Für die Artistinnen und Artisten des Kinderzirkus Giovanni – die zusammen ein starkes Team sind!

Kapitel Eins

»Gibt es hier auch einen Knopf zum Abschalten?!« Fassungslos legte Blanca den Kopf zurück und starrte in die wild durcheinanderwirbelnden Schneeflocken.

»Zum Glück nicht!«, jubelte Flo und schlitterte mit Anlauf durch den Kreuzgang. Seit Tagen schneite es, und das ganze Matilda Imperatrix war in eine glitzernde weiße Decke gehüllt. Selbst der riesige Weihnachtsbaum im Innenhof war kaum noch zu erkennen – obwohl die Hausmutter Madame Maseleige stündlich mit einem Besen aus ihrem Büro sauste und die Äste von der weißen Last befreite.

»Hey, ihr könntet mir ruhig mal helfen!«, rief Pina da, die dick eingemummelt am Fuß der Treppe zum Osttrakt neben einem riesigen Koffer wartete. »In zehn Minuten fährt mein Bus!«

Pina war die erste der drei Freundinnen, die in die Winterferien aufbrach. Schon seit Wochenbeginn rollte der kleine Schulbus mehrmals täglich den Berg hinunter ins Dorf, um die Matilden zum Bahnhof zu bringen. Von dort aus fuhren sie weiter zu den Häfen und Flughäfen und dann in alle Welt, um die Weihnachtsferien zu Hause zu verbringen. Jetzt erschien die schlotternde Abeba mit zwei Reisetaschen hinter Pina. »Mann, ist das kalt!«, bibberte sie.

»Wieso ziehst du dir auch keine warme Jacke an?!«, rief Flo und rutschte heran, sodass der Schnee zu allen Seiten aufwirbelte.

»Zu Hause sind es 35 Grad – was will ich da mit einer dicken Winterjacke?«, entgegnete Abeba und zog fröstelnd die Hände unter die Ärmel ihrer Strickjacke.

»Ich würde mir ja wenigstens was über die Ohren ziehen«, knurrte Blanca. »Der Bruder meines Urururopas wollte mal Feuerland umsegeln, da hat ihn ein Wirbelsturm in die Antarktis getrieben – was soll ich euch sagen: Der ganzen Mannschaft sind die Lauscher abgefroren!«

Flo stöhnte. »Gibt es auch irgendeinen Vorfahren bei dir, der kein Holzbein oder keinen Hakenarm hat oder ohrenlos ist?«

Blanca überlegte kurz. »Mmmh, ich glaube, an meiner Oma war bis zum Schluss noch alles dran.« Dann packte sie eine von Abebas Taschen, Flo schnappte sich mit Pina den schweren Koffer, und gemeinsam schleppten sie das Gepäck durch den Kreuzgang.

Über den Außenhof fegte der kalte Wind noch heftiger. Rechts und links neben dem Torhaus türmten sich schon riesige Schneeberge auf. Madame Maseleige erwartete sie unter dem alten gemauerten Torbogen und kontrollierte, ob auch jedes Mädchen ein Lunchpaket und etwas zu trinken dabeihatte. Dann verteilte sie die Flugtickets und Passagierscheine und hakte die abfahrenden Schülerinnen von einer Liste ab.

Flo umarmte Pina lang und fest. »Ich wünsche dir ganz viel Spaß. Und grüß deine Oma von mir.« Pina drückte sie. »Mach ich. Und sag du deinen Eltern Frohe Weihnachten.«

»Klar!« Flo ließ los, dann warf sie einen kurzen Blick über die Schulter zu Madame und steckte Pina unauffällig einen Zettel zu. »Hier, gib den Luca, er wartet am Bahnhof.«

Pina grinste. »Ein Liebesbrief?«

Flo errötete. »Quatsch! Das ist eine Liste mit Dolci aus der Bäckerei seiner Eltern. Ich möchte Charly damit zu Weihnachten überraschen. Letztes Mal habe ich Lucas Mutter eine SMS geschickt – und das ist total schiefgegangen. Darum habe ich jetzt den blöden Brief geschrieben.«

