Bei den meisten Dorfbewohnern hieß er einfach nur »der Wald«. Er nahm seinen Anfang hinter dem Dorf und endete weit weg am Fuß der Düsterberge. Wäre jemand mutig genug, ihn durchqueren zu wollen, hätte er viele Tage und Nächte wandern müssen, so groß war er. Aber die Leute fürchteten sich ohnehin vor der beklemmenden Dämmerung

Das Mädchen war schon immer eher ein Sonderling gewesen, fanden die Leute. Schon allein deshalb, weil sie als Einzige im Dorf rote Haare hatte. Oft benahm sie sich auch sonderbar. Statt mit anderen Kindern zu spielen, träumte sie vor sich hin. Sie liebte Tiere über alles, und die Tiere schienen auch Eri zu lieben. Sie löcherte die Erwachsenen mit den

Als der Vater dann wieder einmal in der Fremde unterwegs war, blieb Eri mit ihrer Mama und den beiden Brüdern zurück. Der ältere Bruder hieß Janis und der jüngere Micha, er war erst im letzten Herbst zur Welt gekommen. Ob Eris Mutter Hannas

Eri wusste nicht, was eine Wissende war. Aber sie wusste, dass Mafalda eine gute Hexe war, die immer half, wenn man sie brauchte. Und die Menschen bedankten sich bei der Flüsterin, so gut sie konnten. Heute war der Korb, den Eri in den Wald trug, wieder bis zum Rand mit Leckereien gefüllt. Von der Frau des Dorfschmieds gab es ein Stück gesalzene Butter für das Wegmachen der Warzen ihres ältesten Sohnes, von Tessa, der Frau des Töpfers, einen Klumpen Käse mit Weinrautengeschmack, dafür, dass das Kalb wieder gesund wurde. Der Hirte Vitali legte einen Krug Schafsmilch bei, weil die Pfote seines Hundes mit Mafaldas Salbe im Nu wieder verheilte, und Midro, der reichste Bauer im Dorf, bedankte sich mit einem Stück über Wacholder geräuchertem Speck für die Behandlung seiner schlimmen Bauchkrämpfe. Aber das Beste, fand Eri, kam von ihrer Mama: ein riesiger Hefekuchen mit Mohn

Und das kam so: Vor drei Tagen wurde der Kleine, der schon den ganzen Tag lang nörgelig gewesen war und viel geweint hatte, am Abend auf einmal ganz rot und dann immer röter. Als Eri seine Stirn berührte, bekam sie einen riesigen Schreck, so heiß war sie. Die Mutter versuchte alles Mögliche, aber das Fieber ging einfach nicht weg. Sie rief ihre Nachbarinnen, die alte Magd Hanna und Duscha, die Frau des Schäfers, zu Hilfe. Hanna empfahl, das Kind über den Rauch von verbranntem Wermutkraut und Kamille zu halten. Duscha riet, Micha mit Kletteblättern zu belegen und danach in frisch gemolkener Kuhmilch zu baden. Nichts davon half. Micha ging es immer schlechter, und er weinte immer lauter. Dann sagte Hanna: »Hier kann nur noch Mafalda helfen.« Aber es war inzwischen Nacht geworden und so dunkel, dass die Mutter Eri nicht mehr in den Wald hinausschicken mochte. Janis wäre bestimmt gegangen, aber der war gerade mit einigen Hirten aus dem Dorf und ihren Schafherden auf den Weiden unterhalb der Düsterberge unterwegs.

Als die Verzweiflung groß war und keiner mehr weiterwusste, klopfte es an der Tür, und in der Stube stand plötzlich Mafalda in ihrem graubraunen

»Geht zur Seite!«, befahl sie. »Eure Hausmittelchen helfen hier nicht weiter.«

Dann trat sie an die Wiege, beugte sich über den Kleinen und flüsterte leise, während sie seine fiebrige Stirn berührte. Aus dem Beutel, der an ihrem Gürtel hing, holte sie ein kleines grünes Fläschchen und träufelte etwas von dem dicken Sirup in Michas Mund. Fast im selben Augenblick hörte er auf zu weinen, und sein verkrampftes Gesicht glättete sich. Kurz darauf schlief er ein. Die Nachbarinnen nickten anerkennend.

