllt sehen, damit sie etwas zu lachen haben, wenn ihnen sonst die Ideen fehlen. Meistens sind das Knechte oder Hilfsarbeiter.

Das stimmt für Martl selbst so aber nicht, dass er um des Trinkens willen saufen würde und nur deswegen morgens nicht aufstehen wolle. Er fühlt sich einfach zu schwach, um morgens aufzustehen, zu lustlos. Alles ist ihm zu anstrengend und vieles sinnlos. Wenn er versuchen will, dies zu verstehen, dann versagen ihm dabei die Gedanken: Er kommt mit seinen Gedanken nicht so weit, um es zu begreifen.

Dann gibt es auch wieder die kurzen Zeiten, in denen er ein tüchtiger Arbeiter ist. Auch das kann Martl nicht nachvollziehen, wie dieser Wechsel zustande kommt. Da wird er schon ab und an gefragt, ob ihn eine Frau angelacht habe, sodass er sich wieder mal überwinden könne und es schaffe, aus den Federn zu kommen. Von Federn dürfte überhaupt keine Rede sein; ein Federbett kennt er nicht. Um eine eigene Wohnung zu mieten oder zu kaufen, hat er zu wenig Geld; da müsste er dauerhaft Arbeit haben und ihr auch nachgehen. Er hat nichts geerbt, weil er, wie schon erwähnt, ein „Süffel“ und Taugenichts geworden sei, wenn ihm auch ehrlicherweise nachgesagt werden muss, dass er ein sehr tüchtiger Mensch ist, erst recht dann, wenn ihn auch jemand lobt. Das kann bei ihm manchmal Wunder wirken, viel verständlichere Wunder, als man sich sonst im Tal erzählt. Da kann er dann mit der Arbeit so richtig loslegen, arbeitet eigenverantwortlich und genau. Irgendwie findet er es schon ungerecht, dass er ohne jede Lira Erbschaft ausgegangen ist, zumal der Hof Geld abgeworfen hatte und andere auch etwas davon abbekommen hatten.

In der Straßenbaubaracke hat Martl am Wochenende viel Zeit zum Nachdenken, wenn ihn sein Trübsinn oder manchmal der Wein nicht am klaren Denken hindern.

Jetzt ist Martl wieder von der Baracke zur Jaufenburg heruntergestiegen. Die Italiener bleiben lieber oben unter sich, und einige unter ihnen sind froh, wenn auch Martl, der am Wochenende einzige Deutsch sprechende, die Bauhütten verlassen hat. Es ist nicht weit, weil die Baracken zurzeit oben beim Schmötzl stehen, nur ein paar Gehminuten bis zur Ruine.

Nach einem ersten Misserfolg seiner Recherchen verwirft er den Plan wieder. Es scheint ihm unmöglich, zu verstehen, wo die neunte Ecke sein soll. Da mag er noch so oft um die Burg herumschleichen. Die Ecken sind von keinem markiert worden, und es gibt ihrer auch jetzt noch ein paar mehr als neun, obwohl außer dem Turm nur noch Mauerreste stehen. Manche Ecken sind vom Einsturz etlicher Mauern ganz verschüttet und können daher als solche gar nicht gesehen und erkannt werden. Über ihnen sind erst Flechten, Moose und Pilze und dann Brombeerhecken gewachsen. Und überall in den warmen Nischen tummeln sich die Schlangen. Manche Mauern stehen knapp vor dem Einsturz. Würden ein paar starke Männer mit all ihrer Kraft dagegen drücken, wäre es nicht ausgeschlossen, dass sie die eine oder andere noch stehende Mauer zu Fall brächten.