»Ja, ja, schon klar …« Pina lächelte. »Auch aus Steinen, die dir im Weg liegen, kannst du etwas Schönes bauen.«

»Oh Mann! Verschon mich mit deinen indianischen Weisheiten.« Flo gab ihr einen Stups. Pina lachte. »Ich glaube, die war ausnahmsweise gar nicht indianisch. Aber sag mal, Stichwort Charly – wo ist deine kleine Schwester? Will sie mir nicht Tschüs sagen?«

»Jetzt bin ich erst dran!« Blanca packte Pina und schleuderte sie im Kreis herum. »Gute Fahrt, Blutsschwester!«

In dem Moment sauste Charly ins Torhaus. »Pina! Reise nicht fort ohne ein Wort!« Dabei kam sie ins Rutschen, ruderte wild mit den Armen und hätte beinahe Madame Maseleige umgerissen, wenn Blanca und Flo sie nicht gehalten hätten. »Sorry-Poree!« Dann fiel sie Pina um den Hals. Die gab ihr einen Kuss aufs Haar und sagte: »Tschüs, meine Kleine!«

Charly machte sich los und stemmte empört die Arme in die Seite. »Ich bin jetzt vierte Klasse!«

Flo seufzte. »Ja, wissen wir doch, du Nervensäge!«

»Platz da, Platz da, Platz da!«, quietschte es da völlig hysterisch hinter ihnen, und der Musiklehrer und Flötist Herr Vivace drängelte sich an ihnen vorbei zum Bus. Mit dramatischer Geste warf er seine blonden Locken zurück und nahm vorn neben der Busfahrerin Platz.

»Halleluja! Da werdet ihr ja richtig Spaß auf eurer Fahrt nach unten haben!«, grinste Blanca.

Pina winkte ab. »Na, die zwanzig Minuten runter ins Dorf werde ich die alte Diva wohl gerade noch ertragen.«

Da klopfte der Musiklehrer ungeduldig von innen an die Scheibe. »Los, los, Beeilung, meine Damen, ich möchte auf keinen Fall meinen Zug verpassen! Außerdem kann ich nur in Fahrtrichtung sitzen, und diese Plätze sind in der Bahn immer als Erstes belegt!«

Die Mädchen mussten grinsen. Schnell verabschiedeten sie sich noch von Abeba. Dann stieg auch die in den Bus, bevor der Musiklehrer komplett ausrastete. Madame schloss die Schiebetür, der Motor heulte auf, und die alte gelbe Knatterkiste ratterte im Schneegestöber aus dem Schultor. Bis zum Schluss schaute Flo Pina nach, die hinter der Rückscheibe winkte.

»So«, sagte Madame, als der Bus um die Ecke verschwunden war. »Wie gut, dass ihr hier seid, da könnt ihr gleich Schnee schaufeln.«

»Och nööööö. Der Hof ist doch sowieso gleich wieder vollgeschneit«, maulte Blanca. »Außerdem haben wir noch nicht gefrühstückt!«

»Das Frühstück beginnt erst in zwanzig Minuten. Also: Hopp, hopp, verliert keine Zeit! In einer halben Stunde schicke ich euch eine Ablösung.«

 

In den nächsten dreißig Minuten versuchten sie, den Hof von Schnee und Eis zu befreien, doch kaum waren sie an einem Ende angekommen, war das andere schon wieder mit einer weißen Schicht überzogen.

»Beim Holzbein meines Oppas! Ich glaube, mein Gesicht ist gleich eingefroren«, fluchte Blanca. »Ich kriege den Mund gar nicht mehr richtig auf. Wie soll ich da jetzt was zwischen die Kiemen kriegen?«

»Und ich spür meine Hände nicht mehr«, stöhnte Flo, doch in dem Moment kam zum Glück die Ablösung, und sie durften endlich zum Frühstücken gehen.