»Du bist wirklich mächtig, Mafalda«, sagte Hanna bewundernd. »Ich bin sehr froh, dass du in unserem Wald wohnst.«

Mit einem Kopfnicken bedankte sich Mafalda für das Lob der alten Magd. Nachdem die Nachbarinnen in ihre Hütten zurückgekehrt waren, zog die Flüsterin Eris Mutter zur Seite. Die beiden Frauen

Der kleine Micha war so schnell wieder gesund geworden, dass am nächsten Tag niemand mehr an sein Fieber dachte. Nur die Mutter sah traurig aus, vor allem, wenn ihr Blick auf Eri fiel. Zwei Tage später drückte sie dem Töchterchen den prall gefüllten Korb mit den Gaben für Mafalda in die Hand und schickte sie los. Eri betrat den Pfad, der in den Wald führte, und drehte sich am Waldrand noch einmal um. Die Mutter stand noch immer vor der Hütte und sah hinter Eri her, mit einer Hand schützte sie ihre Augen vor der Sonne. Weinte die Mutter etwa? Erst viel später würde Eri verstehen, warum.

Das Mädchen wanderte den zugewucherten Weg entlang, der sich zwischen uralten, dumpf

Die Hütte der Hexe war uralt. Dichter Efeu kletterte über die rauen Holzbalken, und das Dach war mit Weidenzweigen und Grasbüscheln bedeckt, die durch Wind und Regen grau geworden waren. Die quietschende Tür hatte kein richtiges Schloss, sondern es gab innen und außen lediglich einen Holzscheit, den man durch eine Halterung schieben konnte, um sie zu verriegeln. Ganz früher wohnte hier Aglaia, eine weise Frau, die aus dem Dorf stammte. Nach ihrem Tod stand die Waldhütte lange leer, bis vor einigen Jahren – Eri war da schon auf der Welt – die Flüsterin Mafalda wie aus dem Nichts auftauchte und dort einzog.

Auf einem Baumstumpf vor der Hütte saß ein Gnom. Er hieß Frappel und war Mafaldas Türhüter und Helfer. Mit seinem braunen schrumpeligen Gesicht und den klugen schwarzen Knopfaugen sah er ein bisschen aus wie ein groß gewachsener Maulwurf. Eri musste lächeln, als sie vor dem Gnom

»Ich werde mir wohl eine neue Holzklapper schnitzen müssen«, murmelte der Gnom. Eris Besuch schien ihn gar nicht zu verwundern. »Gut, dass du da bist. Mafalda wartet schon auf dich«, sagte er und zeigte auf die angelehnte Tür.

Drinnen roch es wie immer nach Minze und Thymian. An den Wänden und von der Decke hingen dicke Bündel getrockneter Kräuter, die Mafalda im Frühjahr mit Eris Hilfe gepflückt hatte. Die weise Frau stellte daraus Tränke und Salben gegen die verschiedenen Leiden und Wehwehchen der Dorfbewohner her. Die fertige Medizin wurde in Fläschchen und Gläser abgefüllt und auf den Regalen unter den Fenstern aufgereiht. Heute aber wuselte die Hausherrin nicht wie üblich um die Töpfe und Kessel auf ihrem riesigen Lehmherd herum. Sie stand über den großen Tisch gebeugt, der die Mitte der

Es war keine Perle, das wusste Eri, denn eine solche hatte sie schon mal gesehen. Letztes Jahr im Sommer zog durch das Dorf ein Ritter mit seinen zwei Töchtern. Wunderschöne, fein gekleidete junge Damen. Beide trugen Halsketten aus Kugeln, schneeweiß und leuchtend, als hätte jemand in ihrem Inneren einen Strahl blasser Wintersonne eingefangen. Damals erklärte die Mutter dem verwunderten Mädchen, das seien Perlen, kostbare Juwelen aus dem Meer.

Das, was Mafalda in ihren Händen hielt, war anders. Vor allem war es groß, riesig sogar, und passte kaum zwischen die Handflächen der Hexe. Die Kugel leuchtete, aber nicht mit dem warmen Glanz der Sonne, sondern kalt wie ein Blitz in stürmischer Nacht. Das Mädchen starrte das schwarze Ding fasziniert an, während Mafalda es vorsichtig in einen tiefen Korb legte, der mit Lumpen, Wollknäueln und weichen Fellresten ausgekleidet war. Das sonst so fröhliche Gesicht der Hexe war unruhig, und ihre sonst glatte Stirn lag in Sorgenfalten. Mafalda warf Eri einen ernsten Blick zu.

»Schön, dass du da bist«, sagte sie zur Begrüßung. »Wir haben nicht viel Zeit. Sie werden bald hier sein.«

Eri verstand kein Wort. Wer wird da sein und

»Weißt du, was das ist?«, fragte sie Eri und deutete auf die schwarze Kugel.

Eri schüttelte den Kopf. Sie starrte die Kugel an, die immer intensiver zu leuchten schien. Eri dachte, dass sich in ihrem Inneren soeben etwas bewegt hätte.

»Aber von Drachen hast du schon mal gehört?«

Jeder hat schon mal von Drachen gehört. Die alte Hanna erzählte den Kindern immer wieder Geschichten aus vergangenen Zeiten, als es noch so viele Drachen gab wie Sterne am Himmel. Es hieß, Drachen seien schon vor den ersten Menschen auf der Erde gewesen. Sie waren damals die Herrscher der Welt. Aber später, als immer mehr Menschen die Erde bewohnten, entbrannte ein Krieg. Die Menschen konnten ihn nur mit der Hilfe von Zauberern gewinnen, und die besiegten Drachen flogen übers Meer davon. Besonders gerne erzählte Hanna vom Ritter Tristan, einem tapferen Drachenjäger. Tristan liebte die schöne Prinzessin Baku, die von einem Drachen namens Dragomir entführt worden war und in einem fernen Land in einem Turmkerker gefangen gehalten wurde.

»Drachen gibt es schon lange nicht mehr«, sagte Eri.

Eri erzitterte unwillkürlich. Von der Festung der Vier Türme hatte Hanna auch mal gesprochen, wenn auch nur widerwillig. Dort versammelte sich der Hohe Rat der mächtigsten Zauberer der Welt. »Sie halten dort ihre geheimen Rituale ab, und je weniger wir kleinen Leute darüber wissen, desto besser ist es«, sagte Hanna damals in einem Tonfall, der das Thema beendete.

»… bis zu dem Tag«, fuhr Mafalda fort, »an dem ein alter Gnom auf der Suche nach wertvollen Bodenschätzen in den Höhlen der Düsterberge das hier gefunden hatte.« Mafalda zeigte auf die schwarz schimmernde Kugel. »Komm her, Eri. Du kannst es ruhig anfassen.«

Die Kugel war schuppig, aber die einzelnen Schuppen sahen spiegelglatt aus. Eri machte sich auf Kälte gefasst, wie bei einem Stein, aber als sie vorsichtig ihre Hand darauf legte, fühlte sie ganz im Gegenteil Wärme und ein leichtes Zittern. Das Schwarz hellte sich für einen Moment auf, als wäre im Inneren eine kleine Lampe angegangen, und wieder bewegte sich etwas. Eri beugte sich tiefer über den Korb, aber die Kugel wurde augenblicklich wieder dunkel wie die Nacht. Dem Mädchen wurde mulmig zumute.

Je länger Eri die Kugel ansah und je länger sie der Erzählung der Flüsterin lauschte, desto mehr verstand sie.

»Mafalda, willst du damit sagen, dass dies ein …«

Die gute Hexe seufzte schwer und sagte:

»Ja, Eri, der Gnom hatte ein Drachenei gefunden. Und du hast es gerade berührt.«

Das Mädchen quiekte erschrocken und sprang vom Korb weg. Auf einmal sah die schwarze Kugel noch viel gefährlicher aus als vorher.

»Der Hohe Rat der Vier Türme kam zusammen. Doch die Zauberer und Hexen konnten sich nicht einigen, was sie mit dieser unerwarteten und gefährlichen Gabe machen sollten. Einige wollten das Ei sofort ins Feuer werfen und es vernichten, andere wollten daraus besonders mächtige Amulette und Mixturen machen. Vor allem das Lebenselixier, denn wie du sicher weißt, können Drachen sehr, sehr alt werden. Aber am merkwürdigsten benahm sich ein

Die Flüsterin unterbrach ihre Erzählung und streichelte sanft über das Ei. Sie schien überhaupt keine Angst davor zu haben.

»Ich war dort, Eri, und ich habe Widukind genau beobachtet. Während er sprach, bemerkte ich ein gieriges Blitzen in seinen Augen. Das gefiel mir ganz und gar nicht, und ich wusste sofort, was er vorhatte. Er wollte das Ei für sich allein!«

»Aber warum nur?«, rief Eri aus. »Was wollte er damit?«

Die gute Hexe gab keine Antwort. Sie richtete sich auf. Mit einem Finger über ihren Lippen lauschte sie beunruhigt auf die in die Hütte dringenden Geräusche. Jetzt hörte Eri es auch: ein fernes, durch den dichten Wald gedämpftes Heulen wie von einem Wolf.