 

Wie immer kurz vor Weihnachten war der große Speisesaal des Internats mit Girlanden aus Tannen und Ilex geschmückt. Der Kamin knisterte, und unter den Bögen des weißen Gewölbes flackerten die Kerzen eines riesigen Adventskranzes. Es roch nach Zimt, Nelke und Bienenwachs, und über die Transportbänder, die das Essen von einem langen Tisch zum nächsten transportierten, liefen heute noch mehr besondere Spezialitäten als sonst. Das Küchenteam wollte nämlich die Vorratskammern leeren, bevor auch die restlichen Schülerinnen das Internat in die Weihnachtsferien verließen.

Flo rieb sich die eisigen Hände und ließ ihren Blick über die dünn besetzten Tafeln schweifen. »Mensch, es sind schon über die Hälfte aller Matilden weg.«

»Prima, dann können wir ja doppelt reinhauen«, frohlockte Blanca und schob sich in die Bank zu ihren Klassenkameradinnen Olga, Minerva und Min-Hai.

»Wann geht es bei euch los?«, fragte Flo und rutschte hinterher.

»Erst morgen früh«, antwortete Minerva. »Ich hab es ja nicht weit. Nur acht Stunden Zugfahrt – und ich bin in Frankfurt. Da holen mich meine Eltern dann mit dem Auto ab.«

»Hast du es gut«, stöhnte Min-Hai und schnappte sich ein Schoko-Croissant, das gerade auf dem Laufband vorübersauste. »Ich bin bis Shenzhen über zwanzig Stunden unterwegs – und das ist bloß die reine Flugzeit. Von den Umsteige- und Wartezeiten will ich gar nicht sprechen. Heute Abend geht es los.«

»Feiert ihr bei euch in China überhaupt Weihnachten?«, fragte Flo und hielt Ausschau nach einem Obstsalat mit flambierten Mandelsplittern.

»Ja, schon. Aber nicht so mit Familie wie ihr. Es interessiert sich auch niemand fürs Christkind. Das ist mehr so ein Volksfest mit Karussells und so.«

»Ehrlich?!« Minerva konnte es nicht glauben. »Wir feiern ganz traditionelle deutsche Weihnachten, mit Krippenspiel in der Kirche, Weihnachtsbaum und Heiligabend mit Geschenken.«

»Die gibt es bei uns erst morgens am 25. Dezember«, warf Flo ein und fischte sich ein Schüsselchen vom Laufband.

»Bei euch kommt der Weihnachtsmann ja auch durch den Schornstein!«, mümmelte Blanca mit vollen Backen.

»Wer ist überhaupt auf die Idee mit dem Weihnachtsmann gekommen?«, fragte Min-Hai. »Ich meine, in eurer Geschichte aus der Bibel mit Bethlehem und Jesus, da steht doch kein Wort von einem dicken, alten Mann im roten Kostüm!«

»Das ist eine Erfindung von Coca-Cola!«, wusste Flo zu berichten. »Die haben sich den Weihnachtsmann für die Werbung ausgedacht. Die wollten eine Mischung aus Nikolaus und Knecht Ruprecht.«

»Nee!«, rief Olga. »Ich glaub’s ja nicht!«

»Doch!« Flo nickte. »Ehrlich.« Dann drehte sie sich zu Blanca. »Und wie feiert ihr in der Karibik?«

»So ganz katholisch. Meine Seefahrer-Vorfahren …«

»Seeräuber, meinst du«, unterbrach Olga augenzwinkernd.

»Hey! Henry Morgan war im Auftrag der englischen Krone unterwegs. Und meine Urur-und-so-weiter-Oma stammt aus einer ehrbaren spanischen Kaufmannsfamilie!«

»Nun flipp doch nicht gleich aus, das war doch nur ein Scherz!«, winkte Olga ab. »Wir in Russland jedenfalls feiern erst am 6. Januar, und da …«

»Wart mal«, fiel ihr Blanca plötzlich ins Wort und zog unter dem Tisch ihr geheimes Handy aus der Tasche. »Hey! Eine SMS von Luca …« Stirnrunzelnd reichte sie das Handy an Flo weiter.