»Sie kommen näher«, murmelte Mafalda, dann griff sie nach einer Dose, die auf dem Fensterbrett stand, und holte daraus eine Prise grauen Pulvers

»Lassen wir sie mal ein bisschen länger durch den Wald irren«, sagte sie halblaut und setzte ihre Erzählung fort. »Widukind ging es nicht um ein Amulett oder das Lebenselixier. Er wusste, wie er das Drachenei noch besser nutzen könnte.«

Die Tür quietschte, und Frappel steckte seinen Kopf hinein. Seine Augen waren vor Schreck kugelrund.

»Mafalda, sie kommen!«, rief er mit ängstlicher Stimme.

»Ich weiß, mein Lieber«, sagte Mafalda beruhigend. »Ihr werdet gleich aufbrechen. Hol den Beutel, den ich für euch gepackt habe.«

Frappel nickte und huschte wieder nach draußen. Eri war jetzt sehr beunruhigt. Die Angst des Gnoms hatte sie angesteckt. Die Flüsterin warf eine zweite Prise Pulver hinter sich und fuhr fort: »Widukind wusste von einem Geheimnis des Drachenvolkes, das nur wenigen bekannt war. Wer einen Drachen schlüpfen sieht und ihm als Erster einen Namen gibt, könnte über ihn herrschen, denn der Drache würde ihm in allen Dingen gehorchen. Und du weißt ja aus den alten Legenden, wie gefährlich diese Wesen für die Menschen waren. Wer einen Drachen auf seiner

Mafalda legte ihre Hand noch einmal vorsichtig auf das Ei. Dann deckte sie es mit den weichen Stofffetzen zu.

»Ich konnte es einfach nicht zulassen, dass dieser böse Zauberer den Drachen für seine Zwecke nutzt. Deswegen ging ich mitten in der Nacht in den großen Saal, wo das Drachenei von zwei Gnomen bewacht wurde, warf einen starken Schlafzauber über die Wachen und … nahm das Ei an mich. Gerade noch rechtzeitig! Als ich mich mit dem Ei aus dem Saal schlich, sah ich Widukind auf dem Weg dorthin. Offensichtlich hatte er die gleiche Idee, kam aber zu spät. Doch ich wusste, der Zauberer würde mich jagen … mich und das Drachenei. Lange bin ich durch die Welt gewandert, auf der Suche nach einem guten Versteck. Schließlich kam ich in euren Wald und zog in diese Hütte. Ich habe wirklich gehofft, Widukind würde mich hier, mitten im Nirgendwo und weit weg von den Vier Türmen, nicht finden. Leider, leider, liebe Eri, hat er es jetzt doch geschafft.«

In dem Augenblick erklang in der Wildnis draußen, gar nicht so weit weg, wieder ein anhaltendes

»Das sind Wacken, Widukinds Eisenwölfe«, erklärte sie. »Nach meiner Flucht aus den Vier Türmen hat er sie in die ganze Welt hinausgeschickt, um mich aufzuspüren. Und vor Kurzem sind sie dann in diesem Waldabschnitt aufgetaucht. Lange konnte ich sie mit meiner Magie aufhalten, aber es sind einfach zu viele, und Widukind ist ein sehr mächtiger Zauberer. Bald werden sie hier sein.«

Sie nahm den Korb mit dem Drachenei vom Tisch und überreichte ihn der verblüfften Eri. Obwohl das Drachenei ziemlich groß war, war der Korb doch erstaunlich leicht.

»Nimm das Ei, bring es aus dem Wald und danach immer weiter. Frappel wird dich führen. Ihr müsst zu meiner Schwester Wannafee. Sie ist auch eine gute Hexe und wird euch weiterhelfen. Wir müssen um jeden Preis verhindern, dass Widukind das Drachenei bekommt. Er weiß, dass er nicht mehr viel Zeit hat, denn der Drache wird bald schlüpfen.«

Eri war sprachlos und völlig durcheinander. Ihr Blick wanderte von Mafalda zu dem Korb in ihrer

»Aber ich … ich kann doch nicht einfach weggehen!«, brachte Eri schließlich mühsam heraus. »Ich muss nach Hause, zu Mama und zu Micha …«

Mafalda sah Eri ernst an.

»Deine Mama weiß Bescheid, dass du heute nicht nach Hause kommst.«

Frappel kam wieder in die Hütte. Auf dem Rücken trug er einen vollgepackten Rucksack, an dem ein Köcher voller Pfeile festgeschnallt war, und über der Schulter einen Bogen.

»Sie kommen immer näher!«, rief er aufgeregt. »Wir müssen jetzt sofort los, sonst ist es zu spät!«

Als Frappel sah, dass Eri immer noch wie angewurzelt in der Hütte stand, nahm er ihre Hand und zog sie mit sich über die Türschwelle. Draußen war es auf einmal so neblig, dass die Bäume am Rand der Lichtung kaum zu sehen waren. Doch Frappel wusste anscheinend, wo es langging, denn er lief unbeirrt ins Walddickicht, Eri immer noch fest an seiner Hand. Der magische Nebel, den Mafalda herbeigezaubert hatte, um die Flüchtenden vor den Augen der Eisenwölfe zu verbergen, waberte in dichten Schwaden durch die Bäume. Als Eri sich noch einmal umdrehte, sah sie schwarze Schatten um die

Ein großer Eisenwolf stand regungslos auf dem Felsen und heulte den Mond an.

Sein kehliges, metallisch klingendes Geheul hallte durch den Wald, und die anderen Wacken jaulten ihre Antwort aus dem Dickicht. Als wären sie sich über etwas einig geworden, wandte der große Eisenwolf sich um und schien jetzt direkt auf den mit Geißblatt zugewucherten Haselnussstrauch zu blicken, in dem Eri und Frappel kauerten. Seine roten Augen leuchteten im Dunkeln wie glühende Kohlen. Das

Erschrocken fasste Frappel Eri am Arm und zog sie tiefer ins Gebüsch. Als ein grüner Zweig dem Mädchen ins Gesicht peitschte, musste sie fest die Zähne zusammenbeißen, um nicht vor Schreck und Schmerz aufzuschreien. Sie drückte den Korb mit dem Ei enger an sich.

Der Eisenwolf schlich langsam heran und wartete lauernd. Im Wald wurde es schon dunkel, früher als sonst. Das war bestimmt wieder Mafalda, vermutete Eri. Der Eisenwolf wurde ungeduldig und umkreiste jetzt ihr Versteck auf der Suche nach seiner Beute. Sie konnten seinen pfeifenden Atem ganz deutlich hören, als er ihnen immer näher kam. Ab und zu schob er seine Schnauze durch die Zweige und schnappte ins Leere. Schließlich blieb er stehen und fing an, die

Eri war verzweifelt. Frappel war tapfer und mutig, keine Frage, aber was konnte sein kleines Schnitzmesser gegen diese Bestie schon ausrichten? Der Eisenwolf riss methodisch einen Trieb nach dem anderen aus dem Waldboden und bahnte sich den Weg zu seiner Beute. Frappel atmete entschlossen aus und schob sich ein Stückchen nach vorn. Zwischen dem Laub konnten sie schon die roten Augen der Bestie erkennen. Nur noch ein paar Reißbewegungen, und der Eisenwolf würde sein Ziel erreicht haben. Mafalda, hilf uns!, dachte Eri, kniff die Augen zu und klammerte sich verzweifelt an den Korb.

Plötzlich erstarrte der Wacke in seiner Bewegung und lauschte. Entferntes Grunzen und Schmatzen drang vom Felsen her zu ihnen vor. Die Bestie zögerte einen Moment lang unsicher, dann machte sie kehrt und rannte lärmend in die Richtung der Geräusche davon. Verblüfft machte Eri die Augen auf.

»Wildschweine!«, flüsterte Frappel erleichtert. »Komm schnell, raus hier, bevor er zurückkommt!«

Frappel fasste Eri bei der Hand, und vorsichtig

»Wacken können zwar sehr gut sehen und hören, aber ihr Geruchssinn ist miserabel«, erklärte Frappel flüsternd, während sie leise tiefer in den Wald eintauchten. »Hätte er uns riechen können, hätte er sich nicht von den Wildschweinen ablenken lassen.«

Das Blätterdach der Eichen und Ahorne ließ nicht einen Mondstrahl durch, aber Frappel führte sie völlig sicher über nur ihm bekannte Pfade durch das immer dunkler werdende Dickicht. Eri lief hinter ihm her, so schnell sie konnte, und hielt den Korb mit ihrem Schützling dabei ganz fest. Zwischendurch strich sie vorsichtig mit einer Hand über das Ei. Die Kugel war angenehm warm. Je weiter sie sich von dem Eisenwolf entfernten, desto mehr Angst fiel von Eri ab. In Sicherheit waren die beiden aber noch lange nicht. Alle paar Minuten blieb der Gnom stehen und lauschte in die Nacht, dann eilte er weiter, von Mal zu Mal schneller. Am Ende rannten sie so schnell, dass Eri kaum noch mithalten konnte.