»Friere mir seit einer Stunde die Füße ab. Wenn Pina Verspätung hat, sagt mir wenigstens Bescheid!«, las Flo vor und sah dann fragend auf. »Ist der Bus unten im Dorf nicht angekommen …?«

Blanca nahm ihr das Handy aus der Hand und beugte sich unter den Tisch. »Ich ruf Pina mal an und frag, was da los ist.« Doch nach zwei Sekunden tauchte sie wieder auf. »Kein Empfang. Funkloch, oder das Handy ist aus.«

Flo schüttelte den Kopf. »Wieso sollte sie denn ihr Handy ausstellen, jetzt, wo sie unterwegs ist?!«

»Probier es mal bei Abeba!«, schlug Minerva vor.

Möglichst unauffällig wählte Blanca unter dem Tisch Abeba an.

»Der Lehrertisch guckt schon«, presste Flo zwischen verschlossenen Lippen hindurch. Das juckte Blanca normalerweise überhaupt nicht, doch jetzt sah sie plötzlich noch besorgter aus. Flo sah sie fragend an.

»Abebas Handy ist auch tot«, flüsterte Blanca.

Auf Minervas Stirn erschien eine steile Falte. »Hoffentlich hatten die keinen Unfall! Ich meine, bei dem Schneegestöber …?!«

»Los, komm!« Flo kletterte aus der Bank. »Wir müssen sofort Direktorin Petronova Bescheid sagen. Da stimmt was nicht!«

Kapitel Zwei

Mit einem mulmigen Gefühl eilte Flo durch den Speisesaal zum Lehrertisch. »Wo finden wir Direktorin Petronova?«

»Sie hat gerade eine wichtige Besprechung. Worum geht es denn?«, fragte Madame in ihrem typischen »Ich-kümmere-mich-schon«-Ton.

Flo zögerte kurz, doch da platzte Blanca schon heraus: »Der Bus ist nicht im Dorf angekommen. Und Pinas und Abebas Handys reagieren nicht!«

»Moment, Moment.« Etwas blass um die Nase zog Madame das Schulhandy hervor. »Ich kontaktiere mal die Fahrerin …« Sie wählte, lauschte – und ließ das Handy sinken. »Auch kein Empfang …«

»Wir müssen Direktorin Petronova aus ihrer Besprechung holen!«, forderte Flo. »Irgendetwas ist da nicht in Ordnung!«

Madame nickte, und dann eilten sie alle drei los.

 

Direktorin Petronova begriff den Ernst der Lage sofort. Sie warf sich den langen Daunenmantel über das enge, schwarze Kleid und stülpte eine Pelzmütze über das zusammengebundene Haar. »Wo sind die Schlüssel des Schuljeeps?«

Eilig reichte Madame ihr das Bund.

»Wir kommen mit!«, rief Flo, doch die Direktorin schüttelte streng den Kopf. »Auf keinen Fall.« Sie drehte sich zu Madame und befahl: »Bis auf Weiteres bleiben alle Schülerinnen im Internat!« Dann eilte sie aus dem Büro.

»Ich komme doch mit!«, murmelte Flo trotzig und rannte ihr nach.

Eisige Windböen pfiffen nun auch durch den Kreuzgang, und die Schneeflocken fielen noch dichter. In einem wilden Tanz wirbelten sie über den Innenhof, sodass man die andere Seite des Säulenganges kaum noch erkennen konnte. Als Flo und Blanca den Außenhof erreichten, war der schon wieder von einer dicken weißen Schneeschicht überzogen.

»Krakenpo und Wirbelsturm – das ist ja noch schlimmer geworden!«, brüllte Blanca gegen den Wind. »Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl!«

Flo nickte und legte noch einen Zahn zu. Kurz vor der Garage hatten sie die Direktorin eingeholt. »Direktorin Petro…«

»Nein!«, fuhr die Direktorin sie an und stieg in den Wagen.

Erschrocken wich Flo zurück. »So unbeherrscht reagiert sie nur, wenn sie superbesorgt ist!«

Blanca nickte. In diesem Moment ließ die Direktorin den Motor an, sauste mit Vollgas aus der Garage, schlitterte über den Hof und verschwand im wilden Schneetreiben.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Blanca.