»Er kommt näher und bringt die anderen Wacken mit. Das ist nicht gut, gar nicht gut«, sagte Frappel

Er sah sich schnell um. Zwar war es so dunkel, dass Eri kaum eine Hand vor Augen sehen konnte, aber dem Gnom schien die Dunkelheit nichts auszumachen. Die alte Hanna hatte einmal gesagt, dass Gnome und Zwerge im Dunkeln fast so gut sehen könnten wie Katzen. Jetzt merkte Eri, dass das stimmte. Zielsicher bog Frappel nach rechts ab. Eine Weile liefen sie durch einen dichten Hain voller junger Bäume, bevor sie schließlich eine kleine Lichtung erreichten, auf der ein großer Felshaufen lag. Er war zum Teil mit Moos überwuchert und riesig groß, größer noch als die prachtvolle Dorfhütte von Midro, dem reichen Bauern. Der Felsblock erinnerte an einen gebeugten alten Mann, der auf einer Bank ein Schläfchen hielt. Ein ganz ähnlicher Stein befand sich auch in der Nähe von Mafaldas Hütte.

Frappel trat zu dem Felshaufen vor und fing an, an der Stelle, die wie das Knie der schlafenden Steingestalt aussah, etwas Moos abzukratzen.

»Was machst du da?!«, rief Eri und sah ängstlich über ihre Schulter. »Lass uns weiterlaufen, die Eisenwölfe haben uns bald eingeholt!«

»Wir sind zu langsam«, antwortete der Gnom und ritzte irgendetwas in den von Moos befreiten

Eri starrte den Gnom entsetzt an. Hatte er etwa den Verstand verloren? Sie hatte schon mal davon gehört, dass man wohl in Panik Dinge tat, die überhaupt keinen Sinn ergaben. Wenn Frappel jetzt wirklich durchdrehte, dann … Sie wollte gar nicht weiter darüber nachdenken.

Frappel ritzte und kratzte unbeirrt weiter und murmelte dabei vor sich hin. Nach und nach verbanden sich seine anfangs krakeligen Striche zu seltsamen Zeichen, die so ähnlich aussahen wie die Symbole, die Eri in Mafaldas Hütte gesehen hatte.

»Wir Gnome nennen diese Wesen Kamane oder Steinträumer«, sagte Frappel halb zu sich selbst, halb zu Eri und ritzte weiter. Der blanke Fels war jetzt mit komplizierten und für Eri unverständlichen Zeichen bedeckt. »Auch einige Legenden der Menschen erzählen von ihnen. Sie sind so alt wie die Welt. Irgendwann mussten sie jedoch anderen Lebewesen Platz machen: Gnomen, Drachen, Zwergen, Trollen, Menschen … Weil sie aber alles hassten, was nicht aus Stein war, wurden sie von höheren Mächten durch eine große Flut zum Aussterben verurteilt. Die feurige Lava, die durch ihre Adern floss, erkaltete, das Wasser löschte ihre flammenden Herzen, und

Eri konnte kaum glauben, was sie da hörte. Hanna hatte noch nie etwas von Kamanen erzählt. Aber vielleicht kannte die alte Magd diese Legenden auch nicht …

»Das muss reichen«, erklärte Frappel und richtete sich auf. »Wer etwas Magie im Blut hat, kann einen Steinträumer für eine kurze Zeit wieder zum Leben erwecken. Aber man muss sehr vorsichtig sein: Ein Kaman ist von Natur aus wild und grausam und greift jeden an, der nicht in seine Steinwelt hineinpasst.«

Das aus dem Wald dringende Heulen wurde immer lauter. Man konnte jetzt sogar hören, wie die schweren Pfoten der Eisenwölfe dumpf über den weichen Waldboden trampelten. Ein Schauer lief Eri über den Rücken.

»Aber du weißt, wie man diesen Steinträumer aufwecken kann, ja?«, fragte sie etwas ungläubig nach. »Und du bist auch sicher, dass er uns helfen wird?«

Der Gnom spitzte die Ohren und verzog

»Ja, Mafalda hat mir gezeigt, wie das geht!«, rief er und zeigte auf den gegenüberliegenden Rand der Lichtung. »Lauf in diese Richtung, so schnell du kannst, immer geradeaus bis zum Fluss. Ich komme gleich nach.«