Flo kniff wütend die Lippen zusammen. »Nichts. Warten. Das heißt …«, sie blitzte Blanca rebellisch an, »… wir könnten uns auf eine Schnee-Evakuierungsaktion vorbereiten. Los, lass uns in die Schneeanzüge springen und die Notfall-Rucksäcke packen! Dann sind wir vorbereitet – was auch immer passiert.«

Sie eilten zurück zum Torhaus, durch den Kreuzgang zum Osttrakt und die Treppen zum obersten Stock hinauf. Dort rannten sie beinahe Cilly und Lilly über den Haufen. Die beiden »Schleimschnecken«, wie Flo sie nannte, trippelten in silber- und goldfarbenen Daunenjacken über den Gang und tauschten gerade die Ergebnisse ihrer neuesten Laser-Versuchsreihen aus. So eingebildet und angeberisch die beiden Cousinen auch waren, so superversiert waren sie in Laser- und Elektrotechnik. Ab und zu brauchten Flo, Pina und Blanca dieses Expertinnenwissen bei ihren Abenteuern. Darum hatten sie beschlossen, einfach irgendwie nett zu sein – auch wenn ihnen das ganze Mode- und Beauty-Theater ziemlich auf die Nerven ging. »’tschuldigung!«, rief Flo darum und rannte weiter.

In ihrer Schlafkammer am äußersten Zipfel des Internats kletterten sie in ihre Profi-Schneeanzüge, schnappten sich die Notfall-Rucksäcke, die immer fertig gepackt im Schrank lagen, und sausten wieder zurück.

Sie hatten gerade das Torhaus erreicht, da kam ihnen plötzlich Direktorin Petronova entgegengeeilt! Fassungslos blieb Flo stehen. »Sie sind schon wieder da? Wo ist Pina …?«

»Die Schneewehen sind über zwei Meter hoch! Die Straße ins Tal ist unpassierbar! Wir kommen selbst mit den Jeeps nicht mehr durch!«, stieß die Direktorin aus.

»Dann müssen wir die Pferde nehmen!«, rief Flo.

»Och nööööö!«, stöhnte Blanca.

»Für Pina und Abeba und die anderen!«, fuhr Flo sie an.

»Manno! Natürlich setze ich mich für unsere Freundinnen auf eines dieser Höllenviecher!«, fluchte Blanca. »Aber lass mich doch wenigstens mal meckern.«

Im selben Moment kam die Hausmutter Madame Maseleige aus dem Büro gelaufen.

»Frau Direktorin, was …?«

»Informieren Sie Ringstrøm. Das Notfall-Spezial-Team muss zusammengerufen werden«, fiel ihr Petronova ins Wort. »Jedenfalls die, die noch da sind. Dann nehmen Sie Kontakt zur Bergwacht auf und aktivieren den Räumdienst aus dem Dorf. Ich fürchte, wir brauchen die Hilfe der professionellen Rettungsteams! Und es wäre gut, wenn Sie das nicht an die große Glocke hängen, klar? Die ganze Aktion soll so geräuschlos wie möglich verlaufen.«

»Jawohl«, sagte Madame und rannte auf ihren kurzen, dicken Beinchen gleich wieder los.

»Und ihr bereitet schon mal die Pferde vor und gebt Aaron Bescheid!«, rief die Direktorin Flo zu, bevor sie den Gang hinuntereilte. »Ich bin sofort da! Wir dürfen keine Zeit verlieren!«

»Alles klar!«, rief Flo erleichtert – denn das bedeutete, dass sie mitkommen durften. »Los, Blanca!«

Und dann rannten sie ganz schnell los, bevor die Direktorin es sich anders überlegen konnte. Andererseits, dachte Flo, waren ja wirklich nicht mehr viele ältere Schülerinnen, gute Reiter oder erfahrene Notfall-Spezialistinnen vor Ort. Wen hätte die Direktorin da sonst auf ihre Rettungsexpedition mitnehmen sollen?

 

Im Stall hatte Reitmeister Aaron Heuballen hinter den Türen gestapelt, damit es nicht ganz so sehr durch das Holz zog und die Pferde es einigermaßen warm hatten. Trotzdem schossen aus Eisenherz’ Nüstern bei jedem Atemzug kleine weiße Wölkchen. »Komm, wir haben zu tun, mein Guter!«, rief Flo und legte ihrem schwarzen Hengst das Zaumzeug über.

»Wer hat euch die Erlaubnis zu einem Ausritt gegeben?«, rief Aaron da vom anderen Ende des Stallgangs. »Nicht, dass Fragen gerade eure Spezialität ist – aber die Wetterlage scheint selbst mir ziemlich heikel und …«

»Sie haben die Ansage von mir bekommen«, kam es da kurz und knapp vom Eingang, und Direktorin Petronova trat in den Stall. »Bereiten Sie alles vor, Aaron. Eventuell müssen wir mehrere Menschen bergen.«

»Wie viele?«

»Sechs Schülerinnen, die Busfahrerin und Musiklehrer Vivace«, antwortete die Direktorin.

Aaron stöhnte. »Aaah, der Musiklehrer mit seinen zarten Piccolo-Flöten-Fingerchen … Hätte es nicht jemand Robusteres sein können?«

»Aaron!«, mahnte Petronova. »Keine diskreditierenden Bemerkungen über unser Lehrpersonal!«

»Na, ist doch wahr, diese Memme …«, murmelte Aaron und sagte laut: »Drei Beipferde für Material und Rücktransport der Mädchen – mehr sollten wir bei diesem Schneesturm nicht mitnehmen.«

»Einverstanden!«, sagte die Direktorin und drehte sich dann zu Blanca und Flo.

»Und ihr helft mir, das Bergungsmaterial zusammenzustellen!«

Flo und Blanca eilten aus den Boxen und folgten der Direktorin.

»Was heißt diskreditieren?«, flüsterte Blanca.

»Jemanden in Verruf bringen oder seinem Ansehen schaden«, flüsterte Flo zurück.

»Hat Aaron doch gar nicht, war doch bloß die Wahrheit!«, grinste Blanca, und Flo versetzte ihr einen Rippenstoß. »Pscht!« Auf keinen Fall wollte sie die Direktorin verärgern und damit riskieren, doch noch im Internat bleiben zu müssen!

Im Geräteraum sammelten sie eilig Klappspaten, Hacken und Seile zusammen und banden sie mit einem Stapel Decken auf die Rücken der Beipferde.

Nach fünf Minuten waren sie zum Aufbruch bereit. Petronova reichte jedem eine fettige Creme, mit der sie das Gesicht gegen den eisigen Wind einreiben sollten, und eine Sturmhaube. Flo und Blanca cremten sich ein und zogen die schwarzen Hauben über den Kopf. Nun blitzte nur noch ein schmaler Streifen um die Augenpartie hervor. Über die Sturmhauben zogen sie ihre Pudelmützen, und dann streiften sie sich noch extradicke Handschuhe über. »Wir sehen wie Bankräuber aus, die gleich einen großen Coup starten wollen«, raunte Blanca.

»Bereit?«, fragte Aaron da. Die Direktorin nickte, und Aaron reichte ihr und Flo die Führseile ihrer Beipferde. Das dritte übernahm er selbst. Blanca hatte genug mit einem einzigen Pferd zu tun, und es gab auch überhaupt nur eins, auf dessen Rücken die Piratentochter freiwillig Platz nahm: die alte, lammfromme Stute Juno, die das Gelände rund um das Internat im Schlaf kannte.

Als Aaron das große Tor öffnete, fuhr ein eisiger Windstoß in den Stall, und die Pferde begannen, nervös auf der Stelle zu trippeln. Auf das Kommando von Direktorin Petronova schwangen sie sich in die Sättel – das heißt, Blanca kletterte etwas umständlich in die Steigbügel –, und dann ritten sie los, hinaus in den eisigen, tosenden Schneesturm.

Kapitel Drei

Außerhalb der dicken Internatsmauern tobte der Sturm noch heftiger. Der beißende Wind schlug ihnen ins Gesicht, und es pfiff so laut, dass sie nicht einmal mehr ihr eigenes Wort verstanden. Die Flocken peitschten Flo mit solcher Wucht ins Gesicht, dass es sich anfühlte, als würde eine geheime Macht sie mit hunderttausend Nadelspitzen bearbeiten. Flo senkte den Kopf, zog die Sturmhaube noch tiefer ins Gesicht und schielte durch den winzig schmalen Spalt hindurch. Anders hätte sie es gar nicht ausgehalten – obwohl sie ja an zweiter Stelle, in Aarons Windschatten, ritt. Ihre behandschuhten Hände vergrub sie unter Eisenherz’ dichter Mähne und drückte sie in sein weiches, warmes Winterfell. Unaufhörlich bewegte sie ihre Zehen in den gefütterten Reitstiefeln.

Das ist im Winter immer das Schlimmste beim Reiten, dachte sie. Die Füße, die einem in den Steigbügeln in Nullkommanix zu Eisklumpen gefroren. Aber sollte sie sich beklagen? Pina befand sich nun schon zwei Stunden in dieser Kälte! Ach, wenn sie nur wüsste, wo ihre Freundin gerade war! Und wie es ihr wohl gehen mochte? Und Abeba erst! Die trug doch nur ihr dünnes Jäckchen! Allein bei dem Gedanken fuhr Flo ein eisiger Schauer den Rücken herunter! Hoffentlich hatten die anderen im Bus noch Winterkleidung dabei, die sie der schönen Marathon-Läuferin hatten abgeben können!

Flo mummelte sich noch tiefer in ihre dicke Daunenjacke. Zum Glück war Eisenherz ein so kluges, trittsicheres Pferd. Ganz selbstständig blieb er geschickt in Aarons Windschatten und folgte exakt der Schneise, die der Araberhengst des Stallmeisters in den tiefen Schnee getreten hatte.

Je länger sie voranritten, desto häufiger hob Flo den Kopf in den eisigen Sturm, um aus dem Spalt ihrer Sturmmaske nach dem Bus Ausschau zu halten. Irgendwo musste sie das knallgelbe Gefährt doch erspähen! Doch die Lage schien mit jedem Schritt aussichtsloser zu werden. Bald konnten sie im dichten Schneetreiben nur noch zwei Meter weit sehen. Es bereitete Flo schon Mühe, den Pferdehintern direkt vor ihr im Blick zu behalten! Ihr feuchter Atem, der von innen an den Stoff ihrer Sturmhaube schlug, gefror zu einer feinen Eisschicht. Ihre Füße spürte sie fast gar nicht mehr. Immer tiefer drang die stechende Kälte durch die Jacke, den Pulli und das T-Shirt, direkt in ihre Knochen hinein. Flo bemühte sich, ganz ruhig ein- und auszuatmen. Denn wenn sie erst einmal richtig zu bibbern begann, dann kam sie gegen die Eiseskälte gar nicht mehr an. Das war klar! Allmählich verlor sie auch ihr Zeitgefühl. Wie lange stapften sie schon durch den Schnee? Wie viele Meter hatten sie zurückgelegt? Da zügelte Aaron plötzlich sein Pferd und drehte sich im Sattel um.

»Wir müssen jetzt regelmäßig die Plätze tauschen, um die Kräfte der Pferde zu schonen!«, brüllte er gegen den Wind und trieb seinen Hengst ein Stück nach links, sodass Flo an ihm und dem Beipferd vorbeiziehen konnte.

Die Wucht, mit der ihr die Schneeflocken nun ins Gesicht schlugen, war kaum noch zu ertragen. Flo beugte sich weit vor und legte sich auf den Pferdehals. Tapfer bahnte sich Eisenherz seinen Weg bergab, Richtung Dorf. Flo schloss die Augen. Sie musste ihrem Hengst sowieso blind vertrauen, denn die Straße konnte sie in dem meterhohen Schnee schon lange nicht mehr erkennen. Hätten nicht rechts und links der Bergstraße ein paar Bäume gestanden, wäre sie sicher schon längst vom Weg abgekommen.